Das Spardiktat
Was in Frankreich zur Wahl steht von Serge Halimi
Werden uns die französischen Wahlen einen neuen Präsidenten bringen? Und wenn ja, wäre das ein Schritt zur Lösung all der Probleme, die nahezu die gesamte Amtszeit des alten Präsidenten bestimmt haben? Der Wechsel wäre für die Franzosen ein Segen. Die letzten fünf Jahre waren ein Rückschritt in Sachen Demokratie und Volkssouveränität. Ganz abgesehen von den notorischen Macken des Amtsinhabers Sarkozy: seine Omnipräsenz, sein Exhibitionismus, seine Fähigkeit, heute dies und morgen das Gegenteil zu sagen, sein Faible für die Reichen, das nur von seinem Hang übertroffen wird, Arbeitslose, Migranten, Muslime oder Beamte zur Zielscheibe des Volkszorns zu machen.
Nach dem Referendum über den EU-Verfassungsvertrag im Mai 2005 ignorierten die Präsidentschaftskandidaten der zwei großen Parteien, dass die Mehrheit der Franzosen gegen eine EU-Architektur war, deren Konstruktionsfehler heute sichtbar werden. Die damalige Abstimmung hatte aber ein eindeutiges Resultat, und zwar nach einer nationalen Debatte, die auf weit höherem Niveau geführt wurde als der gegenwärtige Wahlkampf.
Zudem geht die Präsidentschaft Sarkozys, die bei uns den Voluntarismus wieder hoffähig gemacht hat, mit einer Reihe verstörender Erklärungen zu Ende. Während die Kandidaten der Linken den Banken Schranken setzen wollen, meint der französische Wirtschaftsminister Baroin: „Gegen das Finanzsystem zu sein, ist genauso dumm, wie zu sagen: ‚Ich bin gegen den Regen‘, ‚ich bin gegen die Kälte‘ oder ,ich bin gegen den Nebel.‘ “ Und Ministerpräsident Fillon empfiehlt dem sozialistischen Kandidaten François Hollande, er solle „sein Wahlprogramm von Standard & Poor’s durchchecken lassen“.1
Zusätzlich ausgehöhlt wird die Souveränität des Volkes durch die Unterordnung der französischen politischen Elite unter eine immer arroganter auftretende deutsche Rechte, und damit unter das Credo einer „marktkonformen Demokratie“. Die Befreiung von dieser Hypothek ist die Kernfrage der anstehenden Wahl. Sie zwingt uns, direkt und ohne Umschweife über Europa zu diskutieren.
Niemand kann bezweifeln, dass die seit zwei Jahren verbissen umgesetzten Sparprogramme die Verschuldungsprobleme keineswegs lösen. Wenn die Linke diese finanzielle Würgschraube nicht infrage stellt, ist ihre Strategie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Angesichts des europapolitischen Umfelds ist aber nicht vorstellbar, dass dies kampflos möglich wäre.
Zurzeit wird der Exitus noch durch eine Geldschwemme verhindert, mit der die Europäische Zentralbank (EZB) die privaten Banken flutet, die billige EZB-Kredite mit Zinsgewinnen an die Staaten weiterverleihen. Diese Atempause verdanken wir aber nur der europäischen Notenbank, der das EU-Vertragswerk leichtsinnigerweise die völlige „Unabhängigkeit“ garantiert. Langfristig hat sich die Mehrheit der EU-Länder auf eine verschärfte Sparpolitik verpflichtet, wie sie von Berlin gefordert und von Paris gehorsam übernommen wurde. Mitgliedstaaten, die dem zuwiderhandeln, werden einem drakonischen Sanktionssystem unterworfen, das in dem derzeit zur Ratifizierung anstehenden europäischen Fiskalpakt festgeschrieben ist.2
Das Strafregime, unter dem Griechenland steht, droht jetzt auch Spanien, das sein Haushaltsdefizit um ein Drittel verringern soll, obwohl die Arbeitslosigkeit bei 23,6 Prozent angelangt ist. Davon ist Portugal nicht weit entfernt. Es soll seine Staatsausgaben kürzen, während die Zinsen für seine Anleihen rasant ansteigen und die Wirtschaft in die Rezession abstürzt (2011 betrug das Minuswachstum 3 Prozent). Dass die Sparschraube in Staaten mit hoher Massenarbeitslosigkeit angezogen wird, ist nichts Neues. Es war das sozialökonomische Patentrezept, das in den 1930er Jahren in Frankreich und in Deutschland angewandt wurde. Die französischen Sozialisten erklärten damals mit Recht, dass eine Politik der Deflation, also sinkender Staatsausgaben, „die Krise verschärft, die Produktion zurückgehen lässt und die Steuereinnahmen mindert“.3
Über die Dummheit der jetzigen politischen Maßnahmen wird sich aber nur wundern, wer noch immer glaubt, diese würden im Namen des Gemeinwohls ergriffen und nicht im Interesse einer Oligarchie von Privatiers, die an den staatlichen Schalthebeln sitzt. Wenn die Finanzwelt ein Gesicht hat, dann das dieser Leute. Wenn man den Feind beim Namen nennt, kann man ihn besser bekämpfen.
Falls es in Frankreich zu einem politischen Wechsel kommt, müsste der neue Präsident zuerst vor allem den Fiskalpakt – oder ähnliche Austeritätsmaßnahmen – aufkündigen. Denn davon hängt alles weitere ab: die Bildungspolitik wie Fragen des öffentlicher Dienstes und der Steuergerechtigkeit bis hin zur Beschäftigungspolitik. François Hollande will eine Trennung zwischen dem europäischen Solidaritätsmechanismus, den er befürwortet, und der liberalen Schocktherapie, die er ablehnt. Er hat sich dazu verpflichtet, den Fiskalpakt „neu auszuhandeln“, um ihn durch einen Abschnitt „Wachstum und Beschäftigung“ zu ergänzen und das Ganze durch europäische Industrieprojekte zu flankieren.
„Im Rahmen dieser Verträge kann es keine linke Politik geben“, erklärt dagegen Jean-Luc Mélenchon. Der Kandidat des Linksbündnisses Front de gauche ist deshalb gegen den Fiskalpakt wie auch gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der gefährdeten Ländern Finanzhilfen verspricht, wenn sie sich auf drakonische Maßnahmen der Haushaltssanierung einlassen. Die grüne Kandidatin Eva Joly setzt sich darüber hinaus für ein „europäisches Schuldenaudit“, also eine Überprüfung des Schuldenstands durch die demokratische Öffentlichkeit ein. Die trotzkistischen Kandidaten, Philippe Poutou und Nathalie Arthaud, wollen die Staatsschuld sogar für illegitim erklären, und zwar mit dem Argument, ihr aktuelles Niveau sei im Wesentlichen die Folge zu niedriger Steuereinnahmen und zu hoher Zinsen, die an die Gläubiger gezahlt werden.
All das ist für die meisten europäischen Länder, allen voran Deutschland, kein Thema. Sie wollen die Verträge nicht neu verhandeln. Und sie wollen den Ländern mit Haushaltsproblemen keine größeren Summen leihen, wenn sie nicht ihre „gute“ Haushaltsführung unter Beweis stellen, sprich: weitere Privatisierungsmaßnahmen akzeptieren und wesentliche Bereiche ihres sozialen Netzes zur Disposition stellen, also etwa die Höhe von Renten, Arbeitslosengeldern und Mindestlöhnen.
In einem Interview mit dem Wall Street Journal meinte der Präsident der EZB, Mario Draghi, ironisch, die Zeiten, als die Europäer reich genug waren, „dass sie sich leisten konnten, für jeden zu zahlen, der nicht arbeitet“, seien vorbei. Der frühere Goldman-Sachs-Vizepräsident erklärte außerdem, eine „gute“ Haushaltskonsolidierung zeichne sich dadurch aus, dass „die Steuern niedriger sind“ (was nicht einmal Nicolas Sarkozy vorschlägt) und „die niedrigeren Staatsausgaben in Infrastrukturmaßnahmen und andere Investitionen fließen“.4
Ein linker französischer Staatspräsident hätte nicht nur die meisten (zumeist konservativen) europäischen Regierungen gegen sich, sondern auch die EZB sowie die EU-Kommission unter dem Vorsitz von José Manuel Barroso. Bewusst haben sich also die Premierminister Großbritanniens, Polens und Italiens wie auch die deutsche Kanzlerin geweigert, den aussichtsreich im Rennen liegenden François Hollande zu empfangen. Sie halten ihn für unbequemer als den jetzigen Präsidenten.
„Wir sind ganz sicher nicht für Neuverhandlungen“, hat der niederländische Finanzminister Jan Kees de Jager bereits angekündigt. „Wenn François Hollande hingegen mehr Reformen durchsetzen will, zum Beispiel bei der Liberalisierung der Dienstleistungen oder bei Arbeitsmarktreformen, dann sind wir auf seiner Seite.“ Kurzum: Die Unterstützung wäre einem linken französischen Staatspräsidenten wie Hollande dann sicher, wenn seine Politik noch marktliberaler ausfällt als die von Sarkozy.
Angela Merkel macht aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl. Sie war sogar zu Auftritten bei Wahlveranstaltungen der französischen Konservativen bereit. Die deutschen Sozialdemokraten bringen weit weniger Begeisterung für ihre Genossen jenseits des Rheins auf. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bekundete zwar seine Solidarität mit François Hollande,5 aber Peer Steinbrück, der sich ebenfalls Hoffnungen macht, die Kanzlerin bei den Wahlen im Herbst 2013 abzulösen, hat das Vorhaben Hollandes, die europäischen Vereinbarungen neu zu verhandeln, als „naiv“ bezeichnet. Sollte Hollande gewählt werden, fügte er hinzu, könnte seine „konkrete Politik“ von seinen Aussagen im Wahlkampf abweichen.6
Dass es so kommt, lässt sich tatsächlich nicht ausschließen. Schon 1997 hatten die französischen Sozialisten vor den Parlamentswahlen versprochen, den in Amsterdam unterzeichneten Europäischen Stabilitätspakt neu zu verhandeln. Der damalige Parteivorsitzende Lionel Jospin sah darin „ein absurdes Zugeständnis an die deutsche Regierung“. Doch als die französische Linke dann Regierungsmacht ausübte, erreichte sie kaum mehr, als dass die Bezeichnung „Stabilitätspakt“ zu „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ erweitert wurde.
Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici, ehemals Europaminister im Kabinett von Jospin, ist 2003 noch einmal auf diese semantische Pirouette zurückgekommen. Was er damals, ein Jahr nach dem Ende der Regierung Jospin geschrieben hat, lässt einen fast zwangsläufig an die Situation denken, die nach der Wahl vom 6. Mai eintreten könnte: „Der Amsterdamer Vertrag war ausgehandelt worden, und zwar sehr schlecht, bevor wir die Regierungsgeschäfte übernahmen. Er hatte viele Mängel – vor allem was die sozialen Inhalte betrifft […] Die neue Regierung hätte ihn nicht unterzeichnen müssen […] oder zumindest neue Verhandlungen verlangen können.“
Warum sie das dann am Ende nicht getan hat, erklärte Moscovici damit, dass man damals eine dreifache Krise vermeiden musste: Erstens „eine deutsch-französische Krise, weil ein Rückzieher unsererseits das Verhältnis zu diesem wichtigen Partner von Anfang an schwierig gemacht hätte“; zweitens eine „Krise im Verhältnis zu den Finanzmärkten, die den Vertrag ratifiziert haben wollten“; und drittens eine „Krise der Kohabitation“, das heißt im Zusammenwirken zwischen der Regierung und dem rechten Präsidenten Jacques Chirac.
Aus all diesen Gründen habe sich „Lionel Jospin zu Recht dafür entschieden, das Terrain zu meiden, einen elastischen Rückzug und zugleich Ausweg nach vorn zu suchen“. Dieses Kunststück sei ihm damit gelungen, dass er „als Gegenleistung für die Zustimmung zum Amsterdamer Vertrag die erste Entschließung des Europäischen Rats zu Wachstum und Beschäftigung durchsetzte“.7
Sollte die Linke diesmal sowohl die Präsidentschaftswahlen als auch die kurz darauf folgenden Parlamentswahlen gewinnen, wäre das Szenario in zweifacher Hinsicht anders. Einerseits gäbe es nicht, wie vor 15 Jahren, eine geteilte Exekutive. Andererseits ist die politische Balance in Europa, die sich 1997 in Richtung Mitte-links neigte, inzwischen nach rechts gekippt. Allerdings äußert heute selbst ein so konservativer Regierungschef wie der Spanier Rajoy Bedenken gegen die Rosskur des Dauersparens, die ihm die Deutschen verordnen wollen. Am 2. März gab er seine „souveräne Entscheidung“ bekannt, dass er sich die Zwangsjacke der europäischen Haushaltsdisziplin nicht einfach überziehen wolle.
Zugleich verlangte ein Dutzend weiterer Länder, darunter Italien, Großbritannien und Polen, eine Neuorientierung der vom deutsch-französischen Tandem ausgeheckten Wirtschaftspolitik. François Hollande könnte sich freuen. Hofft er doch, dass seine Wahl die europäischen Kräfteverhältnisse so verändert, dass ihm erspart bleibt, was ihm offensichtlich gar nicht behagt: eine Kraftprobe mit etlichen europäischen Regierungen, der EZB und der Brüsseler Kommission.
Allerdings hat die Neuausrichtung, die sich die neoliberalen Regierungen wünschen, wenig mit der zu tun, die Hollande und seine Freunde empfehlen. Für die einen ist „Wachstum“ gleichbedeutend mit einer Angebotspolitik à la Thatcher (mittels Steuersenkungen, Abbau sozialpolitischer Errungenschaften und umweltpolitischer Regelungen), die anderen setzen voraus, dass dazu ein Paket staatlicher Investitionen (in Bildung, Forschung, Infrastruktur) erforderlich ist.
Diese Zweideutigkeit lässt sich auf Dauer nicht durchhalten. Sehr schnell wird man den „europäischen Ungehorsam“ ins Auge fassen müssen, wie ihn Mélenchon und andere Kräfte der Linken empfehlen. Es sei denn, man macht einfach und ohne Hoffnung weiter wie bisher.
Obwohl sich Sarkozy und Hollande in manchem unterschieden– zum Beispiel in Sachen Steuergerechtigkeit –, so haben sie doch beide die entscheidenden europäischen Verträge befürwortet, von Maastricht 1990 bis Lissabon 2009. Beide haben die drakonischen Ziele für den Abbau des Haushaltsdefizits (auf höchstens 3 Prozent des BIPs für 2013, auf 0 Prozent für 2016 oder 2017) gebilligt. Beide sind gegen Protektionismus und setzen voll auf Wachstum. Und beide vertreten dieselbe Außen- und Verteidigungspolitik, seit die französischen Sozialisten nicht einmal mehr die Wiedereingliederung Frankreichs in die integrierte Kommandostruktur der Nato infrage stellen.
Doch jetzt ist die Zeit gekommen, mit all diesen Dogmen zu brechen. Ein Präsidentenwechsel ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Aber weder die Geschichte der linken Regierungen noch der aktuelle Wahlkampf erlauben die Vorstellung, dass diese Voraussetzung schon hinreichend sein könnte .