13.06.2024

Russisches Öl für Indien

zurück

Russisches Öl für Indien

von Samrat Choudhury

Handschlag unter Außenministern: Gromyko und Singh 1971 in Moskau VIKTOR SHANDRIN/tass/picture alliance
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Fernsehbilder zeigen, wie zwei Männer einen holzgetäfelten Raum betreten; der eine in dunklem Anzug und Krawatte, der andere ganz in Weiß, mit Turban und Bart. An der Wand stehen in goldfarbenen Lettern und auf Hindi die Worte „Satyameva Jayate“, was bedeutet: „Allein die Wahrheit siegt“.

Die Szene spielt am 9. August 1971. Der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko und sein indischer Amtskollege Swaran Singh unterzeichnen feierlich einige Dokumente. Dann reichen sie sich die Hände, tauschen die Dokumentenmappen aus und applaudieren dem historischen Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und Indien.

Einen Monat zuvor, im Juli 1971, war der Nationale Sicherheitsberater der USA, Henry Kissinger, über Pakistan zu einem Geheimbesuch nach China gereist. Die USA unterhielten damals keine diplomatischen Beziehungen zu Peking, weil sie die Regierung Taiwans als rechtmäßige Führung Chinas betrachteten. Mit Kissingers Besuch begann ein Prozess, an dessen Ende Washingtons seine Haltung in der Chinafrage änderte.

Die Unterzeichnung des indisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag fiel in diesen historischen Kontext. Die Annäherung zwischen Washington und Peking ließ in Delhi und Moskau die Alarmglocken läuten. Denn damals waren die Beziehungen Indiens wie auch Russlands zu China seit Jahren durch Konflikte belastet. 1962 hatten chinesische Soldaten die indischen Stellungen entlang der zwischen beiden Ländern umstrittenen Himalaja-Grenze in kürzester Zeit überrannt. Und 1969, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, waren die Streitkräfte der Sowjetunion und Chinas ebenfalls wegen eines Grenzstreits aneinandergeraten. Die beiden größten kommunistischen Mächte stritten sich damals um eine unbewohnte Insel im russisch-chinesischen Grenzfluss Ussuri, die auf Chinesisch „Zhenbao Dau“ und auf Russisch „Damanski“ heißt.

Der Faktor China hatte damals auf die Beziehungen zwischen Indien und Russland entscheidenden Einfluss. Und auch heute ist er wieder von zen­tra­ler Bedeutung.

Das Russland Wladimir Putins und das von Narendra Modi geführte In­dien unterhalten beste Beziehungen. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind die Öleinfuhren aus Russland nach Indien rasant angestiegen. Längst hat Russland den Irak und Saudi-Arabien als wichtigste Öllieferanten abgelöst. Heute bezieht Indien 40 Prozent seiner Importe aus Russland.

Die guten Beziehungen spiegeln sich auch im persönlichen Verhältnis der beiden nationalistischen Machthaber. Nachdem Modi 2019 die höchste zivile Auszeichnung Russlands, den Orden des Heiligen Apostels Andreas, erhalten hatte, erklärte er: „Präsident Putin ist und bleibt eine Quelle großer Stärke für die indisch-russische Freundschaft. Unter seiner visionären Führung hat die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit zwischen unseren Nationen neue Höhen erreicht.“

Die Kooperation zwischen den beiden Ländern reicht in einem wichtigen Bereich bis in die Sowjetzeiten zurück. Indien ist seit Langem der größte Abnehmer von russischen Waffen, während es der zweitgrößte Bezieher von russischem Öl – hinter China – erst seit Kurzem ist.

Allerdings sind die russischen Waffenlieferungen in den letzten fünf Jahren um insgesamt gut 50 Prozent eingebrochen, sodass der Anteil Russlands an den indischen Einfuhren von Rüstungsgütern auf 34 Prozent zurückgegangen ist (davor lag er jahrzehntelang über 50 Prozent).1 Doch nach wie vor sind – nach einer Analyse des US-amerikanischen Thinktanks Stimson Centre – 85 Prozent der wichtigsten indischen Waffensysteme sowjetischer oder russischer Herkunft.2 Da das indische Militär jahrzehntelang auf diese Systeme gesetzt hat, ist es bis heute bei Munition und Ersatzteilen wie bei der Wartung von Russland abhängig.

China als größte strategische Bedrohung

Die größte strategische Bedrohung für das indische Militär ist aktuell und in absehbarer Zukunft China. Die Gebietsstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern, die 1962 zum Krieg führten, sind nach wie vor ungelöst.

Im Laufe der Jahrzehnte kam es wiederholt zu sporadischen Grenzkonflikten. 2020 starben bei bewaffneten Zusammenstößen in Ladakh, in dem am Rande Tibets gelegenen Galwan-Tal, 20 indische und eine unbekannte Zahl chinesischer Soldaten. Das hat die Spannungen erneut angeheizt.3 Seitdem verzeichnet die indische Seite, nach den Worten von Außenminister Subrahmanyam Jaishankar, eine „anormale Stationierung“ von chinesischen Truppen an der „Line of Ac­tual Control“ (LAC), der De-facto-Grenze zwischen den beiden Staaten.

Derweil haben sich die Beziehungen zwischen Russland und China stetig vertieft. Mitte Mai reiste Putin für zwei Tage nach China – sein erster Auslandsbesuch nach seiner erneuten Wiederwahl zum russischen Präsidenten. Auch Xi Jinping hatte seine erste Auslandsreise nach seiner Wiederwahl 2023 nach Moskau unternommen. Die beiden Länder unterzeichneten gemeinsame Erklärungen zum „Ausbau der umfassenden Partnerschaft und strategischen Zusammenarbeit zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation für eine neue Ära“.

Bei Putins Besuch Mitte Mai haben alle internationalen Medien insbesondere die Umarmung der beiden Staatsoberhäupter hervorgehoben. Die entsprechenden Bilder kommentierte John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, mit den Worten: „Nun, das ist schön für sie.“

Ob es auch schön für Indien ist, steht auf einem anderen Blatt. Europas größte, unmittelbare Sorge ist der Krieg in der Ukraine. Doch Indien hat ganz andere Sorgen. Seine Grenzen zu China und Pakistans sind teils umstritten, dazu kommt eine durchlässige Grenze zum scheiternden Staat Myanmar, dessen größter Waffenlieferant ebenfalls Russland ist. Und nicht weit entfernt ist Afghanistan, das nach wie vor instabil ist, auch wenn es aus den westlichen Schlagzeilen verschwunden ist, seitdem die USA abgezogen sind und das Feld den Taliban überlassen haben.

Sollte sich Russland noch weiter in die Abhängigkeit Chinas begeben, würde das überhaupt nicht zu den strategischen Prioritäten Indiens passen. Das erklärt, warum Delhi eher an einem starken als an einem schwachen Russland gelegen ist.

Über die konkreten Unterschiede zwischen den strategischen Interessen Indiens und des Westens hinaus spielt auch das kollektive historische Gedächtnis eine Rolle: Indischen und bangladeschischen Politikern, Diplomaten, Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen ist immer noch und über alle politischen Grenzen hinweg im Bewusstsein, dass die US-Regierung Nixon/Kissinger 1971 einen Völkermord im heutigen Bangladesch durch den pakistanischen Militärdiktator Yahya Khan ermöglicht hat.

Obwohl der damalige US-Generalkonsul in Dhaka, Archer Blood, das Vorgehen des pakistanischen Militärs gegen die bangladeschische Unabhängigkeitsbewegung als Völkermord bezeichnete, wollte die US-Regierung nicht von einem Genozid sprechen und unterstützte sogar Waffenlieferungen durch Drittstaaten an Pakistan, das ein Verbündeter im Kalten Krieg gegen die UdSSR war. Im Dezember 1971 ging Washington sogar so weit, einen Flugzeugträgerverband in den Golf von Bengalen zu entsenden und damit Indien zu drohen, das damals Millionen Flüchtlinge aus Bangladesch aufgenommen hatte.

Der Globale Süden betrachtet die Behauptung des Westens, er halte sich an das Völkerrecht und trete für eine regelbasierte internationale Ordnung ein, schon lange mit Skepsis. In der südlichen Hemisphäre leben schließlich Völker, die sich von weißen europäischen Kolonialmächten befreien mussten. Diese Skepsis hat sich noch weiter verstärkt, seit im Westen mit Blick auf die aktuellen Konflikte in Gaza und in der Ukraine ganz offenbar zweierlei Maß in Sachen humanitäres Völkerrecht angelegt wird.

Demgegenüber ist es in Indien nichts Neues, dass Russland in der öffentlichen Wahrnehmung als Freund des Landes angesehen wird. Deshalb sind die Ergebnisse einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center vom Sommer 2023 nicht sonderlich überraschend: Von allen 24 untersuchten Ländern war In­dien das einzige, in dem eine Mehrheit – nämlich 57 Prozent – der Befragten eine positive Meinung von Russland hatten.4

Da die Beziehungen zwischen Russland und Indien von beiden Seiten als wichtig und wertvoll gesehen werden, ist die Erwartung unrealistisch, dass Indien wegen des Kriegs in der Ukrai­ne in das westliche Lager wechseln könnte. Zwar hat der Aufstieg Chinas und der relative Niedergang Russlands die indisch-russischen Beziehungen komplizierter gemacht, aber derzeit sind weder Russland noch Indien so schwach, dass sie ihre Außenpolitik von Peking oder Washington bestimmen lassen würden.

1 „Trends in international arms transfers, 2023“, Sipri, Mai 2024.

2 Sameer Lalwani, Frank O’Donnell, Tyler Sagerstrom und Akriti Vasudeva, „The Influence of Arms: Explaining the Durability of India-Russia Alignment“, Journal of Indo-Pacific Affairs, Januar 2021.

3 Siehe Vaiju Naravane, „Konfrontation im Himalaja“, LMd, Oktober 2020.

4 „Large Shares See Russia and Putin in Negative Light, While Views of Zelenskyy More Mixed“, Pew Research Center, 10. Juli 2023.

Aus dem Englischen von Markus Greiß

Samrat Choudhury ist Autor und Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Samrat Choudhury