13.06.2024

Rechtsextrem in Europa

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Rechtsextrem in Europa

Bei der Europawahl am 9. Juni haben rechte Parteien in fast allen Mitgliedstaaten dazugewonnen. Das Ergebnis bestätigt einen Trend, der sich bei den Parlamentswahlen auf nationaler Ebene seit Jahren abzeichnet.

von Grégory Rzepski

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Europa rückt nach rechts. In Italien, Ungarn, der Slowakei, Kroatien, Finnland und demnächst in den Niederlanden sind Rechtsaußenparteien an der Regierung, in Schweden gehören sie zur Regierungskoalition. Auch sind sie bei Wahlen erfolgreich, wie zuletzt in Portugal. Laut dem Economist zeigen über 20 Prozent der Befragten in 15 der 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter alle großen Länder außer Spanien, Sympathien für Parteien der „harten Rechten“.1

Sie werden mal als „populistisch“, mal als „antiliberal“, als „nativistisch“ oder „nationalistisch“ beschrieben. Offensichtlich ist es schwierig, all diese Gruppierungen unter einem Label zusammenzufassen – denn auf den ersten Blick scheint von allem etwas dabei zu sein.

Die spanische Vox und die portugiesische Chega etwa bekennen sich zum Neoliberalismus, während die Schwedendemokraten und die Wahren Finnen den Wohlfahrtsstaat zurückhaben möchten. Die von 2015 bis 2023 in Polen regierende PiS beschnitt Bürgerrechte, sorgte aber auch für massive Umverteilung – so lautet jedenfalls der Vorwurf der Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit, die sich teils rechts von der PiS positioniert. Sie ist seit 2019 im polnischen Parlament vertreten und tritt kaum verhohlen antisemitisch auf – während der französische Rassemblement National (RN) letzten November in Paris gegen Antisemitismus auf die Straße ging.

In Rom dankte der ukrainische Präsident Selenskyj im März der ita­lie­nischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni für ihre Unterstützung. Auf der anderen Seite kritisierte die Lega von Matteo Salvini die europäischen Waffenlieferungen an die Ukraine – ebenso wie die Slowakische Nationalpartei (SNS) und die ungarische Fidesz. Der rechte politische Raum ist in Italien, Polen und Frankreich so breit, dass er gleich mehrere Angebote bereithält.

Betrachtet man ganz Europa, ist die jeweilige Ausrichtung der Braunen, Schwarzen oder Blauen vorwiegend durch die Geschichte, die Geografie und die Stellung des Landes in der internationalen Arbeitsteilung bestimmt, und auch durch die Rolle der Frau und das Bild der traditionellen Familie. Die Alternative für Deutschland (AfD) schimpft über zu viele Abtreibungen, während der französische RN für Abtreibungsfreiheit eintritt. Die Fratelli d’Italia sind hier eher auf Linie der AfD. Giorgia Meloni stellt sich gegen die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare, während Marine Le Pen mittlerweile für die Ehe für alle eintritt.

Geert Wilders von der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV) ist von Anfang an für die Rechte von Schwulen und Lesben eingetreten – was viel mit seinem fanatischen Hass auf Muslime zu tun hat. Die übrigen rechten Parteispitzen Europas teilen seine Phobie nicht im gleichen Maße, stellen sich aber sämtlich gegen den Islam und Einwanderung.

Jenseits aller Unterschiede sind sich diese Parteien in einem Punkt einig: Sie sehen sich als Verteidiger des „wahren Westens“. Sie haben ein gemeinsames identitäres Projekt und verfolgen es mit der Strategie, neue rechte Mehrheiten zu schaffen. Bezeichnend für die aktuelle Situation ist dabei die Radikalisierung ganzer Bereiche der früheren politischen Mitte: Liberale, Christdemokraten, Konservative. Die Alarmmeldungen in den Medien gilt es unter diesem Aspekt genau zu untersuchen: Kippt Europa tatsächlich um? Ist es nicht eher so, dass sich die traditionelle Rechte der extremen Rechten anbiedert oder sich mit Blick auf künftige Koalitionen selbst radikalisiert?

Schon in den 2010er Jahren waren sich die Rechtsaußenparteien hinsichtlich der Einwanderung einig, doch beim Thema europäische Integration gingen die Meinungen auseinander. Bei den Staatsschuldenkrisen protestierten die Nationalisten im Süden – wie die italienische Lega oder die Unabhängigen Griechen (Anel) gegen die Austeritätspolitik in Berlin und Brüssel. Auf der anderen Seite positionierte sich die AfD gegen die Rettungspläne für Griechenland. Die damals noch von moderaten Liberalen geführten Regierungen in Polen, der Slowakei und Tschechien unterstützten den strengen Sparkurs, den Berlin – ihr wichtigster Handelspartner – gegenüber Athen durchsetzte.

Im Jahr 2015 änderte sich dann alles – allerdings zeitversetzt. Trotz des breiten Neins zur erpresserischen Brüsseler Sparpolitik bei der Volksabstimmung in Griechenland vom Juli gab die Regierung von Alexis Tsipras ihren Widerstand gegen die EU-Kommission auf. Die Gegner des europäischen Projekts waren nicht in der Lage, ihm eine alternative Vision entgegenzusetzen. Doch die Parteien rechts außen fanden schnell ein neues Betätigungsfeld – dank Angela Merkel. Am 31. August beschloss die Kanzlerin, die Grenzen für fast 1 Million syrische Flüchtlinge zu öffnen, was in Polen und Ungarn für Empörung sorgte.

Dort wandten sich die Wähler gegen eine EU, die sie ihrer Meinung nach wegen des Arbeitskräftemangels in Deutschland nicht mehr vor muslimischer Einwanderung schützte. Im Oktober errang die PiS die absolute Mehrheit bei den polnischen Parlamentswahlen. Im Herbst 2017 verdoppelte die tschechische Partei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) ihr Wahlergebnis. Und im April 2018 erhielt die ungarische Fidesz eine Mehrheit von 133 der insgesamt 199 Parlamentssitze.

Radikalisierung der Konservativen

Bei den französischen Regionalwahlen im Dezember 2015 führte die Ankunft syrischer Flüchtlinge in Europa – in Verbindung mit den islamistischen Attentaten von Januar und November in Paris – dazu, dass der Front National fast 7 Millionen Stimmen bekam, fast dreimal so viele wie 2010. Die Dänische Volkspartei (DF) wurde bei den Parlamentswahlen 2015 zweitstärkste Kraft. Und bei den belgischen Kommunalwahlen 2018 feierte der Vlaams Belang ein Comeback. In den darauffolgenden Jahren richteten sich die radikalen Rechtsparteien Europas strategisch neu aus. ­Eine nach der anderen übernahm das von Fidesz und PiS propagierte Alternativmodell zur EU: einen „Bund europäischer Nationen“.

Die Ankunft von Millionen ukrainischer Geflüchteter – weißer, christlicher Familien – brachte der „Umvolkungs“-These keine weiteren Argumente; doch der Krieg, vor dem diese flohen, führte zu höheren Rohstoffpreisen und Inflationsraten. Seit 2022 gelingt es der extremen Rechten fast überall, die Wut angesichts der Preissteigerungen bei Treibstoff- und Heizkosten gegen den Klimaschutz auszuspielen.

Éric Zemmour2 , Gründer der Partei Reconquête, erregte sich im vergangenen März über die „Klimapropaganda“, die uns sage, „was wir tun und essen sollen“, und gegen „Punker mit Hunden“, die „Tomatensoße auf die Mona Lisa werfen“. Die AfD kritisiert in ihrem Wahlprogramm die „irrationale CO₂-Hysterie“, die „unsere Gesellschaft, unsere Kultur und Lebensweise strukturell zerstört“.3

Durch die Bank erklären die Rechtsextremen heute, sie verteidigten „unsere Lebensweise“, die von der polnischem Partei Konfederacja auf die griffige Formel gebracht wird: „ein Haus, ein Rasen, ein Grill, zwei Autos, Urlaub“. Sie wüten gegen islamistische, ökologische, woke und globalistische Ideologien, die die gesamte Zivilisation der Vernichtung oder zumindest der Verwahrlosung überlassen würden. „Die grundlegende Frage unserer Zeit ist, ob der Westen überleben will“, sagte US-Präsident Trump 2017 in Polen.

PiS, Fidesz, RN und andere Rechtsextreme teilen dieses Postulat, denn es bietet ihnen erstens die Rechtfertigungsgrundlage für Grenzüberschreitungen, bei denen laut gesagt wird, was angeblich „alle denken“. Zweitens ist es universell einsetzbar – gegen Transsexualität, bis zum Konflikt im Nahen Osten, zu dem Geert Wilders bereits 2010 prophezeite: „Wenn Jerusalem in die Hände der Muslime fällt, werden Athen und Rom folgen. Jerusalem ist die erste Verteidigungslinie des Westens.“4

Gegenüber der Linken haben die Rechtsextremen einen doppelten Vorteil, weil sie vermeintlich einfache Antworten auf die sozialen Krisen liefern: Sie nutzen das sehr wirksame Mittel, Sündenböcke zu benennen; und sie betreiben die Spaltung zumal der unteren sozialen Schichten. Die Linke hingegen versucht, alle gegen die Missstände zu vereinen. Bei den konservativen Parteien, die sich angesichts der Erosion ihres Wählerpotenzials selbst radikalisieren, sorgen rechtsextreme Positionen inzwischen nur noch vereinzelt für Erschrecken und Abgrenzung.

Bis hierhin war es ein langer Weg. Im Jahr 2000 bezeichneten europäische Liberale und Christdemokraten die Beteiligung der Freiheitlichen Partei (FPÖ) an der österreichischen Regierung noch als Schande. Der französische Präsident Jacques Chirac kritisierte damals, die Ideologie der FPÖ verleugne die „Werte der Menschlichkeit und des Res­pekts vor der Menschenwürde“. 2024 steht nun ein François-Xavier Bellamy an der Spitze von Les Républicains, der Partei von Chiracs Erben, der erklärte, er hätte bei der letzten Präsidentschaftswahl für Éric Zemmour gestimmt, wenn dieser es in die Stichwahl gegen Em­ma­nuel Macron geschafft hätte.

Zemmour schlug im März 2022 die Einrichtung eines Remigrations­minis­te­riums vor, was erstaunlich wenig Empörung hervorrief. Am 15. Mai dieses Jahres nun schrieben 15 Mitgliedstaaten einen Brief an die EU-Kom­mis­sion, in dem sie eine Verschärfung der Asylpolitik forderten: An der Seite Italiens sprachen sich konservative, zentristische und sogar sozialdemokratische Regierungen aus Dänemark und Rumänien für eine Rückführung von Asylsuchenden in Drittstaaten aus, nach dem Beispiel des Abkommens der britischen Tory-Regierung mit Ruanda.

Frankreich hat diese Forderungen zwar nicht unterschrieben, aber an der Redaktion des Briefs mitgewirkt. Allgemein ist die Macron-Regierung auf die Linie nationaler Präferenz eingeschwenkt, etwa bei der staatlichen Unterstützung für Migranten – was mit der Verabschiedung des strengen Immigrationsgesetzes im Dezember 2023 sichtbar wurde – oder bei der sogenannten ökologischen Verbotspolitik. Trotzdem musste die Macron-Partei Renaissance bei der Europawahl herbe Verluste einstecken und landete weit abgeschlagen hinter dem Wahlsieger RN. Bereits am Wahlabend zog ­Macron die Konsequenzen: Er löste das Parlament auf und kündigte Neuwahlen noch im Juni an.

Auch die gaullistischen Républicains setzen im Umgang mit dem rechten Rand auf Überbietung. Ihr Parteivorsitzender Éric Ciotti spricht ganz explizit von der „großen Umvolkung“ und weigert sich, die Aufmärsche rechtsextremer Aktivisten mit der Forderung „Islam raus aus Europa“ zu verdammen. Selbst RN-Führer Jordan Bardella rief Ciotti zur Mäßigung auf. In Abkehr von der gaullistischen Parteitradition unterstützt Ciotti die ultrarechte Regierung in Israel bedingungslos und tatkräftig, worin er den RN noch übertrifft. Bei Asylpolitik oder Umweltnormen profiliert sich die Partei stets als größte Kritikerin der EU-Linie.

So radikalisieren sich die Konservativen, während die extreme Rechte zugleich die am meisten polarisierenden Elemente aus ihren Programmen gestrichen hat. Die italienische Ministerpräsidentin ist mittlerweile Anhängerin der Nato wie des Euro und betont ihre Freundschaft zur EU-Kommis­sions­präsidentin.5

Vor der Europawahl hat Ursula von der Leyen eine Koalition ihrer Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP), mit den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) nicht ausgeschlossen – obwohl zur EKR neben Melonis Fratelli auch Vox und PiS gehören. Durch ihre jeweiligen Koali­tions­ver­ein­ba­rungen mussten sich auch die Schwedendemokraten zur Europäischen Union bekennen und die niederländische PVV die Militärhilfe für die Ukraine akzeptieren. Die Globalisierung ist ebenfalls kein Thema mehr, an dem sich Konservative und Rechtsextreme aufspalten, zumal die Konservativen seit der Coronapandemie und dem Aufstieg Chinas weitaus weniger fanatisch für den Freihandel kämpfen.

Solche Neuausrichtungen dienen einem Ziel, das der Fraktionsvorsitzende der Fratelli d’Italia, Tommaso Foti, am 1. Mai auf Radio France Inter­na­tio­nale klar benannte: „ein Europa ohne die Sozialisten und ohne diese Frak­tio­nen, die sich zwar als ökologisch definieren, aber in Wahrheit Ökoterroristen sind“.

Die unmittelbare Herausforderung der Europawahl am 9. Juni bestand in der Tat darin, dass die „harte Rechte“ die gemeinsame Mehrheit der Europäi­schen Volkspartei und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Euro­päi­schen Parlament (S&D) brechen könnte. So ist es nicht gekommen. EVP, S&D und die Liberalen bilden zusammen weiterhin die klare Mehrheit im EU-Parlament.

1 „The hard right is getting closer to power all over ­Europe“, The Economist, 16. September 2023.

2 Siehe Marie Bénilde, „Bolloré und sein Kandidat“, LMd, Januar 2022.

3 Programm der Alternative für Deutschland (AfD) für die Europa-Wahl 2024.

4 „Geert Wilders: Change Jordan’s name to Palestine“, 20. Juni 2010, ynetnews.com.

5 Siehe Benoît Bréville, „Europas Lieblingsfaschistin“, LMd, Juli 2023.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Grégory Rzepski