13.04.2012

Das Monster von Nigeria

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Das Monster von Nigeria

Wie die kleine Sekte Boko Haram zur international gefürchteten Terrorgruppe wurde von Alain Vicky

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Nigeria, dieses kulturell und sozial so vielfältige Land, sei eine „Democrazy“, heißt es.1 Nun hat sich diese „verrückte Demokratie“ ein Monster geschaffen: Boko Haram. Vor zwölf Jahren noch war Boko Haram einfach eine religiöse Protestbewegung, die das von den progressiven Parteien hinterlassene ideologische Vakuum füllen wollte. Aber die nigerianische Regierung hat es inzwischen geschafft, diese Sekte zu einem geopolitischen Problem zu machen und eine spektakuläre und tödliche Spirale der Gewalt in Gang zu setzen.

In der Tat ist der politische Apparat in Nigeria in weiten Teilen mitverantwortlich für die Radikalisierung der Sekte; die politischen Parteien – von der regierenden Demokratischen Volkspartei (People’s Democratic Party, PDP) bis zur Opposition aus dem Norden, der Partei aller Völker Nigerias (All Nigeria People’s Party, ANPP) – ebenso wie die Militär- und Sicherheitsberater von Präsident Goodluck Jonathan.

Die Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati Wal-Jihad (Gemeinschaft der Sunniten zur Verbreitung des Heiligen Krieges und des Islams) entstand zu Beginn der 2000er Jahre im Nordosten des Landes und wurde massiv bekämpft; heute ist sie vor allem mit ihren Initialen „BH“ für „Boko Haram“ bekannt – eine Zusammensetzung von „book“2 auf Pidginenglisch und „verboten“ („haram“) auf Arabisch. Sie hat sich zu 164 Angriffen, Selbstmordattentaten, Exekutionen und Raubüberfällen bekannt, die zwischen Juli 2009 und Anfang Februar 2011 verübt wurden – sogar im Herzen der Bundeshauptstadt Abuja. 935 Menschen wurden dabei getötet, meist Nigerianer muslimischen Glaubens.

Der zweifelhafte Ruhm Boko Harams ist inzwischen bis zu den katibas (Kampfeinheiten) der Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) und den Al-Shabaab-Milizen in Somalia vorgedrungen. Und die internationale Presse fragt, ob der nigerianische Riesenstaat mit seinen 160 Millionen Einwohnern nicht auf eine Teilung zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden zusteuere.3

Das ist eine verkürzte Darstellung, denn die wahre Teilung des Landes verläuft zwischen Reichtum und extremer Armut – mehr als 60 Prozent der Bevölkerung müssen von weniger als 2 Dollar am Tag leben. Die zwölf Bundesstaaten im Norden, an den Grenzen zu Niger, Tschad und Kamerun, bilden nach wie vor die am wenigsten entwickelte Region des Landes. Seit 1999, als nach fünf Jahren Diktatur unter General Sani Abacha der Zivilist Olusegun Obasanjo zum Präsidenten gewählt wurde, vergrößerte sich der Abstand zum Süden sogar noch mehr.

Im Bundesstaat Borno, wo die „Yusufisten“ von Boko Haram (der Name ist abgeleitet von ihrem verstorbenen spirituellen Führer Ustaz Mohammed Yusuf) ihr blutiges Werk begannen, leben drei Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – das ist selbst in Nigeria ein Rekord. Nur 2 Prozent der Kinder unter 15 Monaten sind geimpft. Auch der Zugang zu Bildung ist extrem eingeschränkt: 83 Prozent der Jugendlichen sind Analphabeten, 48,5 Prozent der schulfähigen Kinder gehen nicht regelmäßig zur Schule, 34,8 Prozent der Muslime zwischen 4 und 16 Jahren haben noch niemals eine Schule besucht, nicht einmal eine Koranschule: „All diese Faktoren machen die Menschen für negative Einflüsse, insbesondere für Gewalt, besonders empfänglich.“4

Der Gründer von Boko Haram, Mohammed Yusuf, trat Anfang der 2000er Jahre auf den Plan. Damals war er 30 Jahre alt und predigte in den Dörfern seiner Heimat Yobe. Yobe ist ein Nachbarstaat von Borno. Yusuf hob sich ab von den zehntausenden Wanderpredigern, die in einer quietistischen Tradition stehen und auf den Märkten der großen Städte den Massen Gleichmut und Zurückhaltung predigen. Vor allem stellte er sich den Anhängern eines großen muslimischen Rechtsgelehrten entgegen: Der 1992 verstorbene Abubakar Gumi war der Chefideologe der neohanbalitischen Bewegung ’Yan Izala.5 Nachdem im Jahr 2000 in den nördlichen Bundesstaaten die Scharia eingeführt worden war – die zentrale Forderungen der ’Yan Izala –, hatte sich die Bewegung gemäßigt und gehörte sogar den offiziellen Kommissionen an, die das islamische Recht in Gesetze fassen sollten.

Doch die Einführung der Scharia hatte weniger religiöse denn politische Folgen – in der Bevölkerung rief sie vor allem Spott und Widerstand hervor. In der Tat nutzten die politischen und militärischen Führungskreise der nördlichen Bundesstaaten die Scharia vor allem, um Druck auf die Zentralregierung auszuüben. Eine der fünf Säulen des Islam, die Almosenregel zakat,6 wurde gar nicht erst umgesetzt.

Yusuf hatte an der Universität von Medina in Saudi-Arabien Theologie studiert und übte nach dem Vorbild des radikalen Predigers Schukri Mustafa aus Ägypten und seiner salafistischen Bewegung at-Takfir wa’l-Higra (etwa: „[andere] für ungläubig erklären und auswandern“) heftige Kritik an der Regierung in Abuja. Seiner Ansicht nach war die strenge Anwendung der Scharia Ausdruck des Gerechtigkeitsideals des Propheten. Er lehnte auch die Teilnahme an Wahlen ab und verdammte alle großen Marken auf dem nigerianischen Lebensmittelmarkt – vom Maggi-Würfel bis zum Dairy-Milk-Karamellbonbon.

Die Verweigerung der „Moderne“ hielt die Killerkommandos von Boko Haram jedoch nicht davon ab, bei ihren Morden an Anhängern der ’Yan Izala und an führenden Persönlichkeiten der Sufi-Bruderschaften Tijaniyya und Qadiriyya Motorräder zu benutzen. Bereits Anfang der 1980er Jahre war es bei Auseinandersetzungen unter „antiwestlichen“ muslimischen Sekten in Nordnigeria zu gewalttätigen Zusammenstößen gekommen.

Die „Maitatsine“-Bewegung, die sogar das Tragen von Armbanduhren untersagte, kontrollierte damals die Straßen der nordnigerianischen Städte Maiduguri und Kaduna. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen deren Anhänger, die sich im Marktviertel von Kano, der Riesenstadt des Nordens, verschanzt hatten, forderte im April 1980 mehr als 4 000 Todesopfer.7

Im Herbst 2003 griff die Polizei die „himmlische Stadt“ Yusufs in Kannamma im Herzen des Bundesstaats Yobe an. Mehrere seiner Jünger wurden getötet. Daraufhin begann Boko Haram am 22. Dezember 2003 seine ersten Attacken auf Sicherheitskräfte und zog sich dann nach Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, zurück. Dort hatte die Bewegung bei der Wahl im April 2003 bereits den Kandidaten Ali Moddu Sheriff unterstützt, der eine strengere Anwendung der Scharia versprach. Nach seiner Wahl berief Sheriff ein prominentes Mitglied von Boko Haram, Buju Foi, an die Spitze seines neu geschaffenen Religionsministeriums.

Die Sekte richtete in Maiduguri eine Moschee und eine Schule ein und zog damit junge Leute aus den Armenvierteln ebenso an wie erfolglose Studenten und verarmte Beamte. Hinter der Religion steckt ein tiefes Ressentiment gegenüber den Eliten des Nordens, der Zentralregierung und der korrupten und brutalen Bundespolizei, das all diese Leute in dem Gefühl eint, zu kurz gekommen zu sein.

Im Oktober 2004 überfielen Boko-Haram-Anhänger einen Konvoi von 60 Polizisten in der Nähe von Kala Balge an der Grenze zum Tschad. Zwölf Beamte wurden als Geiseln genommen und mussten mit dem Leben bezahlen. In Abuja begann sich der Inlandsgeheimdienst (State Security Service, SSS) Sorgen zu machen. Aber Präsident Obasanjo hatte andere Prioritäten: die Bekämpfung des Aufstands im Nigerdelta, wo Jugendbanden die Ölförderanlagen attackierten.8 Yusuf wurde zwar vom SSS verhaftet und nach Abuja überführt, später aber wieder freigelassen.

Im April 2007 wurde der Muslim Umaru Yar’Adua zum Nachfolger von Präsident Obasanjo gewählt. In Maiduguri setzte sich Boko Haram bei der Gouverneurswahl für den Kandidaten der Mehrheit, Kashim Ibrahim Imam, ein. Doch nach einem von mehreren politischen Morden überschatteten Wahlkampf wurde Sheriff im Amt bestätigt. Vier Jahre nachdem er die Sekte für seine Machtübernahme instrumentalisiert hatte, erklärte er ihr nun den Krieg. Im Juni 2009 wurden 15 Boko-Haram-Jünger auf Motorrädern von der Polizei des Bundesstaats ermordet – mit der Begründung, sie hätten keine Helme getragen. Die Opfer waren zur Beerdigung eines Freundes gekommen, der von denselben Ordnungskräften getötet worden war.

Yusuf verkündete im Internet, er werde sich rächen: Am 26. Juli startete Boko Haram eine breite Offensive in vier nördlichen Bundesstaaten und griff Banken und Polizeistationen an. Polizei und Armee schossen zurück: Es gab mehr als 800 Tote, zweifellos auch durch hunderte außergerichtliche Exekutionen, unter den Opfern war auch Yusuf selbst. Die Bilder seiner Hinrichtung wurden im Internet verbreitet und radikalisierten die Sekte noch mehr. Bis heute gibt es keine offizielle Untersuchung der Regierung, um die blutigen Ereignisse aufzuklären.

Ein Jahr später überfiel Boko Haram ein Gefängnis im zentralnigerianischen Bauchi und befreite mehr als 700 Gefangene, darunter über hundert eigene Anhänger. Die Strahlkraft der Sekte reichte inzwischen weit über ihr Stammland hinaus, bis in die Stadt Jos in der Mitte Nigerias: Seit Anfang 2000 wurde Jos immer wieder Schauplatz gewalttätiger religiöser Unruhen, bei denen es allerdings mehr um die Macht im Bundesstaat Plateau ging als um die Durchsetzung einer religiösen Ideologie.9

Boko Haram verfügt über kein Zentralkommando, sondern über eine schura (Rat), dem wenigstens ein Dutzend Männer angehören, die aus zwei Gruppen kommen. Der „historische Arm“ unter der Leitung von Abubakar Shekau, der früher Yusufs Stellvertreter war, konzentriert seine Aktionen auf Polizisten, führende Politiker und Imame, die „lügen und sich unter dem Deckmantel der Religion verbergen“;10 die Bewegung finanziert ihre Aktionen durch Überfälle auf Banken, die Wucher treiben, und vermutlich auch damit, sich Gefechtspausen bezahlen zu lassen.

In der zweiten, der internationalistischen Zelle haben sich überlebende Kader organisiert, die nach dem Aufstand im Juli 2009 ins Exil gegangen waren. Angeführt wird sie mutmaßlich von Mamman Nur, der auch Verbindungen zum globalen Dschihadismus unterhält. Er hat auch neue Operationsformen gegen neue Ziele eingeführt, wie das erste Selbstmordattentat in Nigeria, das sich gegen ein Gebäude der Vereinten Nationen am 23. August 2011 in Abuja richtete. Nurs Männer sollen auch für eine Serie von Anschlägen auf christliche Kirchen verantwortlich sein, darunter der besonders symbolträchtige Bombenanschlag vom 25. Dezember 2011 auf eine katholische Kirche in Madalla, einem Vorort von Abuja.

Am 20. Januar 2012 schlug Boko Haram in Kano zu: Bei acht koordinierten Anschlägen auf Polizeistationen und SSS-Büros tötete die Sekte mit Autobomben und als Polizisten verkleideten Attentätern mehr als 180 Menschen.

Warum verübt Boko Haram im Herzen einer muslimischen Region derart brutale Anschläge und geht damit das Risiko ein, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen? In Kano genoss der örtliche Vertreter Abubakar Shekau echte Sympathie in den ärmeren Stadtteilen und besaß sogar die Unterstützung des ehemaligen Gouverneurs, Ibrahim Shekarau.

Doch vielleicht nützt diese Strategie der Eskalation ganz anderen Akteuren. Der Wissenschaftler Morten Bøås meint: „Den größten Grund zur Sorge geben Gerüchte um geheime Absprachen von Boko Haram mit Politikern und hohen Staatsbeamten. Bis heute gibt es dafür keine Beweise, aber man kann es als ein Zeichen dafür werten, dass manche Leute wirklich zu allem bereit sind, wenn es darum geht, sich Macht und Reichtum zu verschaffen.“11

Fußnoten: 1 Siehe Jean-Christophe Servant, „Was die Nigerianer von der Scharia erwarten“, in: Le Monde diplomatique, Juni 2003. 2 „Boko“ bezeichnet zudem eine Variante des lateinischen Alphabets, das im frühen 19. Jahrhundert von Europäern entwickelt wurde, um die Haussa-Sprache zu verschriftlichen. Der Name der Gruppe verdeutlicht die Ablehnung jedes westlichen Einflusses in Sprache und Bildung. 3 Siehe Joe Brock, „Boko Haram, between Rebellion and Jihad“, Reuters, 31. Januar 2012. 4 Muhammad Nur Alkali, Abubakar Kawu Monguno und Ballama Shettima Mustafa, „Overview of islamic actors in northeastern Nigeria“, Nigeria Research Network, University of Oxford, Januar 2012. 5 Die Hanbaliya ist die strengste der vier madhahib (Rechtsschulen) im sunnitischen Islam. 6 Verpflichtung für jeden Muslim, einen gewissen Anteil seines Einkommens als Almosen zu geben. 7 Siehe N. D. Danjibo, „Islamic Fundamentalism and Sectarian Violence: The ‚Maitatsine‘ and ‚Boko Haram‘ Crises in Northern Nigeria“, Peace and Conflict Studies Programme, Institute of African Studies, University of Ibadan, Juni 2010. 8 Siehe Nicholas Shaxson, „Die zersetzende Kraft des Erdöls. Wie Nigerias Ölreichtum zu Korruption, Armut und politischem Zerfall führt“, in: Edition Le Monde diplomatique, Nr. 5, Berlin (taz Verlag) 2009, sowie: Jean-Christophe Servant, „Das Öl des Zorns“, in: Le Monde diplomatique, April 2006. 9 Als die Welt am 11. September 2001 nach New York schaute, forderten Kämpfe zwischen Christen und Muslimen in Jos mehr als tausend Tote. 10 Ibrahim Shekau, Message to President Jonathan, 11. Januar 2012: www.youtube.com/watch?v=umkj50SUzck. 11 Morten Bøås, „Violent Islamist uprising in Northern Nigeria“, Norwegian Peacebuilding Resource Center, 27. Januar 2012: www.peacebuilding.no. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Alain Vicky ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2012, von Alain Vicky