Rauch über Imbaba
Die Kopten in Ägypten müssen um ihre Zukunft fürchten von Yasmine El Rashidi
Die Kirche der Heiligen Jungfrau von Kairo bietet dieser Tage einen überraschenden Anblick. Der etwa 40 Jahre alte Bau liegt in der Al-Wahda-Straße (Straße der Einheit) unweit des Tahrirplatzes inmitten der durch Staub und Smog verpesteten Innenstadt. Aber im Kontrast zu den verdreckten Häusern der Umgebung strahlt die Fassade der Kirche in reinem Weiß und Beige. Im Innern schimmert der neue cappuccino-farbene Marmor auf dem Fußboden und den frisch verputzten Wänden. Nie habe seine Kirche schöner ausgesehen, meint der Kustos, „in ihrer ganzen Geschichte nicht“.
Dabei war diese Kirche im ärmlichen Stadtteil Imbaba noch im Mai 2011 ein Ort wüster Zerstörung. Nach Zusammenstößen zwischen Muslimen und Christen war das Gebäude in Flammen aufgegangen, die Reste wurden geplündert oder zertrümmert. Die Gewalt hatte sich am Streit um den Fall der Koptin Abeer Fakhri entzündet. Die junge Frau war angeblich zum Islam konvertiert, und ultrakonservative Salafisten hatten behauptet, sie werde gegen ihren Willen in der Kirche St. Mina festgehalten, die gleichfalls attackiert wurde. Die Bilanz der Gewalttaten: 15 Tote und nahezu 200 Verletzte.
Nach dem erzwungenen Rücktritt von Staatspräsident Husni Mubarak am 11. Februar 2011 war es zu einer Serie von Übergriffen gegen die Minderheit der koptischen Christen gekommen. Und der Angriff auf die Kirche der Heiligen Jungfrau war nicht der letzte: Ende Januar 2012 wurden acht koptische Familien aus ihrem Dorf in der Küstenprovinz Alexandria vertrieben, nachdem Gerüchte über eine Liebesaffäre zwischen einem koptischen Mann und einer muslimischen Frau aufgekommen waren. Auch in einigen Dörfern des Nildeltas wurden die Häuser koptischer Familien überfallen und niedergebrannt.
Seit Mubarak aus dem Amt gejagt wurde, hat die Kriminalität in Ägypten massiv zugenommen. Jeden Tag werden Raub- und Banküberfälle, Autodiebstähle und andere Verbrechen gemeldet. Aber die weitaus schlimmste Form der Gewaltkriminalität im nachrevolutionären Ägypten ist die Hetze gegen die Kopten. „Es wurden schon immer die Spannungen zwischen den Glaubensgemeinschaften angeheizt. Das war so gewollt. Das Land sollte in sich gespalten bleiben“, meint der koptische Aktivist Michael Meunier. „Und die Kopten kriegen immer das meiste ab. Viele haben ein Interesse daran, dass Chaos herrscht.“
Empört sind die Kopten vor allem über den herrschenden Militärrat und seine laxe Reaktion auf gewaltsame Übergriffe gegen ihre Glaubensgenossen. Im März 2011 zerstörten Schlägertruppen eine Kirche in einem Vorort von Kairo bis auf die Grundmauern. Anlass war auch hier eine „verbotene“ Beziehung zwischen einem Kopten und einer Muslimin. Bei den Zusammenstößen gab es 12 Tote und 140 Verletzte. Aber niemand wurde verhaftet, geschweige denn angeklagt.
Am Tag nach dem Angriff auf die Kirche von Imbaba marschierten tausende Kopten aus ganz Kairo zum Gebäude des staatlichen Fernsehsenders. Sie errichteten ein Zeltlager und begannen einen mehrtägigen Sitzstreik. Damals sagte mir Pater Metias, einer der Priester von der Kirche der Heiligen Jungfrau: „Wir fordern Schutzmaßnahmen. Wir wollen, dass die zig Kirchen, die von der Regierung geschlossen wurden, wieder aufgemacht werden und dass die Leute, die uns überfallen, zur Rechenschaft gezogen werden.“
Fast zwei Wochen lang blieben die Kopten vor dem Fernsehgebäude, unterstützt durch mehrere hundert Muslime. In Sprechchören forderten die Demonstranten mehr Schutz und den Rücktritt von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, der als Vorsitzender des Militärrats das faktische Staatsoberhaupt ist. Sie schliefen in ihren aus Nylonplanen und Decken errichteten Zelten, trotzten der zunehmenden Hitze und verteidigten sich gegen die Banden, die mit Messern, Steinen und Schusswaffen auf sie losgingen, um das Zeltlager zu zerschlagen.
Erst nach 13 Tagen erklärten sich die Demonstranten zum Abzug bereit, nachdem das Militär zwei Zusagen gemacht hatte: Erstens werde man sie nicht „mit Gewalt entfernen“ – wie in der Vergangenheit geschehen –, und zweitens sollten drei der geschlossenen Kirchen wieder zugänglich gemacht werden. Einer der jungen Leute erzählte mir, sie hätten damals nachgegeben, um „dem Militärrat die Chance zu geben, seine Versprechen zu erfüllen“.
Zehn Monate später, im März 2012, erzählten mir Mitglieder der Allianz junger Kopten, die das Sit-in damals organisiert hatte, dass sie sich kein bisschen sicherer fühlen. Im Gegenteil, die Drohungen gegenüber den Kopten hätten eher noch zugenommen: „Die Islamisten stellen die Mehrheit im Parlament, und sie sind gerade dabei, mit der Armee ins Geschäft zu kommen. Das alles bedeutet für uns nichts Gutes. Man braucht doch nur durch die Straßen zu gehen, dann merkt man doch, was sich schon geändert hat. Man sieht mehr Salafisten und verschleierte Frauen als je zuvor.“
Unter der christlichen Minderheit, die etwa 10 Prozent der 82 Millionen Einwohner Ägyptens ausmacht, ist der Alltag immer noch von der Angst vor Verfolgung und neuen Gewalttaten beherrscht. Seit der Parlamentswahl im Januar, bei denen die Islamisten 70 Prozent der Sitze erobert haben, sodass sie den Parlamentspräsidenten stellen, sagen viele Kopten, dass sie mit dem Gedanken spielen, auszuwandern. Am liebsten in die USA oder nach Kanada, wo sie wegen religiöser Verfolgung politisches Asyl beantragen könnten. Doch viele fühlen sich auch verpflichtet, in Ägypten zu bleiben, „um die Kirchen und Klöster zu beschützen“.
Das will auch der Pastor der Kirche der Heiligen Jungfrau in Imbaba. Als ich Pater Sarabamon im vergangenen Sommer in seiner Kirche besuchte, wurden gerade die letzten Bauarbeiten fertiggestellt. Unter anderem wurde ein neuer Schutzzaun um das ganze Gebäude errichtet. „Dass die Medien nichts berichten, hat nicht viel zu sagen“, meinte der Pater. „Es gibt zwar keine größeren Attacken, aber jede Woche kommt es vor, dass Frauen auf der Straße das Kreuz vom Hals gerissen wird. Auch in diesem Viertel werden immer noch Leute beim Verlassen der Kirche beschimpft. Und immer noch verschwinden junge Mädchen. Viele werden wegen ihrer Kleidung belästigt oder weil sie ein Kreuz aufs Handgelenk tätowiert haben.
Pater Sarabamon betreut diese Gemeinde seit über vierzig Jahren. Während wir uns unterhielten, traten ständig Männer und Frauen an ihn heran, um ihm die Hand zu küssen oder eine Spende zu überreichen. Viele brachen beim Anblick der renovierten Kirche in Tränen aus. „Da draußen sind hungrige, zornige Menschen unterwegs“, sagte der Priester zu einigen jungen Mädchen und ermahnte sie, ein Kopftuch zu tragen oder die Halskette mit dem Kreuz abzulegen.
Viele Täter, die nach den tödlichen Attacken von Imbaba festgenommen worden waren, kamen wieder frei, ohne vor Gericht gestellt zu werden. Darunter waren auch Salafisten, die man per Videoaufnahmen als Anstifter identifiziert hatte. Einer von ihnen hatte über die koptische Kirche behauptet: „Das ist eine Mafia, die Waffen hortet.“
Unter den 48 Verdächtigen, die inzwischen vor dem obersten Gericht angeklagt wurden, sind hingegen viele Kopten. Dagegen wurden von den 16 Muslimen, die man bei den Angriffen auf das Zeltlager der koptischen Demonstranten festgenommen hatte, letztlich nur zwei verurteilt – zu zwei Jahren. Gegen eine Kaution wurden sie wieder freigelassen. „Das ist typisch, all das ist doch nur Show“, meinte Pater Sarabamon. „Die Regierung hat ein Riesenbrimborium um die Festnahmen und Prozesse veranstaltet, aber wenn man näher hinschaut, ist gar nichts passiert. Nicht mal das Versprechen, die Kirchen wieder zu öffnen, haben sie eingehalten.“
Der Oberste Militärrat hatte den örtlichen Gouverneur angewiesen, für die Renovierung der Kirche von Imbaba zu sorgen, die angeblich fast eine Million Dollar gekostet hat. Doch Pater Sarabamon berichtet, dass Teile dieser Gelder abgezweigt wurden, um die gegenüberliegende Moschee zu renovieren, „auf unsere Kosten“. Er konnte jeden Tag beobachten, wie die Handwerker, die der Gouverneur geschickt hatte, zwischen Kirche und Moschee hin und her wanderten: „Mit den Geldern, die an die Moschee geflossen sind, haben die wahrscheinlich die ganze Elektrik und was weiß ich noch bezahlt. Aber ich stelle keine Fragen“, sagte der Pater. Die Arbeiter selbst wollten auf die Frage, wer ihnen den offiziellen Auftrag für die Moschee erteilt hat, keine Antwort geben. „Es ist offensichtlich, dass das Militär sich in diesen Dingen nicht neutral verhält“, meint die bekannte Politologin Mona Makram-Ebeid, die in den 1990er Jahren als Abgeordnete für die Kopten im Parlament saß.
Lustige Salafisten, skeptische Kopten
Seit der Oberste Militärrat unter Feldmarschall Tantawi, einem ehemals engen Freund von Mubarak, die Macht übernommen hat, ist er wegen seines parteiischen und repressiven Führungsstils immer stärker in die Kritik geraten. Während jugendliche Demonstranten und Blogger juristisch verfolgt und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, hat das Tantawi-Regime wiederholt Prozesse gegen korrupte Staatsbedienstete abgewürgt. Die Beklagten wurden lediglich zivilrechtlich belangt oder einfach gegen Kaution freigelassen.
Beim Referendum vom 19. März 2011, als die Ägypter über neun neue Verfassungsartikel abstimmten, traten die Militärs und die Muslimbruderschaft – die größte organisierte Bewegung im Land – gemeinsam gegen die liberalen Kräfte an. Dabei zeigte sich der erste tiefere Riss innerhalb der Bewegung für den Wandel, die während der achtzehntägigen Proteste auf dem Tahrirplatz noch zusammengehalten hatte. Und er war in vieler Hinsicht ein Vorbote der weiteren Entwicklungen: Seitdem fasst die Armee die Islamisten mit Samthandschuhen an und macht gemeinsame Sache mit den Muslimbrüdern.
Viele Beobachter glauben, dass die Armee als Rückgrat des Regimes einen Status quo festigen will, der ihr noch auf Jahre hinaus eine hegemoniale Rolle garantiert – auch im Hinblick auf die Wahrung ihrer umfangreichen Geschäfte und wirtschaftlichen Interessen. Dazu dürften auch manipulative Praktiken im Parlament dienen, dessen Mehrheit offenbar zur Kooperation mit den Militärs bereit ist. So sieht es auch ein pensionierter General, der mir mehrfach versicherte: „In dieser Phase ist die Bruderschaft auf das Militär genauso angewiesen wie umgekehrt.“ Die Armee wisse nämlich, woran sie bei der Bruderschaft sei – bei den revolutionären und liberalen Kräften sei das nicht der Fall.
Unter anderem ist es dieser wachsende Einfluss islamischer Denker – und der Rückhalt, den diese offenbar bei der Armee finden –, der die koptische Gemeinschaft und die liberalen Kräfte beunruhigt.
Die Ankündigung der Freiheits und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder – entgegen vorherigen Ankündigungen –, für die Präsidentschaftswahl im Mai1 einen eigenen Kandidaten aufzustellen, nährte zusätzlich die Furcht der Kopten vor einer islamistischen Dominanz in den politischen Institutionen im künftigen Ägypten. Zuvor hatte es bereits heftigen Streit um die Zusammensetzung des hundertköpfigen Ausschusses gegeben, der die neue Verfassung ausarbeiten soll.2 Zwar hat Parlamentspräsident Saad al-Katatni, der gleichzeitig Generalsekretär der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei ist, wiederholt erklärt, dass im Verfassungsausschuss alle Stimmen gehört werden sollen, aber diese Ankündigung kann die Kopten nicht beruhigen. Denn trotz der gemäßigten Positionen, zu denen sich die Bruderschaft derzeit bekennt, fürchten viele, dass die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei sich radikalisieren wird, wenn sie erst einmal an der Macht ist. Und dann könnte sie auf die Linie der rabiat antikoptischen Salafisten einschwenken.
Wie groß mag die Gefahr sein, die von den Salafisten ausgeht? Dazu ein Erlebnis aus dem Sommer letzten Jahres: In einer öffentlichen Bibliothek, unweit der Kirche der Heiligen Jungfrau, hatte eine Gruppe von Salafisten, die sich „Salafyo Costa“ nennen (weil sie auf Costa-Kaffee stehen) zu einem offenen Meeting eingeladen. Sie suchten den „Dialog mit den Liberalen“, wie mir einer der Organisatoren erklärte. Und sie wollten das Vorurteil widerlegen, dass „wir alle Teufel sind“. Zu Beginn der Veranstaltung forderte dieser Mann namens Mohamed Tolba die Leute auf, Platz zu nehmen, und zwar bunt durcheinander: „Salafisten neben Nichtsalafisten, na kommt schon!“ Man wolle doch offen miteinander reden, „genau wie auf dem Tahrirplatz“.
Tolba war erst vor Kurzem nach einigen Jahren im Sudan nach Ägypten zurückgekehrt, weil er sich dort als Bartträger verfolgt gefühlt habe. Er ist ein lustiger, offener Typ, der ständig Witze über die auf Salafisten gemünzten Stereotype reißt. „Ich weiß, ihr habt Angst vor uns“, meinte er in Richtung einer Gruppe junger Frauen, die in Jeans und ohne Kopftuch zu der Veranstaltung erschienen waren. „Sprecht es aus, wir können darüber reden. Uns ist schon klar, dass ihr unter Salaphobie leidet, aber wir werden schon nicht beißen.“
Es folgte eine lebhafte Diskussion, die fünf Stunden dauerte und die immer wieder auf eine Frage hinauslief: Ob Mohamed und seine Freunde denn repräsentativ seien für die große Masse der Salafisten? Die Antwort lautete: „Nein.“ Aber wie Mohamed berichtet, haben er und seine Salafyo-Costa-Gruppe, deren Facebook-Seite fast 5 000 Anhänger hat, seit jenem Treffen erstaunliche Anrufe von ultrakonservativen Parteiführern und radikalen Scheichs erhalten. „Ich will keine Namen nennen“, sagte mir Mohamed kürzlich, „aber einige Scheichs, die zuerst gesagt hatten, dass wir verrückt sind oder sogar Sünder, wollen jetzt mit uns zusammenarbeiten. Und dasselbe wollen die neu gegründeten politischen Parteien. Sehr viele haben mich um Zusammenarbeit gebeten. Die haben kapiert, dass unsere Methode viel erfolgreicher ist.“
Nach der Veranstaltung sprach mich die Ehefrau eines der Salafisten an und lud mich zu einem Frauentreffen in ihre Wohnung ein. Und eine andere erzählte mir, dass sie früher gar kein Kopftuch getragen habe und wie es dazu kam, dass sie sich letztlich für den Vollschleier entschieden habe. „Es dauert eben seine Zeit“, meinte sie wohlwollend. „Du gewöhnst dich schon daran.“
Als ich wieder zu Hause war, rief mich abends einer der beiden politisch aktiven Freunde an, die mich zu dem Salafistentreffen in der Bibliothek begleitet hatten. „Ich traue der Sache nicht“, sagte er. „Sämtliche Ehefrauen dieser Männer trugen den Niqab. Die wollen, dass in Ägypten die Scharia eingeführt wird. Die werden sich langsam verändern, genau wie die Muslimbrüder, darauf wette ich. Bevor wir es kapiert haben, wird es hier wie in Saudi-Arabien sein. Es ist kein Zufall, dass die Saudis uns einen so großen Kredit gegeben haben.“
Als ich Pater Sarabamon in der Kirche der Heiligen Jungfrau von der Einladung der salafistischen Frauen erzählte, meinte er lächelnd: „Die wollen dich bekehren. Ich befürchte das Allerschlimmste. Du weißt ja, dass in den Schulen jetzt die Geschichte der Kopten nicht mehr gelehrt wird. Es wird eine Weile dauern, aber ich sehe schon, in welche Richtung das Ganze geht.“
Den Tod des koptischen Papstes Schenuda III. am 17. März deuteten viele Kopten als ein weiteres düsteres Vorzeichen für ihre Zukunft. „In dieser kritischen Phase brauchen wir einen umsichtigen Papst wie Schenuda; jemanden, der sich vernünftig mit den Dingen auseinandersetzt“, meint der koptische Parlamentsabgeordnete Emad Gad.3 Die Kopten seien nun führerlos, und wenn sich die islamistischen Kräfte im Verfassungsausschuss durchsetzen sollten, könne dies eine aggressive Antwort der Kopten provozieren. „Weil jetzt die Kontrolle durch eine geachtete Autorität wie Schenuda fehlt, könnte es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen.“
Der Pessimismus der Kopten wird auch von vielen Muslimen geteilt, welche die Lage der Kopten als Gradmesser für den Erfolg der ägyptischen Revolution ansehen. So twitterte vor Kurzem ein – muslimischer – Freund: „Der Tag, an dem wir wissen, dass die Revolution erfolgreich war, ist der Tag, an dem ein Kopte sich für das Präsidentenamt bewirbt und eine echte Chance hat, zu gewinnen. Ich fürchte, dieser Tag wird niemals kommen.“