Der Herr Professor macht Politik
Portugals Regierung überlässt das Denken einer neoliberalen Fakultät von Owen Jones
Professor Ferreira Machado ist nicht nur Dekan der renommierten Nova School of Business and Economics in Lissabon (Faculdade de Economia da Universidade Nova de Lisboa, FEUNL). „Ein Anruf genügt, und ich bekomme einen Termin bei einem Minister, beim Ministerpräsidenten oder beim Staatspräsidenten“, sagt der Mann, der sich seiner Bedeutung durchaus bewusst zu sein scheint. Welchen Einfluss Machado und seine Hochschule haben, war schon im vergangenen September nachzulesen.
Auf dem Höhepunkt der portugiesischen Schuldenkrise stand in der Financial Times ein Bericht über den Besuch der Repräsentanten von EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) in Lissabon.1 Obwohl die Vertreter der „Troika“, die mit der portugiesischen Regierung das Rettungsprogramm über 78 Milliarden Euro auszuhandeln hatten, von den Journalisten auf Schritt und Tritt verfolgt wurden, waren sie eines Morgens verschwunden. Wie die Londoner Zeitung herausfand, hatten sie sich zu einem diskreten Frühstück mit wichtigen Mitgliedern der Nova School of Business and Economics getroffen. Professor Machado kann sich an dieses Arbeitsfrühstück gut erinnern: „Die waren sehr daran interessiert, unsere Ansichten zu hören.“
Atmosphärisch macht das Fakultätsgebäude mit seinen langen, verwinkelten Fluren und kahlen Wänden den Eindruck eines verlassenen Krankenhauses. Obwohl die FEUNL eine öffentlich finanzierte Universität ist, kassiert sie von jedem Bachelor-Kandidaten eine Studiengebühr von 900 Euro pro Jahr – eine stattliche Summe für ein Land, in dem der Mindestlohn bei monatlich 485 Euro liegt. Die Studenten kommen allerdings nicht nur aus Portugal. Der gute Ruf der Fakultät zieht Studierende aus über 30 Ländern an. Deren Master-Studiengang der Finanzwissenschaften wird im Ranking der Financial Times unter den 30 besten der Welt geführt.2 Wer den Nova-Master erworben hat, kann mit einem Gehalt rechnen, das im Durchschnitt das 15-Fache des portugiesischen Mindestlohns beträgt.
Ein anderes Mitglied der Fakultät war zu dem Troika-Frühstück nicht eingeladen. Luis Campos e Cunha, der 2005 einige Monate als Finanzminister der sozialdemokratischen Regierung von José Sócrates fungierte, hat dafür nur ein Achselzucken übrig: „Ich brauche kein Frühstück, um mir Gehör zu verschaffen.“ Er habe schließlich schon sehr früh für weniger Urlaubstage und täglich eine halbe Stunde mehr Arbeitszeit plädiert. Genau das hat die Regierung dann auch beschlossen, nachdem Campos e Cunha etliche Zeitungsartikel verfasst und sich in Interviews geäußert hatte. Auch im Parlament wurden seine Texte schon mehrfach zitiert, betont der Exfinanzminister.
Professor Machado sieht die Absolventen seiner FEUNL nicht als soziale, sondern als intellektuelle Elite, wie auch immer sich das auseinanderhalten lässt. Tatsache ist, dass die FEUNL als Sprungbrett für einige der einflussreichsten Politiker und Unternehmer des Landes diente. Der konservative Finanzminister Vítor Gaspar, der gegenwärtig für die Durchsetzung des Sparprogramms sorgt, ist ein Absolvent der Universidade Nova. Und die lädt regelmäßig Politiker zu Vorträgen und Symposien ein, wie etwa den Gesundheitsminister Paulo Macedo, der im Januar an einer Diskussion über die Zukunft des portugiesischen Gesundheitssystems teilnahm. Auch an der Spitze großer Unternehmen sind viele Nova-Absolventen anzutreffen. Zum Beispiel António Carrapatoso, Exvorstandschef von Vodafone Portugal und ein wichtiger Bundesgenosse des heutigen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho.
Portugal ist ein kleines Land, entsprechend übersichtlich ist die Elite. Die Schlüsselfiguren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kennen sich in der Regel persönlich. Zudem begünstigt die Verfassung des Landes den „Drehtüreffekt“. Ein Beispiel für dieses Hin- und Herwechseln zwischen Politik und Wirtschaft nennt der Soziologe Luís Macedo Pinto de Sousa, der den Kampf gegen die Korruption in seinem Land aufgenommen hat: „Die Minister vergeben viele öffentliche Aufträge an Unternehmen, für die sie eines Tages womöglich arbeiten werden.“
Laut portugiesischer Verfassung können Parlamentarier nicht zum Minister berufen werden. „Das bedeutet, dass viele Regierungsmitglieder aus der Privatwirtschaft kommen – was bei den meisten Ministern auch tatsächlich der Fall ist.“ Denen öffnet sich damit ein „goldenes Tor“ in eine gesicherte Zukunft nach ihrer Amtszeit.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum eine so eng vernetzte Elite, die durch ihr eingefleischtes Interesse an einer marktradikalen Wirtschaftspolitik zusammengeschweißt wird, für die Vorstellungen der Universiade Nova so empfänglich ist. Aber für den Einfluss der Nova-Leute gibt es einen weiteren Grund: Es fehlt an Institutionen, die politische Alternativen formulieren könnten. „In Portugal gibt es sehr wenige unabhängige Thinktanks“, erklärt Campos e Cunha, „diese Rolle wird daher großenteils von den Universitäten wahrgenommen.“ Unter diesen Umständen lassen sich auch die Spitzen der Sozialistischen Partei und der regierenden Sozialdemokraten immer wieder von den Ökonomen der Nova School of Business and Economics beraten.
Dieser Einfluss sei einzig und allein der objektiven Qualität ihrer Forschung zu verdanken – das behaupten zumindest die akademischen Koryphäen der Fakultät. Mit irgendwelchen Lobbyisten habe man nichts zu tun, betont Machado. Die Empfehlungen, die sie aussprechen, seien „informiert, aber unabhängig“ und ohne jedes „emotionale Engagement“.
Aber trotz des erklärten Anspruchs, über den gesellschaftlichen Konflikten zu schweben, verhehlt Machado nicht, dass an seiner Fakultät ein ideologischer Konsens herrscht. Es gebe eine weitgehend übereinstimmende „Sicht der Welt“, die davon ausgehe, „dass man die Produktivität erhöhen und den Marktkräften freien Lauf lassen muss“. Deshalb herrsche Einigkeit über die Reform des Arbeitsmarkts, über eine Verstärkung der Konkurrenz und über die Rolle des Staates. Kontroversen gebe es allerdings über ein kurzfristiges Aktionsprogramm. Aber auch da „gehen wir in dieselbe Richtung“.
Ob es unter den Lehrkräften an der Nova auch Keynesianer gebe, hatte ich zuvor den Exfinanzminister Campos e Cunha gefragt. Die Antwort war ein Auflachen. Die Nova-Ökonomen halten sich zugute, dass sie wichtige Ideen zum portugiesischen Rettungsprogramm beigesteuert haben: die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Kürzungen der Sozialausgaben und die Anhebung der Mehrwertsteuer.
Es sind dieselben Rezepte, die in Griechenland, Irland, Spanien und Italien zur Anwendung kamen und jetzt auch auf Frankreich ausgedehnt werden sollen. Vermutlich ging es den Experten der Troika im Falle Portugals wohl doch weniger um die Ratschläge der Nova-Leute als um die „heimische Legitimierung“ eines Sparprogramms, über das man in Brüssel und Frankfurt längst entschieden hatte.
Doch wo immer die Rezeptur erfunden wurde, den Portugiesen erscheint sie nicht besonders plausibel. Als die beiden großen Gewerkschaftsverbände am 24. November 2011 zum zweiten Generalstreik in der Geschichte des demokratischen Portugal aufriefen, waren vor dem Gebäude der Nationalversammlung Sprechchöre zu hören, die an die „Befreiung vom Faschismus“ erinnerten. An jenen 25. April 1974 also, an dem linke Offiziere das autoritäre Regime des Diktators António Salazar stürzten und damit die berühmte „Nelkenrevolution“ in Gang setzten.
Soll das alles heißen, dass die von den Nova-Ökonomen empfohlene Strategie mit der Demokratie unvereinbar ist? „Absolut. Das sage ich schon immer“, lautet die Antwort von Professor José Neves Adelino. Der Betriebswirtschaftler ist für das MBA-Programm (Master of Business Administration), den beliebtesten Studiengang an der FEUNL, verantwortlich und sitzt in den Vorstandsgremien mehrerer Unternehmen. Seiner Meinung waren die Maßnahmenpakete bisher so zugeschnitten, dass bestimmte Leute gewählt werden.
Als Beispiel führt er die Debatten über das Gesundheitssystem an: „Da hält man am Prinzip einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für alle fest. Aber damit häuft man Schulden in Höhe von 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an – und irgendwann ist das nicht mehr für alle zu gewährleisten.“
Was folgt daraus? „Demokratien begünstigen sehr einseitig den Status quo“, meint der Professor. Denn bei jeder Reform wisse man natürlich von vornherein, wer die Verlierer sind, nämlich ganz bestimmte Interessengruppen. Die Gewinner hingegen seien nicht so klar zu benennen: „Es sind die künftigen Generationen und die Gemeinschaft als ganze.“
Wie will Adelino dieses Dilemma lösen? „Wir hatten eine Oppositionsführerin, die viel Kritik einstecken musste, weil sie gesagt hatte: Könnten wir doch nur die Demokratie für sechs Monate aussetzen! Natürlich meinte sie das nicht wirklich, sie wollte nur auf die unvermeidliche Kollision zwischen den beiden Prinzipien verweisen. Sie wollte damit sagen, dass notwendige Reformen viel leichter durchzuführen wären, wenn wir die Demokratie vorübergehend in Klammern setzen könnten.“
Hoffnungsvoller ist Adelinos Kollege Nadim Habib, der den Studiengang Managerausbildung (Executive Education) leitet: „Wenn ich unsere jungen Studenten von 18 oder 19 Jahren sehe, bin ich recht optimistisch, was unsere Wirtschaft und ihre künftige Entwicklung betrifft. Schließlich wird vor allem diese Generation das Land verändern.“
Und wenn es nicht so schnell geht? „Dann verändern wir eben die nächste Generation“, meint Nadim Habib. Sein Dekan ist derselben Meinung. „Ich will weniger diese Regierung beeinflussen“, erklärt Professor Machado, „als vielmehr das Ohr der nächsten Generation von Entscheidungsträgern erreichen.“ Werden das noch gewählte Entscheidungsträger sein? Das weiß Machado nicht. Dass sie jedoch von der Universide Nova kommen werden, daran hat er keinen Zweifel.
Unterm Schirm
Portugal war das dritte EU-Land – nach Griechenland und Irland –, das ein milliardenschweres „Rettungsprogramm“ in Anspruch nehmen musste. Als Gegenleistung für die 78 Milliarden Euro, die vom EU-Krisenfonds ESFS und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bereitgestellt wurden, musste Lissabon zusagen, das Haushaltsdefizit des Jahres 2010 in Höhe von 9,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im ersten Schritt für 2011 auf 5,9 Prozent und bis Ende 2013 auf 3 Prozent des BIPs abzusenken. Um diese Einsparziele zu erreichen, musste sich Finanzminister Vítor Gaspar verpflichten, die öffentlichen Ausgaben bis 2015 um 7 Punkte auf 43,5 Prozent des BIPs zurückzufahren.
Im Dezember letzten Jahres begann die erste Welle des radikalsten Privatisierungsprogramms der portugiesischen Geschichte. Der Staat verkaufte einen 21-prozentigen Anteil am Energiekonzern Energias de Portugal (EDP) für 2,7 Milliarden Euro an die China Three Gorges Corporation (CTG).1 Noch in der ersten Hälfte dieses Jahres sollen die Flughafengesellschaft ANA und die staatliche Fluglinie TAP privatisiert werden, danach sind die Wasserwerke an der Reihe, dann der staatliche Rundfunksender RTP und die Eisenbahngesellschaft Comboios de Portugal (CP).
Während der Staat seine Beteiligungen abstößt, wird der Lebensstandard der Gruppen mit niedrigen und mittleren Einkommen durch Steuererhöhungen massiv abgesenkt. Die Mehrwertsteuer auf Strom und Gas stieg von 6 auf 23 Prozent; seit 2011 wird von allen Beschäftigten eine zusätzliche Einkommensteuer erhoben, die das Jahreseinkommen um einen halben Monatslohn reduziert. Wie in anderen Ländern Südeuropas verteilen sich in Portugal die Bezüge der öffentlichen Bediensteten auf 14 Monatslöhne; zwei davon büßen jetzt alle diejenigen ein, die monatlich mehr als 1 000 Euro verdienen. Für viele öffentlich Beschäftigte summieren sich diese Kürzungen auf ein Minus von 25 Prozent.2
Für die ständig wachsende Zahl der Arbeitslosen wird die staatliche Beihilfe um 17 Prozent gekürzt, wobei die Leistungen für maximal 18 Monate gezahlt werden. Auch wer seine Stelle in der Privatwirtschaft noch nicht verloren hat, muss harte Einbußen hinnehmen: Der Arbeitstag wurde um eine halbe Stunde verlängert, was für die Beschäftigten 15 Tage unbezahlte Extraarbeit pro Jahr bedeutet.
Dieser harte Sparkurs hat die Realökonomie stark in Mitleidenschaft gezogen. Die portugiesische Zentralbank musste unter Verweis auf die schwache Inlandsnachfrage ihre Konjunkturprognose für 2012 nach unten korrigieren, sie rechnet jetzt mit einem Minuswachstum von 3,1 Prozent. Bereits im Januar hat Standard & Poor’s im Rahmen einer Neubewertung von neun EU-Ländern die portugiesischen Staatsanleihen als „junk“, als Schrottpapiere, bewertet. In der Begründung der Ratingagentur heißt es: „Wir befürchten, dass ein Reformprozess, der allein auf Haushaltskürzungen setzt, einen gegenteiligen Effekt hervorrufen könnte. Denn die Inlandsnachfrage geht in dem Maße zurück, in dem die Angst der Verbraucher um ihre Arbeitsplätze und Einkünfte anwächst, wodurch sich wiederum die Steuereinnahmen verringern.“ 2011 hat Portugal die geplanten Haushaltskürzungen nur deshalb geschafft, weil es Vermögenswerte von 5,6 Millliarden Euro geplündert hat, die bei diversen Pensionsfonds lagen.3