13.06.2024

Mayotte und das Elend der Welt

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Mayotte und das Elend der Welt

von Maurice Lemoine

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Mit kleinen Wasserflaschen in der Hand und gezückten Handys verlassen die Passagiere die Fähre, die Petite-Terre und Grande-Terre verbindet, die beiden bewohnten Inseln von Mayotte. In Ma­moudzou, der Hauptstadt des französischen Übersee-Départe­ments, herrscht drückende Hitze: 33 Grad Celsius.

In der Nähe des Anlegers sitzen Grüppchen französischer Expats und schlucken ein Bier nach dem anderen, am Imbiss Camion Rouge oder am benachbarten Camion Blanc. Die Ma­ho­re­r:­in­nen hingegen, gleich welcher Hautfarbe, meiden Alkohol – es ist ein islamisches Land. „Zumindest in der Öffentlichkeit“, lacht ein ehemaliger Lehrer aus Kontinentalfrankreich. „Während der Schulzeit haben wir uns in den Hügeln getroffen, um was zu trinken!“

In Kawéni, ein paar Kilometer weiter nördlich, ertönt bei Einbruch der Nacht der Ruf des Muezzins. Durch ein offenes Fenster hört man den Radiosender France Inter. In einem Imbiss bezahlt eine Europäerin einen riesigen von Mayonnaise triefenden Burger mit dem Smartphone. Männer im Boubou, Frauen in bunter Salouva1 und westlich gekleidete Menschen gehen rasch, aber ohne Hast. Man hört Gesprächsfetzen auf Shimaoré oder Shibushi, den beiden wichtigsten lokalen Sprachen.

Unser Gemeinschaftstaxi steckt in einem infernalischen Stau auf der Nationalstraße 1, der einzigen Straße, die Richtung Norden aus Mamoudzou hinausführt. Die Passagiere seufzen. „Bitte etwas Geduld“, brummelt der Fahrer, „wir werden schon ankommen.“ Kurzes Schweigen. Dann die beiden Wendungen, die man hier andauernd hört: „kein Problem“ und „inschallah“.

Vor den Containern entlang der N1 liegen Müllhaufen, ebenso vor dem Sitz des Regionalrats mitten in Mamoudzou. „Keine Müllabfuhr, keine Pflege öffentlicher Räume und kein Zugang zu Bildung und Gesundheit“, zählt Yasmina Aouny auf, Gymnasiallehrerin und Kandidatin der linken Partei La France insoumise (LFI) bei den letzten Parlamentswahlen. „Da sieht man, was für ein Chaos die Gleichgültigkeit des Staats in den letzten Jahrzehnten angerichtet hat.“

Mayotte ist das 101. und das ärmste Département Frankreichs. Die Wirtschaft schwächelt. Wegen der schwierigen Sicherheitslage kommen kaum Tou­ris­t:in­nen. Landwirtschaft gibt es nur wenig, nur für den Eigenbedarf und unzureichend. Lebensmittel kommen zum größten Teil per Schiff. „Alle haben sich daran gewöhnt, gefrorene Hähnchenflügel aus Südamerika zu kaufen“, sagt Pablo Guevara, ein Ex-Expat.

Der Staat und die regionalen Institutionen sind der größte Arbeitgeber: Sie ernähren nicht nur ihre Angestellten, sondern auch deren erweiterte Familien. Der Europäer Marc Seigner ­allerdings meint, er fühle sich nicht wie in einem französischen Département.

Mindesteinkommen und Sozialleistungen sind hier niedriger. Während der Mindestlohn in Kontinentalfrankreich 1398,69 Euro im Monat beträgt, sind es in Mayotte 1203,36; die Sozialhilfe, die von den Départements ausgezahlt wird (RSA), stagniert hier bei 303,88 Euro gegenüber 635,71 Euro. Die Durchschnittsrente liegt bei 276 Euro im Monat, wobei die eingezahlten Überschüsse in die Rentenkasse Kontinentalfrankreichs fließen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 34 Prozent, 77 Prozent leben unterhalb der Armutsschwelle.2

„Ich weiß nicht, wie wir da rauskommen sollen“, sagt Rivo Rako­tond­ra­velo. Er ist Grundschullehrer und Dé­parte­ments­sekretär der Nationalen Lehrergewerkschaft (SNUipp-FSU). „Sar­kozy hat uns zum Département gemacht, aber viel schlechter ausgestattet. Dann kam Hollande und versprach hundert neue Klassenzimmer pro Jahr. Am Ende waren es nicht mal zehn!“

Die Universität von Mayotte spricht von 14 000 Kindern, die nicht beschult werden; das Rektorat nennt 5000 bis 10 000. „Man kann die Kinder nur schwer zählen, weil es sich um inoffiziell Eingewanderte handelt. Das alles belastet das Schulsystem, das keine Kapazitäten hat, sie aufzunehmen. Versäumnis reiht sich an Versäumnis, und wir schließen immer mehr Kinder aus.“ In der Sekundarschule sind die Hälfte der Leh­re­r:in­nen Aushilfskräfte mit Ein-Jahres-Verträgen, und „die werden angesichts der Lage wohl kaum bleiben“. Und von den vollständig ausgebildeten Lehrkräften wolle niemand herkommen.

Mayotte liegt 8000 Kilometer von Frankreich entfernt zwischen Mosambik und Madagaskar, südlich der Union der Komoren, die aus drei Inseln besteht: Grande Comore, Anjouan und Mohéli. In Madagaskar lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf 2022 bei 480 Euro, auf den Komoren bei 1.360 Euro und in Mayotte trotz allem bei 11.579 Euro. Für die Nachbarn erscheint das 374 Quadratkilometer große französische Territorium als Paradies – und es liegt nur 70 Kilometer von Anjouan entfernt.

Die Kwassa-Kwassa, sechs bis neun Meter lange Fischerboote, brauchen dafür etwa fünf Stunden, wenn es ihnen gelingt, den Schnellbooten von Polizei und Grenztruppen auszuweichen. Sie bringen zahlreiche Flüchtlingen nach Mayotte, sie kommen meist am M’tsanga Safari („Reisestrand“) an, auf dem Inselchen Chissioua Mtsamboro. Mahorische Fischer transportieren die Mi­gran­t:in­nen anschließend gegen entsprechendes Entgelt auf die Hauptinsel, wo sie in den Slums von Mamoudzou, Koungou und Dembeni landen, wo die meisten ihrer Landsleute leben.

1968 zählte Mayotte 23 000 Einwohner, 2000 bereits 147 000, und heute sind es offiziell 321 000, inoffiziell vielleicht schon 400 000, davon die Hälfte aus dem Ausland. Mit 10 200 Geburten im Jahr 2023 liegt die Entbindungsstation im Krankenhaus von Mayotte weit oben in den französischen Statistiken. 2019 hatten 17,8 Prozent der Neugeborenen in Mayotte zwei Elternteile französischer Nationalität, bei 45 Prozent stammten beide aus dem Ausland.3 Mayotte platzt aus allen Nähten. Und obendrein wächst die Unsicherheit.

Da habt ihr’s, ist die Reaktion der antikolonialen Linken in Kontinental­frankreich. Der Migrationsexperte Fran­çois Héran schrieb kürzlich in Le Monde: „In den 1970er Jahren löste Frankreich die Mahorer aus den Komoren. Indem sie die historischen Rivalitäten zwischen Mamoudzou und Anjouan betonten, gelang es den Fami­lien ziviler und religiöser Würdenträger, die Bevölkerung bei der Volksabstimmung 1976 für eine weitere Anbindung an Frankreich zu gewinnen. Dieser Prozess wurde durch die überwältigende Zustimmung zum Beitritt als Département 2009 gekrönt.“4

Das Argument lautet, kurz zusammengefasst: Es handle sich um eine Zwangsassimilierung, die mit einer Verleugnung aller angestammten Verbindungen der Mahore­r:­in­nen zum Archipel der Komoren einhergehe, zu der Mayotte geografisch gehört.

Am 25. April 1841 übergab Sultan Andriantsoly Mayotte an Frankreich, im Gegenzug erhielt er eine Leibrente und militärischen Schutz. Die übrigen Komoren kamen 1886 unter französische Herrschaft. 1946 wurde der gesamte Archipel zum Überseeterritorium erklärt, das 1958 eine gewisse Autonomie in Verwaltungs- und Finanzfragen erhielt. Ab den 1960er Jahren war auch in Mayotte die Bewegung „Serrez-la-main“ („Die Hände reichen“) aktiv, die für die Unabhängigkeit der Komoren eintrat. Ihnen gegenüber standen die „Sorodats“ („Soldaten“), die sich der Französischen Republik zugehörig fühlten und damals schon an einen Beitritt als Département dachten.

Bei einer ersten Befragung im Jahre 1974 sprach sich auf den gesamten Komoren eine Mehrheit von 94,56 Prozent für die Unabhängigkeit aus, nur in Mayotte waren 65,47 Prozent dagegen. Bei der nächsten Volksabstimmung 1976 bestätigten die Mahore­r:­in­nen ihre Position nochmals mit 99,4 Prozent. Paris nahm dies zu Protokoll, trotz der Proteste aus Moroni, der Hauptstadt der neuen Komoren, und einer Verurteilung durch die Vereinten Nationen, die sich auf das Prinzip der Unantastbarkeit der durch die Dekolonialisierung entstandenen Grenzen beriefen.

Natürlich spielten auch die Intrigen der lokalen Oberschicht eine Rolle, die ihre Interessen gegenüber Moroni wahren wollte – und die Machenschaften der Apologeten des alten Kolonialreichs: drei Putschversuche (1975, 1978 und 1995), die ein „Söldner der Republik“, Bob Denard, auf den Komoren unternahm, und die kaum verhohlene Pariser Unterstützung für die Unabhängigkeitsbewegung auf der Insel Anjouan 1998.5 Doch bis heute bestehen die Ma­ho­re­r:­in­nen auf ihrer Entscheidung über ihre Identität.

Said Mouhoudhoiri, Sprecher des Kollektivs Labattoir auf Petite-Terre, verortet sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums: „Unsere einzige Gemeinsamkeit mit den Komorern ist unsere Hautfarbe.“ Über eine solche Aussage kann die Linke Yasmina Aouny nur lachen: „Das ist wie bei den Leuten, die einen Chinesen nicht von einem Japaner unterscheiden können.“

Man müsse sich an der Sprache orien­tie­ren, sagen unsere Ge­sprächs­part­ne­r:innen. Auf Anjouan werde ähnlich gesprochen, auf Grande Comore und Mohéli jedoch ganz anders. „Die Hälfte der Einwohner von Mayotte sprechen eine madegassische Sprache. Der Einfluss Madagaskars ist hier stärker als auf den anderen Inseln.“

Dazu kommt, dass Mayotte im Laufe der endlosen Kämpfe zwischen den kriegerischen Sultanen um den lukrativen Sklavenhandel aus Afrika unter arabische Herrschaft geriet. Und schließlich von einem freigelassenen Sklaven, Mawana Mahdi, befreit und regiert wurde, als einzige Insel des Archipels.

„Die Machthaber auf den Komoren sind bis heute Abkömmlinge dieser Sultane, sie regieren nahezu diktatorisch, dort herrscht ein Kastensystem und ein strenger Islam, während unser Islam der coolste der Welt ist“, erklärt Aouny, die sich selbst als muslimische Feministin bezeichnet. „Wegen unserer Liebe zur Freiheit können wir uns keine gemeinsame Zukunft vorstellen.“

Auf den Hügeln über Mtsamboro, der nördlichsten Stadt auf Grande-­Terre, wo sie lebt und unterrichtet, erzählt sie ohne jede Spur von Fremdenfeindlichkeit sehr eloquent von den Besonderheiten Mayottes: „Die Schlüssel zum Verständnis unserer Entscheidung sind die Frauen. Auf den Komoren haben die Frauen nie rebelliert. Hier haben sie sich von Anbeginn in die Politik eingemischt. Wir sind eindeutig eine matriarchale Gesellschaft, während nebenan das Patriarchat ­weiterhin herrliche Zeiten vor sich hat.“ Sie erinnert an die „Chatouilleuses“ („Kitzlerinnen“) der 1960er Jahre,6 die sich gegen die damalige Territorialverwaltung in Moroni stellten. Sie wollten „französisch bleiben, um frei zu sein“.

Lange Zeit reisten die Ko­more­r:­in­nen zwischen den Inseln hin und her, wie sie es seit jeher gewohnt waren. Sie fuhren nach Mayotte, ließen sich vielleicht im Krankenhaus behandeln oder arbeiteten dort, blieben eine Weile und fuhren wieder ab. Ab 1986 erhielten sie automatisch ein Dreimonatsvisum und mussten nach Ablauf dieser Frist Mayotte verlassen, um erneut einreisen zu können. Viele blieben über den erlaubten Zeitraum hinaus. Als Pre­mier­minister Édouard Balladur 1993 im Wahlkampf nach Mayotte kam, erklärten ihm die Abgeordneten der Insel, man wolle schärfere Regeln gegen die Einwanderung. Balladur, der jede Stimme gegen seinen Konkurrenten Chirac brauchte, sagte zu.

Mit dem sogenannten Balladur-Visum, einer begrenzten Aufenthaltsgenehmigung, die nicht leicht zu bekommen ist, darf man nach Mayotte reisen, aber nicht in das übrige französische Staatsgebiet. Auf diese Weise wurde das Département zur Sackgasse. Viele Ko­more­r:­in­nen reisten illegal ein und blieben am Ende lieber, als erneut eine risikoreiche, illegale Überfahrt in Kauf zu nehmen. Selbst wenn es ihnen gelang, ihren Aufenthalt zu legalisieren, blieb das Problem: Sie konnten von Mayotte aus nicht nach Kontinental­frankreich einreisen.

Der Zustrom der Menschen aus den Nachbarstaaten überstieg bald jede Möglichkeit einer Integration. Die Mi­gran­t:in­nen besetzten Land, ließen sich auf (teils verpachtetem) Privatgrund nieder, wie es eben ging, auf Hügeln, die von engen Gassen, Durchgängen und Treppen durchzogen sind – ein Labyrinth, wenn man sich nicht auskennt. Diese Slums dehnten sich immer weiter aus, Ansammlungen von Ban­gas (Hütten) aus Holz oder Blech, wo Kinder im Dreck in Wolken von Fliegen und Stechmücken spielen, ohne jede öffentliche Daseinsvorsorge.

Seit 2004 und vor allem 2016 gibt es Konflikte zwischen Einheimischen und Zugezogenen, die gelegentlich in gewaltsame Aktionen mahorischer Nachbarn gegen die Hütten der Illegalen mündeten. Die Zahl von unbegleiteten Minderjährigen, deren Eltern abgeschoben wurden, wuchs auf besorgniserregende Weise. „Der Staat und die mahorische Elite glauben, dass sie sich nicht um fremde Kinder kümmern müssen“, schnaubt Pablo Guevara.

Doch das erwies sich als Zeitbombe. Die Kriminalität mahorischer wie migrantischer Jugendbanden stieg immer weiter an. Ein Gespräch, mitgehört im Restaurant: „Hat sich dein Bruder von dem Überfall erholt?“ – „Nicht wirklich. Der Moment, als er die Machete am Hals gespürt hat, hat ihn völlig traumatisiert.“

Zwischen 2019 und 2023 ist die Zahl bewaffneter Raubüberfälle um 121 Prozent gestiegen. Schlägereien, Straßensperren, Steinwürfe auf Häuser oder Autos, Angriffe auf Schulbusse (34 allein im November 2023), Überfälle am Strand, in angeblich ruhigen Vierteln, an Straßenecken. „Dagegen können Sie sich nicht wappnen“, warnt uns ein Einwohner von Petite-Terre, „sie kommen erst im letzten Moment heraus, und wenn Sie sie sehen, ist es schon zu spät!“

Der Lehrer und Gewerkschafter Rivo erzählt: „In der Schule passiert das auch, vor allem in der Sekundarstufe, und auch in der Umgebung der Schule. Man geht zur Arbeit und wird angegriffen. Und dann gibt es Leute, die behaupten: ‚So ist es auch in Essonne und in Seine-Saint-Denis.‘ Aber das stimmt nicht, die Leute dort haben einen sicheren Arbeitsweg. Wir aber wissen nicht, ob wir auf dem Weg massakriert werden.“

Um 19 Uhr lassen Geschäfte und Supermärkte die Rollläden herunter. Keine abendlichen Veranstaltungen, keine Besuche bei Freunden, keine Freiluftkonzerte, Kinoabende, Restaurantbesuche – man hat Angst auszugehen. Trotz des klaren Wassers und der herrlichen Korallenriffe sind die Strände leer. „Ich gehe nicht mehr joggen“, erzählt uns ein Mann, „auch wenn das Risiko minimal ist, man braucht ja nur einmal zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.“

Die Menschen aus Kontinentalfrankreich, die seit Langem in Ma­yotte leben, erkennen „ihre Insel“ nicht mehr wieder. Ihre ständige Frage: Wann gehen wir? „Es gibt keine Hoffnung, es wird immer nur schlimmer, und wenn hier alles in die Luft fliegt, möchte ich nicht dabei sein.“ Auch Ma­ho­re­r:innen, die über genügend Geld verfügen, gehen ins Exil; vor allem Unternehmer ziehen mit ihren Familien nach La Réunion und pendeln mit dem Flugzeug auf die Inseln.

Menschen mit geringerem Einkommen haben allerdings keine Wahl. Sie schließen sich den Bürgerinitiativen an, die staatliche Maßnahmen fordern: „Alle haben ein Recht auf Sicherheit.“ Dabei werden auch grausam-schrille Vorschläge gemacht: „Vielleicht muss man irgendwann auch welche umbringen“, sagte Salime Mdéré, der erste Vize­präsident des Départementrats, am 24. April 2023 im öffentlichen Sender Mayotte La 1ère. Im März 2024 wurde er wegen Aufrufs zum Begehen einer Straftat zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung und einer Geldstrafe von 10 000 Euro verurteilt. „Tropischer Mikrofaschismus“, schriebt der mahorische Philosoph Dénètem ­Touam Bona bereits 2016 angesichts einer fremdenfeindlichen Radikali­sierung.7

Am 24. April 2023 wurden bei der großen Polizeioperation „Wuambu­shu“ 700 illegale Behausungen zerstört. „Das war eine sinnvolle Operation, und ich sage das nach reiflicher Überlegung“, sagt die ehemalige LFI-Kandidatin Aouny. „Die Republik muss ganze Landstriche zurückerobern, die ins Chaos abgeglitten sind. Man muss die Banden zerschlagen, ihre Hauptquartiere zerstören und die Anführer festnehmen, denn sie gehen immer barbarischer vor.“

Rivo, der sich selbst lächelnd als linksradikal bezeichnet, analysiert die Lage zwar in anderen Worten, stimmt Aouny aber im Grunde zu: „Meine Gewerkschaft in Frankreich hat die Operation verurteilt, aber wir mussten ihnen sagen, dass die Mahorerinnen und Mahorer mit ‚Wuambushu‘ einverstanden waren: Wenn ihr also kritisieren wollt, dann tut es, aber bitte sanft.“

Nach der Operation „Wuambushu“ wurde ein Teil der zur Verstärkung angeforderten Polizeikräfte rasch wieder nach Frankreich zurückgeholt, um dort die Aufstände nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf den 17-jährigen Nahel Merzouk im Pariser Vorort Nanterre niederzuschlagen. In Mayotte nahmen Gewalt und Unsicherheit sofort wieder zu.

Die Debatten wurden hitziger, als im Fußballstadion von Cavani, einem Stadtteil von Mamoudzou, ein Aufnahmelager für Asylsuchende aus der Re­gion der Großen Seen und vom Horn von Afrika eingerichtet und rasch erweitert wurde. Dort lebten etwa 500 Frauen und Männer, die vor Gewalt und Elend geflohen waren, in erbärm­lichen Bangas aus blauen Plastik­planen.

„Die Jugend von Cavani fühlte sich aus ihrem Stadion verdrängt“, sagt Safina Soula, Vorsitzende des Kollektivs „Bürger von Mayotte 2018“. Es sei ständig zu Zusammenstößen gekommen, und mittendrin die Polizei, die Tränengasgranaten warf. „Die Bürger mussten einschreiten und eine Verlegung des Lagers fordern.“

Zu den bestehenden Spannungen gesellt sich ein Gefühl der Panik: Mayotte könnte das neue Lampedusa werden. „Frankreich hat internationale Verträge zum Schutz politischer Flüchtlinge unterzeichnet“, sagt Soula, „und wir sind nicht dagegen, aber wir haben hier einfach nicht die Mittel, all diese Leute aufzunehmen.“

Die Hilfsorganisation ­Solidarité Mayotte verfügt laut einem Verantwortlichen, der anonym bleiben möchte, über 450 Plätze zur Unterbringung von Geflüchteten, plus 50 Notplätze für frisch Angekommene. Alle Plätze seien bereits belegt. „Wir befinden uns in einer Situation, in der die Antwort des Staats – gemessen am Umfang des Ansturms – vollkommen unzureichend ist.“

Selbst wenn ihr Asylgesuch positiv beschieden wird, dauert es oft über ein Jahr, bis die Geflüchteten das Verfahren durchlaufen haben und nach Kontinentalfrankreich weiterreisen dürfen. Die Abgewiesenen hingegen verschwinden völlig aus dem Blick. Die Solidarité Mayotte, das ökumenische Flüchtlingshilfswerk Cimade und die Wohlfahrtsorganisation Mlezi Maore, die vom Staat mit der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten beauftragt wurden, gerieten in eine gefährliche Lage, weil sie für den verstärkten Zuzug verantwortlich gemacht wurden: Es kam zu Drohungen, Einschüchterungen und Blockaden ihrer Büros.

In diesem Kontext entstand die Protestbewegung „Forces Vives“ (Lebendige Kräfte, FV), die das Département vom 22. Januar bis zum 29. Februar 2024 durch Straßensperren lahmlegte. „Die Leute von Cavani haben uns zu Hilfe gerufen“, erzählt Mouhoudhoiri. „Wir haben gesagt: Aus Paris wird niemand hierherkommen und für uns kämpfen. Gehen wir auf die Straße.“

Abdou Badirou, Leiter des Büros für Jugend- und Vereinsarbeit in Tsingoni an der Westküste von Grande-­Terre, erklärt uns: „Ich gehörte zu denen, die einen Kreisverkehr am Dorfeingang blockieren sollten.“ Er wurde zum Sprecher der Forces Vives, ebenso wie die Linke Yasmina Aouny: „Ich lebe hier, meine Kinder leben hier, ich erlebe die Gewalt, deshalb muss ich mich als Bürgerin der Bewegung anschließen.“ Auch Rivo machte mit, wie auch andere Gewerkschafter, allerdings als Privatmann.

Rund um Cavani stieg die Spannung. Der Bürgermeister von Mamoudzou, Ambdilwahédou Soumaïla, hatte immer wieder Paris um Hilfe gebeten. Doch da die Regierung dort nicht reagierte, erzählt Badirou, „mussten die Forces Vives den Baobab schütteln, damit der Baobab versteht: Auch wenn der Bürgermeister von Mamoudzou 800 000 (sic!) Kilometer von Paris entfernt lebt, ist er doch ein Bürgermeister der Französischen Republik, und er verdient genauso viel Respekt wie ­Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris.“

Innenminister Gérald Darmanin und Überseeministerin Marie Guévenoux sollten sich damit befassen. „Unsere Abgeordneten wussten, dass sie kein Gehör finden würden“, berichtet Nabilou Ali Bacar, Leiter des Rats für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltangelegenheiten von Mamoudzou und ebenfalls Mitglied der FV, „deswegen haben sie die Forces Vives vorgeschickt und ihnen die Verhandlungen über­lassen.“

Am Ende verkündete Darmanin neue Maßnahmen: Abschaffung der Bal­la­dur-­Visa, Verschärfung der Regeln für Familiennachzug, Verstärkung der Polizeipräsenz und Errichtung eines „eisernen Vorhangs“ rund um die Insel mithilfe neuer Überwachungstechnologien. Die spektakulärste Ankündigung betraf jedoch eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts auf Mayotte, für die es sogar eine Verfassungsänderung braucht. Kinder ausländischer Eltern, die im Alter von 18 Jahren die französische Staatsbürgerschaft beantragen wollen, müssen jetzt nachweisen, dass beide Elternteile zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits ein Jahr auf französischem Staatsgebiet gelebt haben; bislang gilt dies nur für ein Elternteil, das mindestens drei Monate auf französischem Territorium gelebt haben musste.

„Diese Forderung lag in der Luft“, sagt Bacar. „Sie ist legitim“, ergänzen Badirou und Soula. „Das wird den Sog stoppen“, erklärte in allen Talkshows die Mayotter Parlamentsabgeordnete Estelle Youssouffa von der Plattform Freiheit, Unabhängigkeit, Übersee und Territorien (LIOT); Gerüchten zufolge sähe sie sich gern in naher Zukunft als Überseeministerin in Paris.

Aouny, die bei den Verhandlungen in vorderster Reihe mitgewirkt hat, ist eine entschiedene Gegnerin dieser Maßnahme: „Im Forderungskatalog der Forces Vives stand die Abschaffung des Balladur-Visums ganz oben. Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts wurde gar nicht erwähnt. Darmanin hat sie eingeführt, einfach so! Man hat den Eindruck, er befindet sich schon im Wahlkampf und nutzt dafür Ma­yotte, wie damals Balladur.“

„Die Jungs, die Straßen blockiert haben“, meint auch Rivo, „denen ging es nicht um die Staatsbürgerschaft, die wollten nur Sicherheit!“ Wenn er spricht, spürt man eine gewisse Ratlosigkeit. „Wir Gewerkschaftler stehen bei diesen rechten und rechtsextremen Diskursen auf verlorenem Posten. Wir sind geschlagen. Wir können von sozialen Themen und von der Entwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge reden, aber wir müssen anerkennen: Wenn wir die Sicherheitsprobleme nicht in den Griff bekommen, dann können wir das alles vergessen!“

Auch Yasmina Aouny stört die „Bequemlichkeit der Progressiven“ in Kontinentalfrankreich: „Wir Linken wissen ganz genau, dass die Verwaltung des Humanitären sehr wichtig ist. Aber man kann sie nicht umsetzen, wenn es keinen Rahmen dafür gibt. Und diesen Rahmen haben wir nicht mehr. Wenn wir in unserem Alltag nicht mehr sicher sind, fehlt die nötige Ruhe, um über gute Regierungsführung nachzudenken. Wir befinden uns im Überlebensmodus.“

Inzwischen campieren die einstigen Bewohner des mittlerweile geräumten Stadions notgedrungen auf den Straßen. Seit Ende April werden sie nun registriert.

1 Ein großes buntes Tuch, das über der Brust geknotet wird und bis zu den Knöcheln reicht, dazu wird ein passendes Tuch (Kishali) auf dem Kopf oder um die Schultern getragen.

2 „Chiffres-clés“, Insee, Paris, 29. Februar 2024.

3 37,2 Prozent der Neugeborenen haben einen Elternteil mit französischer Staatsangehörigkeit (zu 30 Prozent der Vater) und gelten daher als gebürtige Französinnen und Franzosen. „Diversité et précarité: le double défi des univers ultramarins – Mayotte“, Haut Conseil de la fa­mille, de l’enfance et de l’âge (HCFEA), Paris, 1. Juni 2022.

4 François Héran, „À Mayotte, de quel droit du sol parle-t-on?“, Le Monde, 13. Februar 2024.

5 Vgl. Christophe Wargny, „Unabhängigkeit von der Unabhängigkeit“, LMd, April 2002.

6 Yasmina Aouny erhielt den Literaturpreis des Indischen Ozeans für ihren Roman „La Chatouilleuse“, Straßburg (Éditions du Signe) 2022. Die „Chatouilleuses“ setzen Kitzeln als Foltermethode gegen politische Führer von den Komoren ein.

7 Dénètem Touam Bona, „Mayotte: peau comorienne, masques français …“, Jeune Afrique, 13. Juni 2016.

8 Am 27. Juni 2023 wurde der 17-jährige Nahel Merzouk   in Nanterre von einem Polizisten getötet. In vielen Städten kam es daraufhin zu Aufständen.

9 „Début du recensement des migrants du stade de ­Cavani à Mayotte“, France Info, 25. April 2024; sowie „Appel des habitants de Cavani à Emmanuel Macron pour évacuer le camp de migrants“, France Info, 17. Mai 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Maurice Lemoine ist Journalist und Autor.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Maurice Lemoine