Aufstand der Tuareg
Der Putsch in Mali spielt den Separatisten des Nordens in die Hände von Philippe Leymarie
Am 22. März haben in Mali junge Offiziere in Tarnanzügen die Macht an sich gerissen. Dem Präsidenten, Exgeneral Amadou Toumani Touré, der sich lange Zeit als „Soldat der Demokratie“ präsentierte, werfen sie mangelnde Regierungsfähigkeit vor. Zudem sei er bei der Bekämpfung des seit Mitte Januar andauernden Aufstands der Tuareg im Norden des Landes gescheitert.
Im März 1991 hatte sich Touré am Putsch gegen General Moussa Traoré beteiligt und den Vorsitz des Übergangskomitees zum Wohle des Volkes (Comité de Transition pour le Salut du Peuple) übernommen. Als neues Staatsoberhaupt berief er eine Verfassungskonferenz ein, organisierte Wahlen und übergab im Mai 1992 die Macht an eine zivile Regierung. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee kehrte er 2002 in die Politik zurück und wurde zum Präsidenten gewählt. Mit der für den 20. April dieses Jahres geplanten Wahl seines Nachfolgers wäre seine zweite und letzte Amtszeit abgelaufen.
Das von den Putschisten eingesetzte „Nationale Komitee für die Wiederbelebung der Demokratie und die Wiederherstellung des Staates“ (Comité national pour le redressement de la démocratie et la restauration de l’état, CNRDRE) hatte zunächst alle staatlichen Institutionen aufgelöst und die Wahlvorbereitungen gestoppt. Unter dem immer stärkeren internationalen Druck1 erklärte der Anführer der Putschisten, Amadou Sanogo, die verfassungsmäßige Ordnung sei wieder „eingesetzt“ und sicherte die Abhaltung von Wahlen zu. Bereits zuvor hatten die Soldaten versichert, sie wollten nicht „die Demokratie beschlagnahmen“, sondern lediglich „die Einheit der Nation und die Unversehrtheit des Staatsgebiets“ wiederherstellen. Es ist jedoch völlig unklar, wie groß der Einfluss der malischen Zentralregierung im außer Kontrolle geratenen Norden des Landes zukünftig sein wird.
Der neue Aufstand der „blauen Männer“ – die Tuareg tragen traditionell mit Indigo gefärbte Gewänder – hatte am 17. Januar 2012 mit einem blutigen Angriff auf Menaka im Norden Malis begonnen. Es folgten mehrere Anschläge auf Garnisonen der malischen Armee. Ende März eroberten die Tuareg-Rebellen die nordmalischen Städte Gao und Kinda und brachten am 1. April auch Timbuktu unter ihre Kontrolle. Zwei Tage nach der Einnahme Timbuktus – der letzten nordmalischen Stadt, die noch von der Armee gehalten wurde – erklärte Mahmoud Ag Aghaly, der Präsident des Politbüros der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (Mouvement national de libération de l’Azawad, MNLA), damit sei das Ziel der Rebellen, die Befreiung der Tuareg-Gebiete, erreicht.
Der 2011 gegründete MNLA gehören über tausend Kämpfer an, darunter 400 ehemalige Soldaten des getöteten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Seit 2012 kämpft sie gemeinsam mit der Bewegung Ançar Dine („Verteidigung des Islam“), die mit Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) verbündet ist. Die MNLA knüpft an frühere Tuareg-Aufstände an und fordert die Unabhängigkeit der drei nördlichen Regionen Timbuktu, Gao und Kidal, die 800 000 Quadratkilometer beziehungsweise 65 Prozent des malischen Staatsgebiets umfassen. Dort leben schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen, ein Zehntel der Gesamtbevölkerung des Landes.
„Schon 1957 haben die Tuareg den damaligen französischen Kolonialherren erklärt, sie wollten nicht zur Republik Mali gehören“, sagt Mahmoud Ag Aghaly. „Und jetzt diskutieren wir seit 30 Jahren mit der Regierung und unterzeichnen Verträge, aber ohne Ergebnis.“2 Die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung sind überzeugt, der malische Staat habe den Norden aufgegeben. Das bestätigte auch der gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré: „In Nordmali gibt es keine Straßen, Krankenhäuser, Schulen oder Brunnen, keine Infrastruktur für das tägliche Leben. Dort gibt es eigentlich gar nichts. Ein junger Mensch aus der Gegend hat keine Chance, zu heiraten oder ein gutes Leben zu führen, es sei denn, er klaut ein Auto und schließt sich den Schmugglern an.“3
Die Sahelzone gehört den Schmugglern
Der Tourismus, der einzige nennenswerte Wirtschaftszweig im dünn besiedelten Sahel, ist längst eingebrochen. Kein ausländischer Besucher fährt mehr ins algerisch-malische Taoudeni-Becken, ins nigrische Aïrgebirge oder auf das Adrar-Plateau in Mauretanien (siehe Karte). Die Rückkehr von Tausenden von Kämpfern – meist Tuareg – aus Libyen, die Verbreitung von Waffen und der blühende Kokain- und Zigarettenschmuggel haben die Region im Dreiländereck Algerien/Mali/Niger sowie einen Teil von Mauretanien zum Kriegsgebiet gemacht.
„Ich hätte nie gedacht, dass ein paar Verrückte die Sahel-Sahara-Zone in eine Art Wilden Westen verwandeln könnten. Die schaffen es, die Leute hier in Angst und Schrecken zu versetzen und sie völlig ins Elend zu treiben“, klagt Maurice Freund. Die Tourismuskooperative Point Afrique, die Freund 1996 gegründet hatte, um Reisen in die Sahelzone anzubieten, musste sich nach der Ermordung französischer Touristen in Mauretanien 2007 und der Geiselnahme von Areva-Angestellten in Nordniger 2010 aus der Gegend zurückziehen.
Zu Beginn des Aufstands hatte Touré 1 000 malische Soldaten, unterstützt durch 500 verbündete Tuareg und Araber, als Verstärkung nach Gao, Kidal und Menaka geschickt. Doch diese nicht sehr motivierten Truppen – viele Soldaten und Offiziere desertierten –, die teils schlechter ausgerüstet waren als die Rebellen, mussten bereits vor dem Fall Timbuktus etliche Niederlagen einstecken. Selbst zu Friedenszeiten war die kleine Armee Malis kaum in der Lage, die 900 Kilometer lange Grenze zu Mauretanien und die 1 200 Kilometer lange Grenze zu Algerien zu überwachen.
Obwohl der neue Krieg das Ende seiner letzten Amtszeit überschattete und die für den 20. April anberaumte Präsidentschaftswahl zu gefährden drohte, gab sich Präsident Touré Ende Februar noch gelassen: „Das Problem im Norden besteht seit 50 Jahren. Unsere Vorfahren mussten damit umgehen, wir gehen damit um, und unsere Enkel werden damit umgehen. Dieses Problem kann man nicht von heute auf morgen lösen.“4 Seiner Meinung nach lässt sich die Sahel-Sahara-Zone gar nicht kontrollieren, weil die Kämpfer, Schmuggler und Händler in diesem Gebiet, das so groß ist wie Europa, über die Landesgrenzen hinweg operieren.
Der vor zwei Jahren in der südalgerischen Stadt Tamanrasset gegründete gemeinsame „operationelle Generalstab“ (Cemoc) Algeriens, Malis, Nigers und Mauretaniens leidet zudem unter der Uneinigkeit der Sahelstaaten. Für Mauretanien, das eng mit den Ausbildern des französischen Oberkommandos für Sondereinsätze (Commandement des opérations spéciales, COS) zusammenarbeitet, steht Sicherheit an erster Stelle.
Mali plädierte dagegen für eine langfristige Strategie mit dem Argument, dass sich nur so die Rekrutierungsquellen der aufständischen Tuareg und der Kampfeinheiten der AQIM austrocknen ließen. Die Regierung in Bamako sieht in Algerien sowohl die Ursache und als auch mögliche Abhilfe für die aus der terroristischen Bedrohung entstandene Unsicherheit: Die ehemalige Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC), die sich seit 2007 als Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) bezeichnet, rekrutierte sich ursprünglich aus den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) Algeriens. Deshalb können die Kämpfer, nach Ansicht der Malier, nur durch den algerischen Sicherheits- und Nachrichtendienst zur Vernunft gebracht werden.
Mit einem Verteidigungshaushalt von 6 Milliarden Euro (das 30-Fache des malischen Militärbudgets) hätten die Algerier durchaus die Mittel, an den Wüstengrenzen für Recht und Ordnung zu sorgen. Nach Ansicht des gestürzten malischen Präsidenten Touré war der äußerste Norden Malis, wo sich die Geiselnehmer der AQIM aufhalten sollen, praktisch ein Anhängsel Algeriens: „Wenn ich vom Norden Malis spreche, könnte ich genauso gut von Algerien sprechen. Gao, Tessalit und Kidal sind für mich die letzten wilayas [Präfekturen] dieses Landes. Die Geschichte Algeriens ist mit dieser Region eng verbunden.“5
Kämpfer und Waffen aus Libyen
Während der Aufstand im Norden Malis die gesamte Region in Brand zu stecken droht, macht das zunehmende Ineinandergreifen von Befreiungskampf, Terrorismus und Kriminalität die Lage noch unübersichtlicher.6 Zudem hatte die AQIM seit der Tötung von Muammar al-Gaddafi, der sich für den König der Sahara oder des Sahel hielt,7 einen Feind weniger und konnte ihre Waffenarsenale wieder aufstocken. Der nigrische Präsident Mahamadou Issoufou hält die Tuareg-Rebellion daher auch für einen „Kollateralschaden der libyschen Krise“.8
An der Eroberung Timbuktus waren auch Kämpfer der Ançar Dine beteiligt. Die MNLA wehrt sich jedoch dagegen, mit den Islamisten in einen Topf geworfen zu werden: „Die Aktionen der AQIM sind eine Schande für das Land und dauern nur wegen der Unfähigkeit der Regierung in Bamako noch an. Wir sagen der internationalen Gemeinschaft: Gebt uns die Unabhängigkeit, und die AQIM in Mali ist am Ende!“9
Diese Worte fanden in Frankreich, der traditionellen Schutzmacht der Region, durchaus Gehör. Schließlich hat die AQIM das Land nach wie vor im Visier: wegen seiner Militärpräsenz in Afghanistan, seiner proisraelischen Diplomatie, dem Burka-Verbot in der Öffentlichkeit, der Aneignung der Uranvorkommen im Niger und der französischen Sonderkommandos zur Geiselbefreiung in Niger und Mali.
Der französische Außenminister Alain Juppé erteilte der malischen Regierung zu Beginn des jüngsten Aufstands ein paar väterliche Ratschläge: Man solle mit allen Parteien inklusive der MNLA reden, bestehende Verträge umsetzen und die wirtschaftliche Entwicklung im Norden anschieben. Doch das kam in Bamako nicht gut an. Schließlich hat Frankreich, das jetzt die Staaten der Region auffordert, „sich besser zu organisieren“, erst letztes Jahr zur Explosion des libyschen Dampfkessels beigetragen. Die prompte Verurteilung des am 22. März angetretenen Militärregimes und Frankreichs Ankündigung, die Zusammenarbeit mit Mali auszusetzen, stießen ebenfalls auf wenig Verständnis.
Die Sahel-Sahara-Zone ist zu einem Pulverfass geworden, das für alle Anrainerstaaten äußerst gefährlich ist. Hunderte von Angehörigen der radikalislamischen Gruppe Boko Haram aus Nigeria sind angeblich in den Niger und den Tschad geflohen (siehe den Artikel auf Seite 7 von Alain Vicky). Die somalischen Al-Shabaab-Milizen drohen sich infolge ihrer Gefechte mit der kenianischen und äthiopischen Armee auch im Sahel auszubreiten. Die Bewegung für Gerechtigkeit und Freiheit (Justice and Equality Movement, JEM) von Gibril Ibrahim könnte in Darfur erneut zu den Waffen greifen. Im Norden der Zentralafrikanischen Republik will General Baba Laddé an der Spitze einer Volksfront zur Neubelebung den tschadischen Präsidenten Idriss Déby stürzen und ruft zu einem breiten Bündnis von Tuareg, AQIM, der Frente Polisario in der Westsahara und anderen auf.
Inzwischen sind 200 000 Malier vor den Kampfhandlungen im Norden geflohen, nach Algerien, Niger, Mauretanien und Burkina Faso. Und zu allem Überfluss schätzt das Welternährungsprogramm, dass in der Sahelzone zurzeit 5 bis 7 Millionen Menschen von Hunger und Dürre bedroht sind und dringend Hilfe brauchen.