13.06.2024

Die mutigen Mütter von Mathare

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Die mutigen Mütter von Mathare

In den Slums von Nairobi wächst der Widerstand gegen die extreme Polizeigewalt

von Josefine Rein

Sarah Wangari JOSEFINE REIN
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Wenn ich diesen Baum anschaue, sehe ich meinen Sohn vor mir“, sagt Sarah Wangari mit einem Lächeln. „Ich sehe, wie er jeden Tag wachsen würde, wäre er noch am Leben.“ Die 48-jährige Kenianerin sitzt auf einer selbstgezimmerten Bank und zeigt auf einen der kleinen Bäume, die sie vor fünf Jahren gemeinsam mit anderen Müttern gepflanzt hat. Sie alle trauern um ihre Söhne, die von der kenianischen Polizei getötet wurden.

Hinter dem kleinen Park liegt das Mathare Valley mit einem der größten Slums Nairobis. Wangaris hageres Gesicht ist von der Trauer gezeichnet, doch wenn sie von dem Tag spricht, der ihr Leben für immer verändert hat, klingt ihre Stimme laut und bestimmt.

Wangaris Sohn Alex war damals 19 Jahre alt. Als er 16 war, starb sein Vater, ermordet von der Polizei. Seitdem musste Alex seiner Mutter helfen, die Familie zu ernähren, und lieferte Wasser in Kanistern aus. An einem Abend im Oktober 2017 war er gerade auf dem Weg nach Hause, als ihn Polizisten in Zivil aufhielten. Eine Nachbarin, die alles mitangesehen hatte, erzählte Wangari später, dass die Polizisten Alex fragten, was er so spät noch draußen mache.

Und dann schossen sie. Zehn Kugeln wurden später in seinem Körper gefunden.

Als ihr Sohn nicht nach Hause kam, machte sich Wangari auf die Suche: „Ich sah zwei Jungs auf der Straße liegen. Sie bewegten sich nicht. Als ich die blaue Jacke meines Sohnes erkannte, wusste ich, dass er tot ist.“ Zwei ­Polizisten richteten ihre Waffe auf Wan­ga­ri und forderten sie auf zu verschwinden. „Es tat so unendlich weh, aber ich hatte zu viel Angst zurückzuschauen.“

Sarah Wangari hat sich dem Netzwerk Mothers of Victims and Survivors angeschlossen, das 2017 unter dem Dach des Nachbarschaftszentrums Mathare Social Justice Center (MSJC) von Hinterbliebenen und Überlebenden gegründet wurde. „Ich wollte nicht, dass das, was meinem Kind passiert ist, jemals wieder einem Kind zustößt“, sagt sie über ihre Motivation.

Das Netzwerk ist ein sicherer Ort für mittlerweile über 100 Hinterbliebene aus verschiedenen Slums in ganz Nairobi. Nach dem Verlust ihres Sohns begann Wangari täglich Alkohol zu trinken, aber dank des Netzwerks konnte sie ihre Sucht überwinden. „Ich habe Mütter kennengelernt, die das Gleiche durchgemacht haben wie ich. Das hat mir geholfen.“

Das Netzwerk dokumentiert die tödliche Polizeigewalt in den Slums. Dafür sammeln die Ak­ti­vis­t:in­nen Zeitungsartikel, organisieren Nachbarschaftstreffen und besuchen betroffene Familien. Wöchentlich, manchmal auch täglich, hören sie von Erschießungen im Viertel. Sie gehen jedem Fall nach. In Zusammenarbeit mit anderen, internationalen NGOs kamen sie 2023 zu einem erschreckenden Ergebnis: Im vergangenen Jahr hat die kenianische Polizei jeden dritten Tag einen Menschen getötet oder ließ ihn verschwinden, die meisten davon in der Hauptstadt Nairobi.1

Viele Taten haben sich genauso wie bei Alex abgespielt: Die Männer werden auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, Schule oder einem Treffen mit Freun­d:in­nen von Polizisten erst aufgehalten und dann erschossen. Die meisten Opfer leben in einem Slum wie Mathare. „Hier im Ghetto hat jeder einen Bruder, einen Vater, einen Freund, einen Mann oder einen Sohn durch die Kugeln der Polizei verloren“, sagt Wangari.

Im Mathare Valley leben über 200 000 Menschen in drei mal drei Meter großen Wellblechhütten auf einem Areal von nur etwa drei Quadratkilometern. Das Tal entstand Anfang des 20. Jahrhunderts, als die britische Kolonialregierung hier Steine für den Bau ihrer Verwaltungsgebäude in Nairobi abtragen ließ. Zuerst besiedelten Bergarbeiter mit ihren Familien den Steinbruch. Dann kamen die Hausangestellten der Briten und die Plan­ta­gen­ar­bei­te­r:innen, die in der segregierten Stadt keinen Wohnraum fanden. Wangaris Mutter, eine Zwangsarbeiterin auf den kolonialen Baustellen, zog in den 1950er Jahren nach Mathare.

Dieser Prozess der informellen Besiedlung setzte sich nach der Unabhängigkeit des Landes 1963 fort – bis heute. Die Stadtverwaltung hat das Viertel von Anfang vernachlässigt. Noch immer gibt es kein funktionierendes Abfall- und Abwassermanagement. Nur ungefähr einmal pro Woche werden die Haushalte über wenige Leitungen und Lastwagen mit Wasser versorgt.

Die Infrastruktur ist fest in der Hand von mafiösen Kartellen, die mit korrupten Politikern und Unternehmern verbandelt sind. Sie verkaufen Strom und Wasser, das sie von angezapften Leitungen stehlen. Sie kontrollieren die öffentlichen Toiletten, die Abfallentsorgung, den Nahverkehr und den Handel mit Chang’aa, einem Schnaps, den die Frauen im Viertel in alten Ölfässern brennen.

Die Arbeitslosenrate ist hoch, große Teile der Be­woh­ne­r:in­nen arbeiten wie 75 Prozent der kenianischen Beschäftigten im informellen Sektor, etwa als Haushaltshilfen in den angrenzenden Stadtteilen. Bis zu drei Viertel des Familieneinkommens werden für Grundnahrungsmittel ausgegeben.

Die nach der Coronapandemie, aber auch durch häufige Dürren gestiegenen Lebensmittelpreise treffen die Ärmsten am härtesten. Oft können sie sich nur eine einzige Mahlzeit am Tag leisten. Doch die Frauen des Netzwerks greifen sich gegenseitig unter die Arme. „Wir können nicht zulassen, dass jemand hungrig einschläft“, sagt Veronica Gathoni, deren Ehemann, ein Mechaniker, wie Alex 2017 von Polizisten erschossen wurde.

Mangels legaler Beschäftigungsmöglichkeiten geraten viele Jugendliche in den Slums in den Sog gewalttätiger krimineller Banden, die ihnen außerdem ein Zugehörigkeitsgefühl geben, das sie anderswo nicht bekommen. Wangari macht vor allem die Armut für die hohe Kriminalitätsrate verantwortlich: „Viele Jugendliche stehlen oder sie verkaufen Drogen, weil es zu Hause nicht genug zu essen gibt.“

Die Regierung stellt die willkürlichen Exekutionen von jungen Männern durch die Polizei als wirksame Methode der Kriminalitätsbekämpfung dar, weil dadurch potenzielle Kriminelle abgeschreckt würden.2 Wie zahlreiche Regierungsmitglieder vor ihm forderte Kithure Kindiki, Staatssekretär im Innenministerium, die Polizei vergangenes Jahr explizit dazu auf, Kriminelle auf der Stelle zu erschießen.

Doch was heißt hier kriminell? Oft braucht man als junger Mann – womöglich noch mit Dreadlocks – nur spätabends auf der Straße unterwegs zu sein, um von der Polizei aufgegriffen und erschossen zu werden. Danach behaupten die Polizisten wie im Fall von Sarah Wangaris Sohn, dass er ein gesuchtes Bandenmitglied gewesen sei und eine Waffe bei sich getragen habe. Doch wenn ihr Sohn Geld für eine Waffe gehabt hätte, sagt die Mutter, hätten sie wohl kaum in einer Hütte gelebt, in die es reinregnet.

Die Täter werden systematisch geschützt. Als Wangari die Tötung ihres Sohnes bei der Polizei melden wollte, wurde sie weggeschickt. „Wenn die Polizei unsere Fälle aufnimmt, lässt sie die Akten später verschwinden“, erzählt sie. Veronica Gathoni vermutet, dass die Polizei auch die Krankenhäuser und Leichenschauhäuser besticht: „Als mein Mann 2017 getötet wurde, hat sich das Krankenhaus geweigert, ihn zu obduzieren.“

Die Polizisten müssen keine rechtlichen Konsequenzen fürchten. Um Angst und Schrecken zu verbreiten, posten sie die Fotos ihrer getöteten und misshandelten Opfer auf ihren privaten Accounts in den sozialen Medien.

Dabei hatte Präsident William Ruto bei seinem Amtsantritt 2022 noch angekündigt, die tödliche Polizeigewalt ein für allemal zu beenden. Er schickte den Chef der Kriminalpolizei in den Ruhestand und löste die Spezialeinheit auf, die hunderte Tötungen und Entführungen zu verantworten hatte. Doch den Schießbefehl, den seine Vorgänger ausgegeben hatten, gibt es immer noch. Letztes Jahr lobte Ruto sogar das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die bei Protesten gegen die steigenden Lebenshaltungskosten mindestens 30 Demonstrierende erschossen hatten.

Die starke Polizeipräsenz in den Slums ist auch ein Spiegel der sozialen Ungleichheit. Die meisten Polizei­sta­tio­nen liegen im armen Osten von Nairobi. Die massenhafte Arbeitslosigkeit in den Slums sei eine Bedrohung für die Regierung, mit der sie nicht anders umzugehen weiß als mit extremer Gewalt, meint Faith Kasina, die ebenfalls bei den Mothers of Victims and Survivors mitmacht. Sie lebt in dem östlichen Armenviertel Kayole: „Wenn sich diese Jugendlichen in Mathare, Kayole, Dandora und Githurai politisieren, ja radikalisieren würden, sind sie eine Masse, gegen die der Staat nicht mehr ankommen könnte.“

Die kenianische Gesellschaft duldet die Tötung vermeintlich krimineller Jugendlicher stillschweigend. „Die Nachbarn schert es nicht, wenn einer getötet wird, der ein Dieb sein soll“, meint Faith Kasina. Oft stößt das Netzwerk mit seiner Arbeit gegen Polizeigewalt auf Unverständnis – auch im eigenen Viertel. Die Ak­ti­vis­t:in­nen kämpfen gegen diese Normalisierung der Gewalt an, indem sie Geschichten über die Menschen erzählen, die so jung sterben mussten: wie sie hießen, welche Träume sie hatten, wen sie zurücklassen.

Mit den gepflanzten Bäumen bewahren die Familien die Erinnerung an ihre getöteten Verwandten. Inspiriert wurden die Mütter dabei vom Green Belt Movement der kenianischen Umweltaktivistin und Frauenrechtlerin Wangari Maathai (1940–2011). Diese Graswurzelbewegung von Frauen hat in den 1970er Jahren die von der Regierung vernachlässigte Wiederaufforstung Kenias selbst in die Hand genommen und im ganzen Land 30 Millionen Bäume gepflanzt.

In der Nähe des kleinen Parks betreibt Sarah Wangari eine kleine Kneipe. Auf diesem Grundstück hat schon ihre Mutter gelebt, die in den 1950er Jahren für die Wi­der­stands­kämp­fe­r:in­nen gegen die britische Kolonialmacht gekocht und das Essen hier im Steinbruch versteckt hat. Die kleine Wellblechhütte hat kein Fenster, nur eine kleine blaue Glühbirne baumelt von der niedrigen Decke. Auf den zwei Bänken sitzen Wangaris Mit­strei­te­r:in­nen, die sich selbst am Bier und Chang’aa hinter der Theke bedienen.

Sie kommen oft hierher, um den Betrieb zu unterstützen, mit dem Wangari sich und ihren jüngeren Sohn ernährt. Auf einem Tisch in der Mitte liegen zerlesene Kopien des kommunistischen Manifests und der kenianischen Verfassung. „Damit die Leute ihre Rechte kennen“, sagt Wangari. „Als mein Mann 2014 getötet wurde, gab es das Netzwerk noch nicht und ich kannte meine Rechte nicht.“ Veronika Gathoni kann das nur bestätigen: „Zuerst waren wir Opfer, aber jetzt sind wir Kämpferinnen, wir beschützen unsere Nachbarschaft!“

Gemeinsam mit den anderen Hinterbliebenen gehen Wangari und Gathoni immer wieder auf die Straße. Vor vier Jahren zogen sie in Protestzügen durch Mathare und hielten Schweigeminuten an den Orten ab, an denen die Polizei einen Nachbarn, Freund oder Sohn hingerichtet hat. Ein paar Tage später trugen sie Särge zum Parlament. Außerdem demonstrieren sie jedes Jahr am 7. Juli für ein Ende des Tötens. Der Tag ist symbolträchtig in Kenia („Saba Saba“ in Suaheli für „siebter Siebter“). Am 7. Juli 1990 gingen das erste Mal Menschen auf die Straße, um gegen Diktator Daniel arap Moi (1978–2002) und für die Einführung eines Mehrparteiensystems zu protestieren, das zwei Jahre später eingeführt wurde.

Die Polizei reagiert auf die friedlichen Demonstrationen mit Tränengas, Prügeln und Festnahmen. 2020 war auch Juliet Wanjira unter den Protestierenden, deren Bruder 2007 erschossen wurde. Sie war 2015 eine der Gründerinnen des Mathare Social Justice Centre. Das Bild von der zierlichen Frau mit den langen Dreadlocks, die sich gegen die Festnahme durch drei schwerbewaffnete Polizisten wehrt und ihre Faust in die Höhe reckt, wurde zur Ikone. Und ihr Ausruf „Wenn wir unsere Angst überwinden, verlieren sie ihre Macht“ zum Motto des Netzwerks Mothers of Victims and Survivors.

Der Widerstand gegen Polizeigewalt ist noch in anderer Hinsicht lebensgefährlich: Kenia hat ein schwaches Zeugenschutzprogramm. Die Betroffenen sind nicht vor Vergeltung geschützt. Deshalb haben viele Menschen zu große Angst, Verstöße von Polizisten den Behörden zu melden. Die Polizei lässt immer wieder Zeu­g:in­nen umbringen. Auch Mitglieder des Netzwerks werden regelmäßig von der Polizei bedroht: „Die Killer Cops parkten ständig vor dem Haus meiner Mutter. Ich musste ausziehen, weil ich sie nicht gefährden wollte“, erzählt Faith Kasina.

Im Februar 2019 wurde Caroline Mwatha, eine Aktivistin des Netzwerks aus dem Stadtteil Dandora, tot aufgefunden. Nach Polizeiangaben starb sie an den Komplikationen eines unsicheren Schwangerschaftsabbruchs. Doch der Bericht des Leichenschauhauses weist Ungereimtheiten auf. Ihre Mit­strei­te­r:in­nen glauben, dass die Hinrichtung der Menschenrechtsaktivistin vertuscht werden sollte.3

2009 waren bereits der Menschenrechtsanwalt Oscar Kamau Kingara, der Fälle von tödlicher Polizeigewalt dokumentierte hatte, und sein Assistent Georg Paul Oulu am helllichten Tag in ihrem Auto erschossen worden, als sie in Nairobi im Stau standen. Menschenrechtsgruppen machen die Polizei und Staatsorgane für den Mordanschlag verantwortlich.

Die Brutalität, mit der die Polizei agiert, ist auch eine koloniale Hinterlassenschaft. Kenias Polizei ist direkt aus den paramilitärischen Einheiten hervorgegangen, mit denen die Briten seit 1895 ihr Protektorat Ostafrika kontrollierten. Als aus dem Protektorat 1920 die Kronkolonie Kenia wurde, errichteten die Briten überall Polizeistationen: in der Hauptstadt Nairobi, entlang der Eisenbahnlinie und im fruchtbaren Hochland, wo die Weißen siedelten.

Erbe der britischen Kolonialherrschaft

In den Polizeistationen wurden die afrikanischen Sicherheitskräfte von europäischen und indischen Offizieren eingewiesen. Sie vertrieben ihre Landsleute aus der Hauptstadt, wenn sie keinen festen Arbeitsplatz nachweisen konnten, und überwachten sie in informellen Siedlungen wie Mathare.

Die koloniale Polizeigewalt erreichte ihren Höhepunkt bei der Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands in den 1950er Jahren, als landlose Bauern aus dem Volksstamm der Kikuyu sich zur Kenya Land and Freedom Army (KLFA) zusammenschlossen und für die Rückgabe gestohlener Ländereien und die nationale Unabhängigkeit kämpften. Zwischen 1952 und 1960 führte die kenianische Polizei einen brutalen Krieg gegen die KLFA und die Zivilbevölkerung, dem über 12 000 Menschen zum Opfer fielen.

Die Polizei nahm Hunderttausende fest und beteiligte sich an der Zwangsumsiedlung fast der gesamten Kikuyu-Bevölkerung: 1,5 Millionen Menschen wurden in überwachte, eingezäunte Dörfer und Internierungslager gesperrt. Mathare, die städtische Hochburg der KLFA, wurde dem Erdboden gleichgemacht und ein Großteil seiner Be­woh­ne­r:in­nen wurde interniert. Doch die Erzählung von dem aufständischen Viertel überlebte.

Nach der Unabhängigkeit 1963 übernahm die Regierung unter Jomo Kenyatta die koloniale Polizei mitsamt ihren Strukturen, Methoden und Zielen. Wie die Briten benutzten Kenyatta und seine Nachfolger die Polizei zur Niederschlagung von Aufständen und zur Unterdrückung der politischen Oppo­si­tion. Das Sonderkommando, das in den 1950er Jahren KLFA-Kämpfer:innen verhört hatte, folterte in den 1980er Jahren Gegner des Diktators Daniel arap Moi. Schon damals waren es die Mütter der inhaftierten Studenten, Professoren, Journalisten, Arbeiter und Bauern, die dem Polizeistaat die Stirn boten.

Bei einer Kampagne zur Bekämpfung der Mungiki-Sekte richtete die Polizei nach Angaben der Anwaltsorganisation Oscar Foundation zwischen 2002 und 2007 über 8000 junge Ke­nia­ne­r:in­nen hin oder folterte sie zu Tode, die meisten davon in Mathare und anderen Slums. 4000 Menschen werden noch immer vermisst.

Die gewalttätige ethnonationalistische Mungiki-Sekte identifiziert sich mit der KLFA und hatte in den 2000er Jahren großen Einfluss in Nairobi, Zentralkenia und Teilen des Great Rift Valley, wo die traditionellen KLFA-Hochburgen lagen. Auch während der Welle politischer und ethnischer Gewalt rund um die umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2007/08 erschoss die Polizei mehr als 400 Menschen, vor allem in den Slums der Ballungsräume.4

2011 zog die kenianische Armee in den Kampf gegen die islamistische Terrororganisation al-Shabaab in Somalia, die sich dafür am 21. September 2013 mit einem blutigen Überfall auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi rächte. Die anschließende Geiseldrama endete am 24. September mit mindestens 67 Todesopfern und 300 Verletzten.

In der Folge fing die Antiterroreinheit der Polizei an, wahllos Menschen somalischer Herkunft und Mus­li­m:in­nen zu terrorisieren – nach offiziellen Angaben sind 7 Prozent der kenianischen Bevölkerung islamischen Glaubens. Der von den USA und Großbritannien mitfinanzierten Einheit werden zahlreiche außergerichtliche Hinrichtungen vorgeworfen.

Die jüngsten polizeilichen Gewaltausbrüche mit Todesfolge ereigneten sich während der Ausgangsbeschränkungen in der Coronapandemie. So erschossen Polizisten im März 2020 den 13-jährigen Yassin Hussein Moyo nachts auf dem Balkon seiner Familie in Mathare.

Jahrzehntelang hatten kenianische Graswurzelorganisationen für eine neue Verfassung gekämpft. Nach einem Referendum wurde sie schließlich am 27. August 2010 durch Präsident Mwai Kibaki in Kraft gesetzt. Die darin vorgesehene Reform der kenianischen Polizei schlug sich unter anderem in einem neuen Namen nieder – Police Service statt Police Force – und in der Einrichtung einer Aufsichtsbehörde, der Independent Policing Oversight Authority (Ipoa).

Zu den Aufgaben der Ipoa gehört unter anderem, Todesfälle bei Polizeieinsätzen zu untersuchen. Auch das Netzwerk Mothers of Victims and Survivors meldet seine dokumentierten Fälle der Ipoa – allerdings ohne je wieder von der Behörde zu hören. Nach eigenen Angaben hat die Ipoa von mehr als 20 000 Beschwerden zu Polizeigewalt, die zwischen 2012 und 2021 eingegangen sind, lediglich 12 Fälle zur Verurteilung gebracht.5 Ist demnach die Demokratisierung der Polizei in Kenia gescheitert?

Es ist schon lange dunkel, als sich die ersten Gäste in Wangaris Kneipe verabschieden. „Früher tötete die Polizei jede Woche drei bis vier junge Menschen hier im Viertel. Jetzt sind es zwei“, sagt Wangari, als sie einem ihrer Stammkunden ein letztes ungekühltes Bier öffnet. „Früher war es undenkbar, abends zur Busstation zu laufen, ohne von der Polizei angehalten und bedroht zu werden“, erzählt der Mann, der seit 30 Jahren in Mathare lebt. Mittlerweile bleibe er abends etwas länger in der Kneipe, weil er sich im Viertel sicherer fühle.

Auch Ak­ti­vis­t:in­nen aus anderen Stadtteilen bestätigen, dass es weniger Todesfälle gebe, seit sie die Polizeigewalt dokumentieren. Sie verbuchen das als Erfolg ihrer Arbeit. Andererseits beobachten sie einen Anstieg der Todesfälle durch Erwürgen. Sie erklären das damit, dass die Täter verhindern wollen, durch Schusswaffeneinsatz Spuren zu hinterlassen, die zur Polizei führen könnten.

Als Erfolg verbucht das Netzwerk auch den Prozess gegen den berüchtigten Polizisten Ahmed Rashid, der seit März vor Gericht steht. Wangari und viele andere Frauen des Netzwerks machen ihn für den Tod ihrer Ver­wandten verantwortlich. Er ist angeklagt, 2017 unweit von Mathare im Stadtteil ­Eastleigh am helllichten Tag zwei unbewaffnete Männer hingerichtet zu haben. Anwohner hatten ihn dabei mit ihren Handykameras gefilmt. Schon der erste Zeuge im Verfahren sagte jedoch nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus – aus Angst vor Vergeltung.

Wangari, Gathoni, Wanjira und viele andere Frauen standen am ersten Prozesstag vor dem Gerichtsgebäude, um den Angehörigen ihre Solidarität zu zeigen. Sie sangen das afrikanische Befreiungslied „Tutasonga kwa Mapinduzi“ (Vorwärts durch die Revolution), jubelten lauthals und riefen: „Nieder mit Rashid!“ Wangari sagte nach dem ersten Prozesstag euphorisch: „Ich habe dem Mörder meines Sohns in die Augen geblickt, und ich habe mich stark gefühlt.“

Falls es zu einer Verurteilung Ra­shids kommt, hofft das Netzwerk, dass auch ihre Anklagen demnächst vor Gericht gebracht werden. Sieben Jahre nach dem Tod ihres Sohns ist Wangari zuversichtlich, dass die Täter bald zur Rechenschaft gezogen werden.

1 „Statistics“, www.missingvoices.or.ke.

2 April Zhu, „What Kenya’s Killer Cops Reveal About Police Culture“, Ethical Systems, 3. Juni 2022.

3 Otsieno Namwaya, „Ensure Justice in Death of Kenyan Activist“, Human Rights Watch, 22. Februar 2019.

4 „Ballots to Bullets. Organized Political Violence and Kenya‘s Crisis of Governance“, Human Rights Watch. 16. März 2008.

5 „Performance Report January–June 2021“, Independent Policing Oversight Authority, März 2022.

Josefine Rein ist freie Journalistin in Nairobi und Leipzig.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Josefine Rein