Merlieux-et-Fouquerolles
Feldforschung zu Wahlkampfzeiten in der französischen Provinz von Julien Brygo
Hinter Anizy-le-Château geht es auf der Nationalstraße 2 nach links. Kriegerdenkmal, Kartoffeln, Weizen, Zuckerrüben. Wir sind da. Adrette Häuschen in Reihe, unterbrochen von großen Steinhäusern. Merlieux-et-Fouquerolles („Amsel und Farn“) liegt im Département Aisne in der Picardie, nordöstlich von Paris. Es ist ein Dorf wie tausende andere in Frankreich. Es gibt keine Bar, keine Post, keinen Treffpunkt. Nur eine Schule, die wie alle Dorfschulen von der Schließung bedroht ist. Jede Familie besitzt mindestens ein Auto. Die nächste Kneipe ist fünf Kilometer entfernt.1
Bei der Volkszählung 2008 wurden 260 Einwohner in 101 Haushalten gezählt. Zahl der in Merlieux Geborenen: laut Bürgermeister drei. 17 Einwohner sind zwischen 15 und 29 Jahre alt, 30 zwischen 30 und 44, 37 sind unter 14. 10,2 Prozent der Bevölkerung sind über 60. Anteil der Nichterwerbstätigen: 22 Prozent (Studenten, Praktikanten, Rentner). Die Arbeitslosenrate liegt bei 10,6 Prozent, 1,6 Prozentpunkte mehr als 1999.
Wichtigster Arbeitgeber ist der Dachverband der Umweltorganisationen, das Centre permanent d’initiatives pour l’environnement (CPIE), das je nach Saison zwischen 30 und 45 Mitarbeiter beschäftigt, gefolgt vom regionalen Naturschutzverein Conservatoire d’espaces naturels de Picardie (10 Beschäftigte) und der Kommune (5 Angestellte). Die nächstgelegene Fabrik ist das Aluminiumwerk Hydro im sieben Kilometer entfernten Pinon (90 Mitarbeiter). Größter privater Arbeitgeber ist die Baufirma Société anizienne de construction (SAC), fünf Kilometer weiter: über 300 Bauarbeiter, aber keine Gewerkschaft.
„ ‚Es herrscht Krieg – für uns ist es ein Kettensägenmassaker‘, sagt Jean-François Copé, der Generalsekretär von Präsident Sarkozys Union pour un mouvement populaire (UMP), der sich darüber freut, wie seine Mannschaft François Hollandes Vorschläge abschmettert.“ L’Union, 12. Januar 2012
Krieg. Der einzige, der zählt, ist der von 1914 bis 1918. Hier in der picardischen Steppe, nicht weit von Craonne, ist noch hundert Jahre danach die Landschaft von diesem Krieg geprägt: Militärfriedhöfe, so weit das Auge reicht, Festungskirchen und in unmittelbarer Nähe der damals stark umkämpfte Höhenzug Chemin des Dames. Politik ist eine Sache, der man zu misstrauen hat. Ebenso wie Ausländern, Uniformen und Volksvertretern.
„Die Präsidentschaftswahl wird von den Medien gemacht“, sagt Landwirt Gilles Pasquier aus dem Nachbardorf. „Die Politiker interessieren sich nicht für uns“, sagt Delphine Choquart, die Tagesmutter, die einen Euro pro Stunde bekommt und sich mit Näharbeiten etwas dazuverdient.
Heute wehren sie sich in Merlieux gegen die Schließung ihrer Dorfschule. Die Mittelschicht bekämpft die Armut und die Unterschicht die Stigmatisierung durch die Armut. In diesem Dorf, wo man traditionell links wählt, erregt die Präsidentschaftswahl nur mäßiges Interesse. Die politisch Interessierten beharren auf ihren Standpunkten, und die Unpolitischen (die es geworden sind oder schon immer waren) machen entweder um alle Debatten einen Bogen oder betrachten das Ganze als Show.
Im Dorf kommentiert man nicht, was dieser oder jener Politiker getan oder nicht getan hat. Doch wenn es um die Schule geht, um Sanierungsarbeiten oder auch nur um die Fernsehsendung vom Vorabend, spürt man zwischen den Zeilen ein Misstrauen, das nicht unbedingt ein Zeichen für Politikverdrossenheit ist. Es wirkt eher wie eine Abwehrhaltung gegenüber den „Lügen“ der Politiker, denen man vorwirft, nur für ihr „eigenes Interesse“ zu arbeiten. „Wenn sich alle um denselben Platz prügeln, dann muss da auch was zu holen sein“, sagt etwa Olivier Clermont, der parteilose Bürgermeister von Merlieux, der seit 2001 im Amt ist.
„Ein Jahr nach Übernahme des Parteivorsitzes macht sich laut Meinungsforschungsinstitut TNS Sofres der ‚Marine-Le-Pen-Effekt‘ bemerkbar. […] 31 Prozent geben an, ‚einverstanden mit den Positionen des Front National‘ zu sein, im Januar 2011 waren es noch 22 Prozent.“ Le Monde, 12. Januar 2012
Amélie Deneuville hat heute keinen guten Tag, gerade hat sie mit ihrem Mann gestritten. Die junge Frau putzt in der Dorfschule und im Rathaus. Auf dem Kiesplatz gegenüber der Schule unterhält sie sich mit Sylviane Gatteau, der stellvertretenden Bürgermeisterin, und der Gemeindeangestellten Céline Gakisa. „Ich weiß nicht, wen ich wählen soll“, sagt Céline Gakisa, der die Mütze wie angewachsen auf dem Kopf sitzt. Die Zigarette, die ihr aus dem Mundwinkel ragt, wippt beim Reden auf und ab. „Meine Oma hat immer gesagt: ‚Die Linke, das sind die Arbeiter und die Armen; die Rechte, das sind die Reichen. Lass dich bloß nicht täuschen!‘ “
„Und du, Amélie, weißt du schon, wen du wählst?“, fragt Sylviane Gatteau. „Ach nee, diese blöde Politik …“ „Aber du gehst doch trotzdem wählen, oder etwa nicht?“ „Na klar, ich erfüll schon meine Bürgerpflicht. Mal sehen, was es wird.“ „Bist du arm oder reich?“ „Arm natürlich! Mein Vertrag ist doch nur befristet, in zwei Monaten ist Schluss, und dann bin ich wieder arbeitslos.“ Céline Gakisa wählt auf alle Fälle die Sozialisten, wie es ihr die Großmutter gesagt hat. Viele im Dorf wählen links. Aber vor allem will sie, dass man „die rankriegt, die von der Stütze leben und auf der faulen Haut liegen“. „Aber du weißt doch, dass sie keine Arbeit finden“, entgegnet die stellvertretende Bürgermeisterin. „Ich würde ihnen schon Arbeit geben!“, widerspricht Céline prompt. „Wenn ich Ministerin wäre, würden die ganzen Sozialhilfeempfänger auch einen Job bekommen … in Krankenhäusern, Schulen oder bei den Gemeinden.“
„Das hört man hier oft“, erzählt Sylviane Gatteau. „Die Wut richtet sich vor allem gegen kinderreiche Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die geringfügig und prekär Beschäftigten, die morgens früh losmüssen, haben eine mächtige Wut im Bauch. Ein idealer Nährboden für den Front National. Die Partei hat hier in den letzten Jahren stark zugelegt. Das wäre früher undenkbar gewesen.“ Auch würden sich die Leute immer mehr zurückziehen. Als im Winter vor zwei Jahren das letzte Mal Schnee lag, war ihr zum Beispiel aufgefallen, dass es kaum Schneemänner gab. Die meisten würden nur noch zu Hause vor dem Computer oder Fernseher hocken.
Aber wo sollte man sich hier auch begegnen? Die Kneipen sind geschlossen. Das Bürgeramt hat zweimal in der Woche Sprechstunde. Eltern treffen sich am Schulbus oder in der kleinen Dorfschule. Nur die Kinder bringen Leben ins Dorf, wenn sie morgens, mittags und am Nachmittag nach Schulschluss lachend durch die Straßen toben. Ansonsten gibt es noch das Umweltbüro und vier Bibliotheken, von denen zwei auf Umweltthemen spezialisiert sind. Letztere werden nur von auswärtigen Besuchern benutzt, und die beiden anderen Büchereien, die ehrenamtlich betreut werden, haben nur selten geöffnet.
Immerhin hat kürzlich ein Restaurant (mit Pension) aufgemacht. Im La Renaissance geht aber niemand aus dem Dorf essen. Die Besitzerin Jackie Deschamps hat früher im Pariser Moulin Rouge getanzt, jetzt serviert sie im Pfauenfederkostüm Menüs zu 28 Euro. Man erwartet hier wohl eher Gäste auf der Durchreise aus Paris und der Île-de-France.
Hundebesitzer treffen sich beim Gassigehen. Für die älteren Mitbürger gibt es einen Mittagstisch, die anderen könnten sich im sechs Kilometer entfernten Anizy über den Weg laufen: Im Supermarkt Carrefour, beim Fest der Musikschule oder auf dem Markt von Anizy, der im Winter aus drei Ständen besteht: Chicorée, Kartoffeln, Zuckerrüben, Honig. Im Alltag begegnet man sich eher selten. Der mobile Bäcker aus Anizy kommt nicht durch Merlieux, auch der Fischhändler nicht.
„Früher haben wir immer das Mittsommerfest gefeiert, mit Johannisfeuer und gigantischen Omelettes, dann gab es noch die Musikkneipe Le Loup Noir, wo alle hingegangen sind, die neu im Dorf waren, oder wir haben uns zum Ball im Gemeindesaal getroffen. Aber das ist alles lange her und vorbei“, erzählt die Landwirtschaftsberaterin Annick Geoffroy, die seit elf Jahren in Merlieux lebt.
„Standard & Poor’s hat Frankreich die Bestnote ‚AAA‘ entzogen, ein harter Schlag für Präsident Sarkozy, der ihn in einem denkbar ungünstigen Moment trifft, 100 Tage vor der Präsidentschaftswahl. ‚Das ist keine gute Nachricht‘, aber es ist ‚keine Katastrophe‘, bemüht sich Wirtschaftsminister François Baroin, das Ergebnis zu relativieren.“ L’Union, 14. Januar 2012
Eine dünne Raureifschicht liegt auf den Feldern und Sträuchern an den Weilern rund um Merlieux. Vor dem Rathaus fallen die Stichworte „Europäische Zentralbank“, „Zinsen“ und „Rekordgewinne der Aktionäre“. Es ist zehn nach zehn. Die Tiraden über die Ratingagenturen dauern aber nicht lange an. Ein anderes Thema ist viel wichtiger: Das Holzungsrecht, nach dem traditionell die Parzellen des Gemeindewalds verteilt werden (zehn Ster, also etwa zehn Kubikmeter Holz pro Einwohner). Seit der letzten Auseinandersetzung vor ein paar Jahren wird die Verteilung der Parzellen per Losverfahren entschieden. „Wir wollen, dass das Holz billig bleibt“, erklärt der Bürgermeister. „7 Euro pro Ster [zwischen 55 und 100 Euro zahlt man dafür im Handel]. Über den Preis stimmt der Gemeinderat ab.“
Der pensionierte Postler und Gewerkschafter Jean-Pierre Ranvier kommt zurück auf die große Politik. Der Präsidentschaftswahlkampf, meint er, sei doch die Gelegenheit „für einen großen Befreiungsschlag“, denn „wir befinden uns in einer revolutionären Situation. Der Einzige, der das Zeug dazu hat, ist der Sozialist Mélenchon von der Linksfront [Front de Gauche].“ Vor dem Rathaus wird jetzt eingeparkt. Es beginnt die Auswertung der Lose.
Das Losverfahren scheint gerecht zu sein. Trotzdem fühlen sich einige benachteiligt, weil ihre Parzelle zu klein, schlecht gelegen oder zu weit von ihrem Wohnort entfernt sei. Der Bürgermeister versucht die Unzufriedenen zu besänftigen: „Regt euch nicht auf. Es bringt auch nichts, sich hier gegenseitig anzuschreien. Das lässt sich später noch klären.“ Jean-Pierre Ranvier findet das Losverfahren sowieso nicht gut: „Ein Armutszeugnis für die Politik. So wird doch nur verhindert, dass die Leute miteinander reden, sich einigen müssen und gemeinsam entscheiden.“
Für Bürgermeister Clermont ist „Politik machen“ gleichbedeutend mit „Geschäftsführung“: Soll, Haben, keine Schulden. „Ich bin da ganz klar, ich leite mein Amt wie meinen Hof. Man lebt von dem, was man hat, und nicht über seine Verhältnisse.“ Im Gegensatz zu den „Politikern“, die „schöne Autos fahren und sich auf Kosten der Allgemeinheit vergnügen“, verkörpert er das Musterbeispiel des Volksvertreters: bescheidenes Gehalt (530 Euro) und voller Einsatz. „Im Übrigen hat man mich ins Amt geholt“, erklärt er. Dabei macht er ganz den Eindruck, als würde ihm die Aufgabe gefallen.
2007 hat Merlieux mehrheitlich links gewählt. Die Kandidatin der Sozialisten Ségolène Royal bekam im ersten Wahlgang 46 Stimmen (30,07 Prozent), während auf Nicolas Sarkozy 29 (18,95 Prozent) und auf Jean-Marie Le Pen 20 Stimmen (13,07 Prozent) entfielen. Im zweiten Wahlgang erhielt Royal 61,07 Prozent der abgegebenen Stimmen, 14 mehr als im landesweiten Durchschnitt. Es gab nur sechs Nichtwähler in Merlieux. Bei den Kantonalwahlen von 2011 lag die Beteiligung in der zweiten Runde nur bei 44,71 Prozent. Der linke Kandidat Daniel Counot wurde mit 65,8 Prozent gewählt, der Kandidat vom Front National dagegen erhielt 34,2 Prozent (26 Stimmen). Die Linke und der Front National spielen also eine wichtige Rolle. Beim Referendum über die Europäische Verfassung stimmten 2005 übrigens 71,6 Prozent der Wähler in Merlieux mit Nein.
In den 1970er und 1980er Jahren gehörte Merlieux zur politischen Avantgarde. Auf Initiative des kommunistischen Bürgermeisters Roland Durand, der 38 Jahre lang – von 1945 bis 1983 – der erste Mann im Dorf war, und seines Nachfolgers Daniel Corcy (1983–2001), eines Linkssozialisten, wurde eine kommunale Trinkwasserversorgung ins Leben gerufen, die immer noch besteht und sich aus zwei Quellen oberhalb des Dorfs speist. Die Bewohner von Merlieux zahlen für ihr Wasser bis zu 85 Prozent weniger als die Nachbardörfer, deren Versorgung in der Hand von Privatunternehmen liegt. Anfangs haben die Bürger das Wasser im Schichtbetrieb noch selbst desinfiziert, mittlerweile erledigt das eine Aufbereitungsanlage. Damals wurde in dem 170-Seelen-Dorf eine selbstverwaltete Wohnanlage und eine Siedlung mit Sozialwohnungen errichtet. Die Dorfbewohner bauten außerdem gemeinsam eine Schule, die 1988 eröffnet wurde. Aus dieser Zeit stammt auch das Bücherfest, das im September 2012 sein zwanzigjähriges Jubiläum feiert.
Von dieser Ära des Kollektivs ist nicht mehr viel übrig geblieben. In Merlieux erinnert man sich daran wie an eine glorreiche Epoche, als „die Leute noch miteinander sprachen“, „sich kannten“ und „gemeinsam angepackt haben“. „In den 90ern gab es in Merlieux zeitweise drei kommunale Nachrichtenblätter, die wöchentlich erschienen sind. Das ist vorbei“, erzählt der ehemalige Erzieher Dominique Lestrat, der eine turbulente politische Vergangenheit hat. 1973 gründete der Anarchist mit Gleichgesinnten in Merlieux eine Bürgerinitiative, die darauf aufpasst, dass sich die Gemeindevertreter an ihre Abmachungen halten und im Interesse der Allgemeinheit handeln. Auf Betreiben der Initiative sind seit Beginn der 1980er Jahre alle Sitzungen der Gemeindeausschüsse öffentlich.
Nicolas Sarkozy hat zum Krisengipfel eingeladen. „Die Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände fanden sich nach und nach im Élysée-Palast ein, die meisten ohne einen Kommentar abzugeben.“ L’Union, 18. Januar 2012
Weil es kein Café gibt, trifft man sich zu Hause. Am Mittwochnachmittag zum Beispiel besucht Andrée Mérault mit ihren beiden Töchtern die Nachbarin und Gemeinderätin Colette Dassigny. Man redet über das Wetter und, weil der Journalist dabei ist, über Politik. „Ich bin für Marine!“, bekennt Madame Dassigny. „Oh, ich ganz sicher nicht. Auf keinen Fall Front National!“, entgegnet Madame Mérault. „Die sind zu extremistisch!“ Schweigen. „Von den Reichen wird nicht genug genommen, und denen, die nichts tun, wird zu viel gegeben“, sagt die Gemeinderätin und blickt durchs Fenster auf den Hund des Nachbarn, der vor ihrem Haus herumschnüffelt. Sie fährt fort: „Ich habe 25 Jahre gearbeitet, aber mein Nachbar arbeitet gar nicht und kriegt doppelt so viel Geld wie ich. Ich zahle Steuern, hab keinen Anspruch auf Wohngeld und bekomme keinerlei Zuschüsse. Ich bezahle 548 Euro Miete, 115 Euro Gas, mir bleibt nichts zum Leben! Und die nebenan leben wie die Prinzen. Das ärgert mich!“ Genau genommen ist die Nachbarin, über die sie sich gerade aufregt, Hausfrau, und ihr Mann arbeitet Teilzeit.
Auf die Barrikaden für Le Pen
Colette Dassigny beschreibt sich als „Revolutionärin“, die bereit sei „auf die Barrikaden zu gehen“. Barrikaden? „Ja, gegen Sarkozy. Er hat uns angelogen, uns Arbeiter und kleine Leute, und er hat behauptet, er würde die Arbeit wieder aufwerten. Außerdem hat er uns bestohlen, den Reichen noch mehr gegeben und von den Armen noch mehr genommen.“ Stagnierende Renten, nicht gehaltene Versprechen, der „Verrat“ von François Mitterand und die „Laschheit“ der sozialistischen Linken – Frau Dassigny hat sich entschieden: „Ich sehe keine Alternative zu Marine Le Pen.“
Auf dem Union-Titel vom 23. Januar wird Hollandes erster großer Wahlkampfauftritt kommentiert: „Hollande greift die Privilegien an. Betrachtet man es als Examen, so kann man sagen, dass es François Hollande gestern in Bourget gelungen ist, seine Zuhörer zu verführen. Ein gutes Omen für den Kandidaten der Sozialisten.“
Es ist 18 Uhr. Die stellvertretende Bürgermeisterin Madame Gatteau, leidenschaftliche Sozialistin seit 30 Jahren, kommt gerade aus dem Büro. Auf ihre Frage vom Morgen hat sie immer noch keine Antwort gefunden: Warum war die Lokalzeitung L‘Union, die sie wegen ihrer reißerischen Titelseite für ein „rechtes Blatt“ hält, so voller Lob für die erste Wahlveranstaltung von Hollande? „Das verstehe ich wirklich nicht.“
In Merlieux scheiterte das kommunale Experiment auch an einem Streit, der sich über vier Jahre hinzog und das Dorf am Ende in zwei Lager spaltete. Der Zankapfel war das Café Le Loup Noir, das von Dominique Lestrats Anarchistengruppe Moulin de Paris gegründet worden war. Die damaligen Betreiber zeigten ein großes Geschick darin, öffentliche Gelder einzuwerben, insgesamt kamen 6 Millionen Francs zusammen. Das Café, in dem auch Vorträge und Konzerte stattfanden, lief so gut, dass sich der damalige Bürgermeister Daniel Corcy dafür zu interessieren begann. Er träumte davon, wieder eine richtige Bar in Merlieux zu eröffnen. Zum Schein ließ er seine Kinder Lestrats Gruppe beitreten, um diese anschließend als „Hort anarchistischer Propaganda“ denunzieren zu lassen. Mit Unterstützung des örtlichen Abgeordneten versuchte er daraufhin die Leitung des Cafés an sich zu reißen. Die Spuren dieser Auseinandersetzung sind noch heute sichtbar: „Das Le Loup Noir wird leben“, steht noch zehn Jahre danach an den Mauerwänden. „Es gab auch zerstochene Reifen“, erinnert sich der jetzige Bürgermeister Clermont, dem diese „schreckliche“ Zeit immer noch in den Knochen steckt. Daniel Corcy hat sich völlig aus dem Gemeindeleben zurückgezogen und aus dem Le Loup Noir wurde das Restaurant La Renaissance.
„Vor Kurzem gab es dann noch die Sache mit den Hütten“, erzählt Bürgermeister Clermont. Der pensionierte Lehrer Philippe Capliez hatte auf seinem Waldstück zwei Hütten errichtet und über das Internet zur Vermietung angeboten. Der Bürgermeister holte daraufhin Erkundigungen ein, ob die Sache auch rechtens sei. Es stellte sich heraus, dass bestimmte Sicherheitsauflagen nicht erfüllt waren. Die kommerzielle Nutzung wurde nicht genehmigt, und Capliez wurde aufgefordert, seine Hütten wieder abzubauen. Außerdem sollte er 130 Euro Strafe zahlen. Der Bürgermeister wollte sogar einen Prozess anstrengen. Man muss dazu sagen, dass Capliez 2008 bei den Gemeindewahlen gegen Bürgermeister Clermont kandidiert hatte. Nun hat sich auch Capliez, der früher den Verein der Freunde des Buchfests geleitet hat, aus dem Gemeindeleben zurückgezogen.
Auch das ist Politik. Aber weder Le Nouvel Observateur noch Le Point oder L’Union verlieren ein Wort darüber, es sei denn, sie können es mit dem Duell Sarkozy – Hollande in Verbindung bringen. Als wären es zwei Welten: die abgehobene Welt der politischen Klasse, über die die Medien viele Geschichten erzählen, und die Welt der kleinen Gemeinden. Die erste hat die zweite so lange ignoriert, dass das Desinteresse inzwischen auf Gegenseitigkeit beruht.
Gilles Pasquier, der letzte Landwirt von Lizy, zwei Kilometer westlich von Merlieux, zeigt uns seinen Stall. Die hundert Tiere – Milchkühe und Schlachtvieh – füttert er mit dem Getreide, das auf seinen 150 Hektar großen Ländereien wächst. „Privilegierte, Besserverdiener, Umweltverschmutzer, Kapitalisten. So werden wir wahrgenommen. Der Zeitgeist ist gegen uns. Natürlich hab ich, wie schon mein Vater und die meisten Bauern, immer rechts gewählt, aber wissen Sie, ich arbeite elf bis zwölf Stunden am Tag, ohne Gehalt. Würde es nicht die Subventionen von der EU geben, könnte ich gleich dichtmachen. Wir können für unsere Produkte gar nicht den wahren Preis verlangen. Die europäische und globale Konkurrenz ist zu stark. Was soll man dagegen machen?“ Auch er, ein zäher Kerl, hasst die Politikerkaste und diese „Anspruchshaltung“. Die Reichen, das sind für ihn die Leute, die ihr Kapital geschickt angelegt haben. Die Armen dagegen bedienten sich einfach beim großen Kuchen.
Im Wettbüro Chez Jackie in Anizy-le-Château, noch zwei Kilometer weiter, werden Rubbellose verkauft, oder man setzt auf Rapido, Bingo, Pferdewetten oder Lottoscheine. Es ist halb sieben Uhr abends. Ludovic Dupres, Zeitarbeiter in der Aluminiumfabrik Hydro, und seine Verlobte Adèle Prevot, die arbeitslos ist, stehen seit sechs Stunden am Tresen, trinken Bier und spielen Dart. Manchmal parkt das Paar sein funkelnagelneues Auto ein paar Meter weiter vor der nächsten Bar. Am Abend wollen sie ein Fest in ihrer Neubauwohnung geben. Auch wir sind eingeladen.
Aber vorher möchte sich Ludovic noch ein letztes Feierabendbier genehmigen. Er betrachtet sich „als Teil der Arbeiterklasse“ und erzählt von seinem sozialistischen Großvater, der „immer links gewählt hat“. „Aber die Partei hat es ihm nie gedankt“, fährt er fort. „Eines Tages hat er sich dann bei den Rechten umgeschaut, damit ich endlich Arbeit finde. Da rief mich doch tatsächlich die Sekretärin von Xavier Bertrand an, ist doch klar, dass ich wieder Sarkozy wählen werde.“ Vom anderen Ende des Tisches ruft uns eine Frau zu: „Über uns schreibt ihr doch bestimmt nichts. Für uns interessiert sich doch kein Schwein. Wir haben ein Scheißleben, eine Scheißarbeit, Scheißverträge. Befristete Jobs, ABM, Arbeitslosigkeit, und dann geht das Ganze wieder von vorn los. Allen geht es hier so. Die Kommunisten haben’s vermasselt, niemand ist mehr in der Gewerkschaft, die Politiker sind doch alles nur Penner. Und wir rackern uns ab.“
„Die Sozialisten, die sich am Dienstag bei der Abstimmung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus […] enthalten haben, stehen zwischen zwei Fronten. […] ‚Jeder Abgeordnete muss Stellung beziehen. Es geht nicht, dass man sich auf der Toilette oder sonst wo versteckt, wenn es um die Zukunft des Landes geht‘, sagte Jean-Luc Mélenchon. Premierminister Fillon bezeichnete die Enthaltung der Sozialisten hingegen als ‚historischen Fehler‘.“ L’Union, 23. Februar 2012
Dominique Lestrat, runde Brille, langer Bart, trägt ein Sweatshirt mit der Aufschrift „Weder Gott noch Meister“. Gerade verteilt er im Dorf Aufkleber „Lacht mit bei der Präsidentenwahl!“ Für ihn gibt es immer einen Anlass, Politik zu machen, auch über Merlieux hinaus. „Man muss die Grenzen des Dorfs überschreiten. Die Leute bewegen sich heute in Netzwerken. In die Bibliothek kommen sie aus allen Käffern der Umgebung, auch aus Laon, sogar aus Soissons. In unserer Kropotkin-Gruppe sind auch nicht alle aus demselben Dorf, und sie machen trotzdem zusammen Politik.“
Der 60-jährige Lestrat, Sohn einer Arbeiterin, die acht Kinder zur Welt brachte, sollte als junger Bursche ebenfalls Arbeiter werden: In der Reifenfabrik in Soissons. Er wollte aber lieber „Pauker werden“ und machte heimlich, ohne dass seine Mutter davon erfuhr, die Aufnahmeprüfung für das Lehrerseminar. Als er 18 war, beschloss Lestrat, „alle Werke über den Anarchismus“ zu sammeln – 8 854 Bände hat er bis jetzt beisammen.
Beim Vorbereitungstreffen für das Buchfest macht Marie Juille, Verwaltungsangestellte aus Laon, einen Vorschlag: „Warum gehen wir nicht zum Beispiel in die Supermärkte. Das sind doch die letzten Orte, wo sich die Leute noch begegnen! Wir könnten dort politische Texte verlesen. Was meint Ihr?“ Stille. „Äh, also hier ist eigentlich der Workshop zu Jugendliteratur.“