Argentinien – ein Splatterfilm
Präsident Milei lässt die Kultur ausbluten
von Alan Pauls
Im Dezember 2023, nur zwei Wochen nach seinem Machtantritt, enthüllte der neue argentinische Präsident Javier Milei seinen wahren und vermutlich einzigen Plan, den er für die Kultur seines Landes bereithielt: ihre Liquidierung. Seine erste Amtshandlung bestand darin, das Kulturministerium auf den Rang eines Staatssekretariats zurückzustufen und in die Hände eines Produzenten kommerzieller Theaterevents zu legen. Die zweite war ein elefantöses Gesetz, die sogenannte Ley Bases – wegen der 664 darin enthaltenen Artikel im Volksmund auch „Omnibusgesetz“ genannt –, dessen drittes Kapitel vorsah, einige der engagiertesten und verdienstvollsten Institutionen der argentinischen Kultur zu demontieren oder gleich ganz abzuwickeln.
Betroffen waren unter anderen das Filminstitut (Instituto de Cine y Artes Audiovisuales, INCAA), dem zwei Säulen seiner Finanzierung gekappt werden sollten: der Staatliche Kunst- und Kulturfonds (Fondo Nacional de las Artes, FNA) und das Nationale Theaterinstitut (Instituto Nacional de Teatro, INT), deren Schließung verfügt wurde. Betroffen war auch das Netz der 1800 öffentlichen Bibliotheken, deren bescheidenes Programm zur vergünstigten Nutzung abgeschafft werden sollte, und das Verlagswesen, indem die Buchpreisbindung aufgehoben werden soll – ein Steuerungsinstrument, das verhindert, dass Großbuchhandlungen ihre Marktmacht missbrauchen und mittels Rabatten unabhängige Buchhändler aus dem Geschäft drängen können.
Nachdem das Omnibusgesetz in seiner damaligen Fassung Anfang Februar in der Abgeordnetenkammer abgelehnt worden war,1 wurde es Anfang April erneut eingebracht, stark reduziert und ohne das dritte Kapitel, zudem mit einer halbherzigen Änderung eines der umstrittensten Punkte: der Übertragung der legislativen Gewalt auf die Exekutive, die es dem Präsidenten erlauben würde, im Rahmen einer Notstandsverordnung am Kongress vorbei per Dekret zu regieren. Nun soll das nur noch ein Jahr anstatt wie ursprünglich beabsichtigt zwei Jahre möglich sein.
Das Abgeordnetenhaus hat dem Paket mit nunmehr 232 Gesetzen am 30. April zugestimmt. Falls auch der Senat mitspielt, bekommt der Präsident die nötige Macht, sein im dritten Kapitel enthaltenes Programm zum Abbau der Kultur unbehelligt von der Opposition umzusetzen. Dabei hatte er ohnehin nicht daran gedacht, das Ergebnis der parlamentarischen Verhandlungen abzuwarten.
Nach drei Monaten im Amt hatte Milei am 4. März bereits die staatliche Nachrichtenagentur Télam (die bedeutendste Lateinamerikas) geschlossen. Nun plant er die Abwicklung des staatlichen Fernsehens und Radios. Und er berief einen Finanzexperten ohne jegliche Kontakte zur Filmwirtschaft an die Spitze des INCAA, dessen erste Maßnahmen darin bestanden, an die hundert Angestellte zu entlassen, zentrale Verwaltungsgremien abzuschaffen (unter anderem Filmförderung und Supervision von Projekten), das Institut für drei Monate wegen angeblicher „administrativer Umstrukturierungen“ zu schließen und das Cine Gaumont dichtzumachen – das einzige Kino in Buenos Aires, das ausschließlich argentinische Produktionen zeigt. Kurz: Die heimische Filmindustrie wird lahmgelegt.
Kultur ist sowieso kein Thema, zu dem sich Milei häufiger äußern würde. Im ultraliberalen Land seiner Träume ist sie nichts als eine unnötige Last, ein Hort bodenloser Verschwendung, politisch verantwortungslosen Handelns und der Korruption – all dessen, womit er jede öffentliche Institution gern gleichsetzt. Jemandem, der geradezu besessen ist von einem ausgeglichenen Finanzhaushalt, von Ausgabenkürzungen und der Kappung der Geldemission, kann Kultur nur als Problem erscheinen, noch dazu als ein besonders desaströses: Kultur verlangt Geld, das sie nicht in jedem Fall oder nicht rechtzeitig oder auf nicht unmittelbar geldwerte Art zurückzahlt.
Das erschwert die Berechnung ihres Nutzens und verkompliziert ihr Verhältnis zum Markt – und der ist die einzige Gottheit, der Milei zu huldigen bereit ist. Obwohl die Kultur 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, verträgt sie sich eher schlecht mit jener Formel, die nach Milei das Geheimnis eines funktionierenden Markts enthält: „Das beste Produkt zum bestmöglichen Preis.“ Vor ein paar Wochen, bei einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen sich Milei herabließ, sich zu einem kulturellen Thema zu äußern, stellte er die rhetorische Frage: „Warum sollten mit öffentlichen Mitteln Filme finanziert werden, die niemand sehen will?“
Die Argumentation ist nicht neu; damit bestritt er schon seine Wahlkampfreden, in denen er der entsetzlich verarmten Wählerschaft die vermeintlich Schuldigen an ihrem Elend präsentierte: die Eliten – ein teuflischer Joker und die ideale Zielscheibe des Hasses, die politische Klasse („die Kaste“), die Lehrkräfte, die streiken und den Kindern ihren Unterricht vorenthalten, die mit Stipendien gemästeten Wissenschaftler, die „Dinge erforschen, die keinen interessieren“, und zum wiederholten Mal die Filmemacher, die nicht „das beste Produkt zum bestmöglichen Preis“ liefern (aber die Filme drehen, die dem argentinischen Kino seit 30 Jahren weltweite Aufmerksamkeit bescheren).
Allein das Argument mit den öffentlich finanzierten Filmen ist falsch und verlogen, weil sie weder mit dem Geld der Steuerzahler noch mit staatlicher Unterstützung gedreht werden, sondern mit den vom Filmförderungsfonds (Fondo de Fomento Cinematográfico, FFC) bereitgestellten Eigenmitteln2, die dem Filminstitut INCAA zufließen. Damit ist es eine seit über 25 Jahren autarke Institution – und genau diese Eigenfinanzierung will Mileis Gesetz beseitigen.
Das Gleiche gilt für den Nationalen Kunstfonds, einer weiteren angeblich parasitären Institution. Das Argument ist falsch und verlogen, weil es so tut, als ginge es um ein buchhalterisches Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben, zwischen Investition und Ertrag, während es in Wirklichkeit um eine politische Entscheidung geht.
Denn das Problem, das Milei mit der Kultur hat, ist kein ökonomisches, sondern ein politisches. Und was ich über die Kultur gesagt habe und sagen werde, trifft genauso auf das staatliche Bildungswesen zu – für Milei auch so ein satanisches Monster, dem er mit der Kettensäge beikommen will, indem er 2024 dafür dasselbe Budget veranschlagt wie 2023, als wäre die Inflationsrate von jährlich 289 Prozent eine Fata Morgana.
Im Großen und Ganzen kann die argentinische Kultur als „progressiv“ bezeichnet werden – das mag eine unscharfe, manchmal widersprüchliche Bezeichnung sein, die aber doch einen mehr oder weniger stabilen Konsens bezüglich gewisser Vereinbarungen, Werte, Errungenschaften und roter Linien beschreibt. In den 40 Jahren, die das Land ohne Militärputsch existiert hat, ist dieser Konsens quasi zum demokratischen Sediment geworden.
Man wird erst noch sehen, welche Teile der 56 Prozent, die Milei gewählt haben, dieses Sediment für existenziell erachten, warum sie mit seiner Wahl beschlossen haben, darauf zu verzichten, und warum jene, die diesen Konsens als Fahne vor sich hertrugen, so kläglich gescheitert sind.
Als im Januar die Kulturschaffenden gegen den Milei-Plan auf die Straße gingen, als sie eine Menschenkette um die Gebäude des FNA und des INCAA bildeten, als sie Protestmärsche organisierten, sich massenhaft in den Medien zu Wort meldeten, um das wirkliche Verhältnis zwischen Kultur und öffentlichen Geldern zu erklären, da verteidigten sie zwar naturgemäß eigene Interessen, aber sie handelten auch im Namen jenes Konsenses, der zumindest bis zu Mileis Amtsantritt in der Praxis als Synonym für das politische Zusammenleben galt.
Es ist dieser synonyme Zusammenhang, den Milei nicht erträgt, den er untergraben und aufbrechen, wirtschaftlich und juristisch ersticken, durch politische Missachtung, Feindseligkeit und falsche Anschuldigungen aushebeln will. Mileis Vizepräsidentin ist in dieser Hinsicht sogar noch radikaler: Victoria Villarruel ist in einer Familie hochrangiger Militärs aufgewachsen; die 49-jährige Juristin vertritt eine geschichtsrevisionistische Haltung, die den Staatsterrorismus der Militärdiktatur leugnet und die rechtmäßige Verurteilung und Inhaftierung der Massenmörder offen infrage stellt. Niemand ist in den vergangenen 40 Jahren Demokratie je so weit gegangen.
In der Menschenrechtspolitik – dem berühmten Nunca Más (Nie Wieder), Säule des progressiv demokratischen Konsenses – hat es immer Richtungskämpfe und Spannungen gegeben, aber nie hat jemand von der Spitze der Macht herab versucht, die Verbrechen der Vergangenheit zu leugnen und revisionistisch umzuschreiben. Darin aber – viel mehr als in der Sparpolitik in der Tradition der Militärdiktatur und der Regierungen Menem und Cavallo in den 1990er Jahren – liegt die eigentliche Originalität der Regierung Milei; das ist die kulturpolitische Front, an der er angreift.
Bis jetzt haben selbst rechte Regierungen sich davor gehütet, die Auseinandersetzung auf diesen Bereich auszuweiten. Milei dagegen geht auf alles los: die 1970er Jahre, die Menschenrechte, das staatliche Bildungswesen, das Umweltbewusstsein, das Gesetz über Abtreibung, die gleichgeschlechtliche Ehe, das – voraussichtlich bald nicht mehr existierende – staatliche Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (Inadi) oder die inklusive Sprache, die in der öffentlichen Verwaltung schon verboten ist.
Tatsächlich ist die Kettensäge, das Emblem von Mileis Wahlkampagne, mehr als nur ein waghalsiges Logo, das auf ideale Weise das ultraliberale Berserkertum des Präsidenten im ruppigen Kontext der sozialen Netze zu profilieren vermag. Die Kettensäge ist das Splatter-Emblem für Kürzungen, einschneidende Maßnahmen, Stellenabbau, Strukturanpassung („alles abschaffen, was keinen Mehrwert für alle Argentinier erzielt“, wie es vor ein paar Wochen der Regierungssprecher auf den Punkt brachte); sie illustriert aber auch die fanatische Blutrünstigkeit, die Mileis kulturideologischen Kreuzzug antreibt. Dessen Ziele werden in den Reden des Präsidenten mit einer Rhetorik benannt, die das Land seit den Zeiten von Videlas Militärjunta (1976–1983) nicht mehr gehört hat.
Die Kettensäge, die so gnadenlos mit den Staatsausgaben ist, wird es genauso mit den Zurdos („Linkshändern“) sein, eine Bezeichnung, unter der Milei und sein Umfeld im Rückgriff auf rechtsextreme Traditionen ihre Feinde subsumieren: Kommunisten, Peronistinnen, Populisten, Sozialisten, Etatisten, Gewerkschaftler, softe Liberale, Befürworter des Wohlfahrtsstaats, Keynesianerinnen, Christsoziale, Lesbomarxistinnen (sic!), Feministinnen, Abtreibungsbefürworterinnen, aktivistische LGBTIQA+, Sozialreformer … Mit anderen Worten: alles, was nicht jenem Anarchokapitalismus huldigt, dessen oberster Repräsentant Milei ist – seiner Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos zufolge, wo er die Mächtigen dieser Welt rügte, sie würden ihre Hausaufgaben nicht anständig machen. Er jedenfalls sei der Einzige, der der großen Herausforderung unserer Zeit gewachsen ist: der Vernichtung der roten Gefahr. Schwer zu sagen, ob ihm das gelingen wird; vielleicht trägt er auch nur zu ihrer Wiederauferstehung bei.
Wenn es so etwas gibt wie eine Milei-Kultur – eine, die alle seine Anhänger teilen, angefangen bei den pickligen Teenagern, die seine Wutorgien auf Tiktok feiern, über humorlose katholische Strafrechtler mit vornehmen Nachnamen und Maßanzügen bis hin zu Managern, die Hemmnisse und Regulierungen satthaben, und den Nostalgikern von Ordnung, Fortschritt und harter Hand, die von Frauen am Herd und Hauswänden ohne politische Parolen träumen –, dann wäre das ihre DNA: der antikommunistische Messianismus. Eine Art blinder McCarthy-Furor mit biblischem Einschlag („Über den Sieg entscheiden nicht die Mengen an Soldaten, sondern die himmlischen Mächte“), lupenreine Hater-Mentalität, die hinter allem die Agenten des „Kollektivismus“ wittern und jeden Einwand gegen ihr Credo, ihre Methoden, ihr nationalstaatliches Ideal als Mano Negra („Schwarze Hand“) des roten Schreckgespensts denunzieren.
Mit der Wahl der Kettensäge und der dazugehörigen Slasher-Fantasien als ikonografisches Fetisch seiner Wahlkampagne kokettierte Milei mit dem antikommunistischen Zeitgeist der 1950er Jahre in den USA, wo ebenfalls ein B-Movie-Genre, nämlich SciFi-Trash, verwendet wurde, um die rote Gefahr als blobs, body snatcher und ähnliche teuflische Außerirdische zu metaphorisieren. Nur dass die Fünfziger in den USA in der Grundstimmung paranoid waren; ihre im Passiv verfassten Drehbücher fantasierten davon, erobert und besessen zu werden.
Seit dem 10. Dezember vergangenen Jahres, als Milei an die Macht gelangte, ist der argentinische Zeitgeist dagegen ein sadistischer. Er verherrlicht die Brutalität, verachtet Vermittlungslösungen, verabscheut Vereinbarungen und Verhandlungen. Es spricht die ungeschminkte – manchmal militärische, manchmal medizinische – Sprache erbarmungsloser, finaler Lösungen. Abtrennen, amputieren, beschneiden, entfernen, vernichten, ausmerzen, und das im Namen der höheren Mission: des Neuanfangs bei null, mit einer Vision für die Zukunft, das schon, aber einer, die große Ähnlichkeit mit dem 19. Jahrhundert hat, als Argentinien noch glücklich war, weil es die Welt mit Getreide versorgte und von dreisprachigen Caballeros regiert wurde, als man noch nicht von Immigranten überschwemmt war, man Indianer mit seiner Remington abknallen und sich nicht im Traum den Niedergang vorstellen konnte, der das Land im 20. Jahrhundert ereilen sollte, dem roten Jahrhundert, dem Jahrhundert des Staats, allgemeiner Wahlen und sozialer Rechte.
Es gibt tatsächlich eine Milei’sche Utopie, die Retro-Utopie eines Landes von wenigen für wenige; mit anderen Worten: das einer Dystopie ähnlichste, das die heutige Welt zu bieten hat.
1 Vgl. Anne-Dominique Correa, „Präsident Milei und seine tausend Gesetze“, LMd, Februar 2024.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Alan Pauls ist Schriftsteller. Auf Deutsch erschien zuletzt der Roman „Geschichte des Geldes“, übersetzt von Christian Hansen, Stuttgart (Klett-Cotta) 2016.