13.04.2012

Das große und das kleine Glück Europas

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Das große und das kleine Glück Europas

von Neal Ascherson

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Es klingt auf düstere Weise prophetisch: „Der Tod der heutigen Formen der sozialen Ordnung sollte die Seele eher erfreuen als beunruhigen. Das Erschreckende ist jedoch, dass die scheidende Welt nicht etwa einen Erbfolger hinterlässt, sondern eine schwangere Witwe. Zwischen dem Tod der einen und der Geburt der anderen Ordnung wird viel Wasser fließen, wird es eine lange Nacht voller Chaos und Verwüstung geben.“

Diese Sätze stammen von Alexander Herzen. Der russische Demokrat schrieb sie im Exil, kurz nachdem die Revolutionen von 1848 in ganz Europa gescheitert waren. Danach hatten die alten Imperien alles wieder im Griff. Aber dass 1848 ein Vorbote ihres endgültigen Untergangs war, das war Herzen bewusst. Wie dieser Untergang aussehen und welche neue Ordnung die alten Reiche ablösen würde, darüber konnte er nur Spekulationen und Befürchtungen äußern.

Wie vieles, was Herzen damals geschrieben hat, scheinen die zitierten Sätze zunächst mehr über Russland auszusagen als über den Westen und Zentraleuropa. In seinen Londoner Exiljahren hat er einmal die Traditionen der russischen und der polnischen Revolutionäre verglichen: Die Polen hätten zahllose Reliquien der Vergangenheit, von denen sie sich inspirieren lassen könnten, die Russen dagegen hätten nichts als „leere Wiegen“. Auch nach dem Aufstieg und Fall der bolschewistischen Revolution, die für das kurze 20. Jahrhundert so ungeheuer folgenreich war, und nach zehn rätselhaften Putin-Jahren wissen wir immer noch nicht, was für ein Kind die schwangere Witwe Russland am Ende in ihre Wiege legen wird.

Wenn ich heute Herzens Sätze lese, muss ich an die große „Matrjoschka“ Europa denken: ein Kontinent, der vom Atlantik bis zum Ural reicht, in dem aber eine kleinere EU steckt und darin eine wiederum kleinere Eurozone – die noch weiter schrumpfen könnte. In dem großen Europa sind seit Ende der 1980er Jahre zwei Formen sozialer Ordnung abgestorben: die kommunistische, die in das mehr als 40 Jahre währende System des Kalten Kriegs eingebettet war, und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, der sich in Westeuropa nach 1945 herausgebildet hat. Der erste Tod mag die Seele erfreuen, der zweite sollte sie verstören.

Im dunklen Korridor zwischen alter und neuer Ordnung

Hat uns die von Herzen prophezeite „lange Nacht voller Chaos und Verwüstung“ heimgesucht? Die letzten 25 Jahre konnten in Europa allenfalls diejenigen als Verwüstung erfahren, die der neoliberal entfesselte Kapitalismus zu Verlierern gemacht hat. Chaos dagegen haben wir europa- und weltweit reichlich erlebt, ausgelöst durch die Finanzkrise und die politischen Umwälzungen, die schon vorher die Blockdisziplin des Kalten Kriegs aufgebrochen hatten.

Zwanzig Jahre danach schwindet die Begeisterung für eine ungezähmte Marktwirtschaft zusehends, und wir haben – wie Herzen nach 1848 – das Gefühl, in einem dunklen Korridor, am Übergang zwischen alter und neuer Ordnung angelangt zu sein. Wobei die ersten schmerzhaften Wehen, die in ganz Europa und im eurasischen Raum zu spüren sind, nicht unbedingt anzeigen, dass die Geburt unmittelbar bevorsteht.

Es gibt eine Geschichte über „displaced persons“, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Auffanglager irgendwo in Deutschland zugetragen haben soll. Ein KZ-Überlebender wird von Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes und der UN-Flüchtlingsorganisation gefragt: „Nun, Mr Lemberger, und wohin würden sie jetzt gerne gehen?“ – „Nach Neuseeland.“ – „Neuseeland? Aber das ist furchtbar weit weg!“ – „Weit weg von was?“

Für mich, der ich noch zu Kriegszeiten geboren wurde, bedeutete Europa nichts Gutes. Von dort kamen die Heinkel- und Dornier-Flugzeuge, Europa war das Feindesland jenseits des Kanals, das uns erst dank des D-Days in der Normandie wieder zugänglich wurde. Auf dem Kontinent dort drüben hatte es herzzerreißendes Leid und Grausamkeiten gegeben, aber auch mutigen Widerstand, und doch behielt das Wort „Europa“ für mich wie für viele Briten noch lange einen unheilvollen Klang.

In den 1950er Jahren ging ich zu Kundgebungen des britischen Faschistenführers Oswald Mosley, dessen Rhetorik billig war und doch berauschend wie der Flug im Kettenkarussell auf dem Rummelplatz. Mosley predigte ein Vereintes Europa, das die Zivilisation vor dem Bolschewismus retten sollte. Später glaubte ich wie die meisten meiner Freunde – wir waren eher der Labour-Linken zugeneigt –, die europäische Einigung sei ein Komplott von katholischen Konservativen (von denen wir die meisten für Nazikollaborateure hielten) mit dem Ziel, die deutsche Wiederbewaffnung zuzulassen und die Sowjetunion mit Atombomben einzudecken.

Als ich später in Westdeutschland lebte, hörte ich bald auf, mich über die jungen Deutschen zu mokieren, die ernsthaft erklärten, dass sie sich als Europäer und nicht als Deutsche fühlten. Europa bedeutete für sie: Neutralität, Versöhnung, offene Grenzen. Schon Jahre vorher waren einige von ihnen über die Rheinbrücke zwischen Kehl und Strasbourg gezogen, um im Namen des neuen Europas die Grenzbarrieren einzureißen. Zu ihrer Überraschung wurden sie von den französischen Grenzern nicht etwa brüderlich begrüßt, sondern verprügelt und in Polizeiautos abtransportiert.

Damals empfand ich Grenzen noch eher als Schutzanlagen, da in meinem Kopf noch die Bilder von den lachenden Wehrmachtssoldaten steckten, die am 1. September 1939 den polnischen Grenzschlagbaum aus den Angeln hoben.1 Aber dann entdeckte ich einen polnischen Roman. Die Handlung spielte, um den Zensor zu beschwichtigen, in einem winzigen Streifen zwischen Belgien und Deutschland, den die Landvermesser bei der Neufestlegung der europäischen Grenzen nach den Napoleonischen Kriegen schlicht übersehen hatten. Auf diesem Fleckchen lebte eine Handvoll freier Menschen – ohne Militärdienst, Ausweispapiere, Steuern und Zensoren. Glückliche staatenlose Europäer.

Vierzig Jahre lang hielt ich die Geschichte für eine sentimentale Erfindung. Dann fand ich heraus, dass dieser Fleck Erde tatsächlich existiert. Und inzwischen bin ich hingefahren. Das heute zu Belgien gehörende Gebiet wurde schon mit vielen Namen belegt. Am besten gefällt mir die „Akwizgranische Diskrepanz“. Häufiger wurde es auch als Neutral-Moresnet, als Kelmis oder als La Calamine bezeichnet. Die Bewohner selbst wollten es „Amikejo“ nennen.

Für den polnischen Autor war der Ort nichts als ein kartografischer Fehler, weil da, wo drei Linien zusammentreffen sollten, ein kleines Dreieck weiß geblieben war. In Wirklichkeit war es so, dass sich auf dem Wiener Kongress die preußischen und niederländischen Diplomaten nicht einigen konnten, an wen eine wertvolle Zinkspatmine fallen sollte, weshalb sie das Gebiet für neutral erklärten. 1830 entstand das Königreich Belgien. Jetzt trafen die vier Territorien (preußische Rheinprovinz, Niederlande, Belgien und Neutral-Moresnet) auf einer bewaldeten Kuppe zusammen, auf der noch heute die vier Grenzsteine stehen.2

Die „Diskrepanz“ ist ein winziges Dreieck, an dessen südlichem Ende das triste Städtchen Kelmis/La Calamine liegt. Für mehr als hundert Jahre lebten die Einwohner vom Schnapsschmuggel (insbesondere nachdem die Zinkspatmine erschöpft war) und von den etwa siebzig Bars und Cafés, die in ihrem Eckchen aufmachten. Als im Lauf der Zeit dann Flüchtlinge und Vertriebene aus anderen europäischen Ländern dazukamen, wuchs die Bevölkerung um das Zehnfache.

1886 brachte ein schnauzbärtiger Arzt namens Wilhelm Molly einen Satz Briefmarken heraus, die jedoch von den Preußen und Niederländern aus dem Verkehr gezogen wurden. Beide beriefen sich dabei auf den Code Napoléon, dem zufolge Postangelegenheiten ein Monopol des französischen Kaiserreichs waren. Dieses Gesetz war also nach preußisch-niederländischer Auffassung auch siebzig Jahre nach Ende des napoleonischen Reichs in der Enklave noch irgendwie in Kraft.

1908 riefen Molly und seine Freunde einen Esperanto-Staat aus, den sie Amikejo – Ort der Freundschaft“ auf Esperanto – nennen wollten. Die Amikejaner begannen mit großem Eifer, Esperanto zu lernen, bald gab es auch eine Flagge und eine Hymne. Doch inzwischen machte das Deutsche Kaiserreich Ansprüche auf das Territorium geltend und unterstrich diese durch wiederholtes Kappen der Strom- und Telefonleitungen. 1914 marschierten deutsche Truppen auf ihrem Weg nach Belgien in Moresnet ein und annektierten Amikejo. Dabei sollen sie mehrere Esperantisten erschossen haben. In den Versailler Verträgen wurde das Dreieck samt der umliegenden Gebiete Belgien zugesprochen. Es war das Ende einer hundertjährigen verstohlenen Unabhängigkeit.

Heute erinnert sich kaum noch jemand an die verlorene Freiheit. Es gibt keine Amikejo-Fähnchen, keine Briefmarkenreproduktionen, nichts. Die Kneipe, wo die Einwohner ihre feierliche Entscheidung für Esperanto trafen, wurde zur Skyline-Disco, von der heute nur noch ein vollgeregnetes Loch im Boden übrig ist. Geblieben sind nur die alten Grenzsteine im Wald.

Das Vergessen hat einen Grund. Diese Ecke von Belgien ist ein linguistischer Flickenteppich aus französisch- und deutschsprachigen Gemeinden, bisweilen wechselt die Beschriftung der Verkehrsschilder alle paar Kilometer. Kelmis (oder La Calamine) ist zweisprachig, obwohl die meisten Leute im Alltag Deutsch sprechen. Aber im Gegensatz zu den erbitterten Fehden zwischen dem französisch- und flämischsprachigen Belgien gibt es hier keinen Streit. In der Friterie an der Rue de Liège sagt man mir: „Hier schert sich niemand darum, was du sprichst.“ Und die Leute wollen, dass das so bleibt.

Diese Geschichte hat aber auch eine gesamteuropäische Bedeutung. Sie beweist, dass ein Kleinsteuropa ohne Grenzen existieren konnte. Sie erzählt von einer Zeit, da Nationalstaaten weniger unter einem Horror Vacui litten und bei ungeklärter Souveränität nicht gleich in Panik verfielen. Die „Akwizgranische Diskrepanz“ verhieß Europäern, die in Diktaturen lebten, einen sanften Traum von einem Niemandsland zwischen den bewaffneten Mächten, in dem sie Zuflucht finden und auf winzig kleinem Raum ein authentisches Leben führen könnten. Zugleich war Le Moresnet/Amikejo auch eine Art Wurmloch, das durch zwei Kriege hindurch bis in unser heutiges Maastricht-Europa führt: keine Zollschranken, keine Grenzsperren, die allgemeine Wehrpflicht meist nur noch ferne Erinnerung, keine nationalen Währungen, keine Angst, wegen mehr oder weniger kurioser Minderheitenpositionen verhaftet zu werden.

Ein Niemandsland namens Freundschaft

Und doch ist Europa noch heute, in unserer unbestreitbar humaneren Zeit, eine Region geblieben, in der sich immer wieder ein Überdruck aufbaut, der mal kreative, manchmal aber auch destruktive Wirkungen haben kann – was unter anderem mit seiner kulturellen und ethnischen Heterogenität zu tun hat, die bei jedem Vergleich mit den USA ins Auge springt.

Das auffälligste Merkmal des modernen Europa ist seine Vielfalt. Doch das war nicht immer so, wie Perry Anderson in seinem klugen Buch über die „Neue Alte Welt“ gezeigt hat.3 Die kritischen Köpfe der Aufklärung waren, anders als wir, begeistert von den Ähnlichkeiten und Symmetrien zwischen den europäischen Staaten. Ihre Vorstellung von Europa als einem Körper mit harmonisch proportionierten Gliedmaßen rührte von der weitgehenden Ähnlichkeit der Umgangsformen, Gebräuche, Gesetze und religiösen Überzeugungen her. Für Voltaire war Europa „eine Art großer Republik, die in mehrere teils rein monarchische, teils konstitutionelle, teils aristokratische, teils demokratische Staaten zerfiel, welche jedoch sämtlich miteinander harmonierten“.4

Der schottische Historiker William Robertson (1721–1793) beschrieb die Staaten Europas als eine einzige Gemeinschaft, die sich durch eine allgemeine Ähnlichkeit und eine „große Überlegenheit gegenüber dem Rest der Menschheit“ auszeichne. Nur Rousseau versetzte der Idee vom universellen Europäer einen Dämpfer, als er 1770 schrieb: „Wir haben heutzutage nur Europäer, durchweg mit demselben Geschmack, denselben Leidenschaften, denselben Gebräuchen, die alle vom Gemeinwohl reden und dabei nur an sich selber denken, die alle Mäßigung vortäuschen und wie Krösus sein wollen […] Was schert sie, welchem Herren sie dienen, welches Staates Gesetzen sie gehorchen? Sie sind überall zu Hause, wenn sie nur Gelegenheit finden, Geld zu stehlen und Frauen zu verderben.“

Mit der Französischen Revolution, oder genauer: den anschließenden Napoleonischen Kriegen, hat sich die noch auf der Aufklärung beruhende Sichtweise stark verändert. Im damaligen Nachkriegseuropa gab es keine natürliche Balance: Nach Napoleon waren die Pläne zur europäischen Einheit zugleich Allianzen, mit denen sich die mächtigen Staaten gegenseitig in Schach hielten. Aber die Regelung von 1815 hielt gerade deshalb so lange, weil die „Heilige Allianz“ aus den übermächtigen und expansionistischen Staaten Europas bestand und sich auf einen dynastischen Absolutismus und die Unterdrückung jeglicher – sozialer oder nationaler – Revolution verpflichtet hatte.

Der Wiener Kongress ließ das winzige Le Moresnet entstehen, betonierte aber die Herrschaftsverhältnisse in einem Großteil des Territoriums, das zuvor das unabhängige Polen ausgemacht hatte. Intellektuelle und einzelne Politiker entwarfen zwar weiter Pläne für eine europäische Einigung. Anders als ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert erklärten sie jedoch nicht die Parallelen, sondern die Unterschiede zwischen den europäischen Staaten zu einem Vorzug. Der nach 1830 überaus einflussreiche französische Politiker François Guizot betrachtete die Konflikte zwischen den disparaten Einheiten auf ziemlich dialektische Weise als gemeinsame Kraftquelle Europas. Eine ähnliche Ansicht vertraten im deutschsprachigen Raum die Historiker Jacob Burckhardt und Leopold von Ranke. Burckhardt feierte Europas „vielartigen Reichtum“ und wertete die große Vielfalt widerstreitender Ideen, Individuen und Nationen nachgerade als historischen Glücksfall.

Sie alle waren mehr oder weniger konservative Geister. Doch auch die europäische Linke träumte im 19. Jahrhundert von den „Vereinigten Staaten von Europa“, aber für die republikanischen Kräfte und die frühen Sozialisten sollte das vereinte – oder föderale – Europa in erster Linie einen Krieg verhindern. Diese pazifistische Strömung erhielt durch den Ersten Weltkrieg neuen Auftrieb. In der europäischen Linken wurde der Gedanke so leidenschaftlich vorgetragen, dass er Debatten über die wirtschaftliche und soziale Ausgestaltung eines vereinten Europas in den Hintergrund drängte und konkretere Entwürfe einer solchen Union eher verhinderte. In der Zwischenkriegszeit herrschte an hochfliegenden föderativen Visionen kein Mangel, doch der erste praktische Schritt kam von der französischen Regierung, deren Außenminister Aristide Briand 1929 vor der Versammlung des Völkerbunds eine europäische Union vorschlug.

Aus dem Plan wurde damals nichts. Doch nach 1945 wurden immerhin drei seiner Elemente unter den Kriegstrümmern hervorgezogen. Das war erstens der Gedanke, dass das politische Projekt einer europäischen Union einen internationalen Rahmen braucht, der auch Deutschland einbezieht, und zwar um die deutsche Macht im Zaum zu halten. Zweitens hatte jede Union mit einer Vereinbarung über die wirtschaftliche und industrielle Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland zu beginnen.

Drittens musste der „Aufbau Europas“ institutionell und ökonomisch von oben nach unten erfolgen, bewerkstelligt von internationalen Technokraten und unter Schirmherrschaft der Regierungen. Die Idee, dass „das Volk von Europa“ eine aktive Rolle spielen oder auch nur befragt werden sollte, kam den Politikern nicht. Es gab ja auch gar kein europäisches Volk. Irgendwann würde es vielleicht so weit sein, dann könnte eine echte, demokratisch legitimierte Föderation möglich werden, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber darauf zu warten war sinnlos.

Perry Anderson verfolgt diese „technokratische Linie“ bis auf die Schriften von Henri de Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert zurück. Auch der französische Frühsozialist habe lediglich gewollt, dass „Europa selbst nicht mehr von Krieg bedroht war und sich um industrielles Wachstum und wissenschaftlichen Fortschritt zum Wohle aller seiner Klassen bemühte“. Wo immer die Idee herkam, jedenfalls setzte sich nach 1945 erneut die Vorstellung durch, dass die Integration Europas nur von oben durchgesetzt werden könne.

Im Folgenden will ich gegen diese Version der Geschichte drei ketzerische Einwände vorbringen, wobei nur einer von mir stammt. Der erste Einwand lautet, dass viele Historiker, die über das 20. Jahrhundert schreiben, ein Kapitel aus den Augen verloren haben, das man mit „Widerstandsfrühling“ überschreiben könnte. Die europäische Résistance war ja nicht nur ein Aufstand gegen die faschistischen Besatzer. Sie war zugleich ein Aufbruch in die Zukunft, getragen von Hoffnung und Idealismus, und von Männern und Frauen aller Nationen auf dem gesamten Kontinent. Sie brachte Programme für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Wandel hervor, die anfangs in den verschiedenen Ländern verblüffend ähnlich formuliert waren. Ihr historischer Kontext war national-patriotisch. Deshalb gehört sie ganz klar in die Folge nationaler Erhebungen, die 1848 begonnen und 1989 ihren – vorläufigen – Höhepunkt erreicht haben.

Dieser Widerstandsfrühling begann im Laufe des Jahres 1943 und endete gegen 1948, als er durch den Kalten Krieg überlagert wurde, der dann neue Bündnisse erzwang. Die Sowjetunion wies die Kommunisten im Westen an, die antifaschistische Solidarität aufzukündigen und mit ihren alten Kampfgenossen im sozialdemokratischen, liberalen oder christdemokratischen Lager zu brechen. Diesen Bruch wollten auch die US-Amerikaner, die vor allem darauf bedacht waren, den sowjetischen Einfluss vom Westen Deutschlands fernzuhalten.

Die Widerstandsbewegungen waren sich in zwei Grundgedanken einig: Erstens hatte in ihren Ländern die Vorkriegsordnung bei der Verteidigung der Demokratie oder der nationalen Unabhängigkeit versagt. Für den Zusammenbruch dieser liberalkapitalistischen Systeme war zum Teil die an Hochverrat grenzende Korruption der alten Eliten verantwortlich. Da unter ihnen tatsächlich Leute waren, die mit den Nazibesatzern kollaboriert hatten, musste die Befreiung mit tiefgreifenden institutionellen und gesellschaftlichen Veränderungen einhergehen. Zweitens waren diese Veränderungen in alle Programme der Résistance – von Polen über Italien und Griechenland bis Frankreich und den Niederlanden – in eine Form stabiler, wohlfahrtsstaatlicher Demokratie eingebettet. Es war eine Art von „sozialistischem“ System, das aber wenig mit dem sowjetischen Modell zu tun hatte, weil es eine pluralistische politische Demokratie vorsah, in der alle „bürgerlichen Freiheiten“ garantiert sein sollten. Hinzu kommen sollten allerdings ein progressives Steuer- und Wirtschaftssystem, eine allgemeine Krankenversicherung und die weitgehende Nationalisierung der Industrie, des Finanzsektors und des Transportwesens.5

Nicht ganz so eindeutig war die Haltung der führenden Kräfte der Résistance und der in London sitzenden Exilregierungen der besetzten Länder in Bezug auf eine gesamteuropäische Nachkriegsordnung. Schließlich kämpften und starben ihre Anhänger, um eine Form des vereinigten Europa, nämlich Hitlers neue Kontinentalordnung, zu bezwingen. Proeuropäische Bekenntnisse hörte man damals zumeist von Leuten, die sich den Waffen-SS-Divisionen „Nordland“ oder der „légion des volontaires français“ anschließen wollten, um die „westeuropäische Zivilisation“ gegen die bolschewistischen Horden zu verteidigen. Zwar hofften die Widerstandsbewegungen auf einen brüderlichen, antifaschistischen Kontinent unter Einschluss Großbritanniens, in dem die neu erstandenen Nationen in Frieden und Wohlstand nebeneinander leben konnten. Doch ihre Vorstellungen von den europäischen Institutionen waren verschwommen.

Wir malen uns gern aus, dass die jungen Männer und Frauen, die damals in den Wäldern auf den nächsten Fallschirm mit Waffen für ihren Partisanenkampf warteten, von einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft träumten. Aber das taten sie nicht. Sie kämpften, um ihr Land zu befreien. Ihr Antrieb war ein altmodischer Patriotismus, der Wunsch, ihre geschändeten Staaten zu befreien, auszumisten und neu aufzubauen. Das bringt mich zu meinem zweiten ketzerischen Einwand, der auf den 2010 verstorbenen Wirtschaftshistoriker Alan Milward zurückgeht.

In seinem mit zwei Kollegen verfassten und noch heute viel diskutierten Buch „The European Rescue of the Nation-State“6 nimmt Milward die Standarddarstellungen über den Weg zur Europäischen Gemeinschaft auseinander und spöttelt insbesondere über die verbreitete Idee, dass Europas Gründungsheilige darauf aus waren, den Nationalstaat abzuschaffen und auf eine neue Ebene zu heben. Zweck und Ziel der frühen EWG war aber ganz im Gegenteil, die durch den Krieg physisch wie moralisch schwer angeschlagenen Nationalstaaten zu retten, zu reorganisieren und mit neuer Legitimation auszustatten.

Die supranationalen Institutionen waren also kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zu diesen nationalen Zweck. Die Gründerväter haben den Nationalstaat als „Fundament einer besseren europäischen Ordnung“ also keineswegs verworfen, argumentiert Milward, ihr Ruhm und ihre Erfolge beruhten vielmehr just darauf, dass sie sich über die positive Rolle des Nationalstaats beim Aufbau einer Nachkriegsordnung genau im Klaren waren. Zugleich aber „erkannten sie auch – oder stolperten über – die Notwendigkeit einer begrenzten Aufgabe von nationaler Souveränität, durch die der Nationalstaat und Westeuropa gestärkt wurden, und zwar nicht als separate und gegensätzlich Einheiten, sondern in einem Prozess der gegenseitigen Stärkung“.

Das ist sicher richtig. Die Regierungen des befreiten Europa gingen, wie die Widerstandskämpfer, vom Primat der Nation aus, von der Notwendigkeit, den diskreditierten Staat durch einen besseren zu ersetzen, durch einen, der sich Legitimität in den Augen seiner Bürger verschaffen konnte. Dasselbe gilt für die Volksrepubliken von Ost- und Zentraleuropa in den paar Jahren, bevor die volle Sowjetisierung mittels Terror durchgesetzt war. Doch die allerersten Voraussetzungen für einen legitimen Staat – also Nahrungsmittel und Bekleidung in die Läden zu bringen oder die zerstörten Verkehrsnetze instand zu setzen – waren nur durch übernationale Vereinigung und Vernetzung der Produktionskapazitäten zu schaffen.

So kam es denn auch. Jean Monnet organisierte die Montanunion (die offiziell „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ hieß) nicht etwa, weil er von einer Union träumte. Was immer seine Bewunderer später sagten, er tat dies, um die französische Stahlindustrie am Leben zu halten und Frankreich den Zugriff auf einen Teil der deutschen Kohleproduktion zu sichern. Und das funktionierte. Die ökonomische und politische Integration hat im Laufe von mehr als fünfzig Jahren eine Union überwiegend selbstbewusster und stabiler Nationalstaaten entstehen lassen, die – ernährt durch eine erstaunlich schlanke Brüsseler Bürokratie – noch weiter anwächst.

Die Europäische Union – ein kostbares Kollektivwesen

Sind die 27 EU-Staaten, von denen die meisten bis zum Ausbruch der sich wie die Schweinegrippe ausbreitenden Verschuldungskrise gesund und stabil waren, tatsächlich noch auf die EU-Institutionen angewiesen? Milward glaubt, dass das historische Selbstporträt der EU wie in Cinemascope aufgemotzt und im Grunde großer Unfug ist.

In den dreißig „glorreichen Jahren“, die 1975 zu Ende gingen, erlebte Westeuropa die längste Friedensperiode seiner Geschichte und einen rasanten Anstieg der Realeinkommen. Aber verdanken wir diesen Frieden und Wohlstand der alten EWG? „Wir haben Krieg zwischen europäischen Nationen undenkbar gemacht“, lautete die Behauptung, aber haben dafür nicht vielmehr die Amerikaner und der Kalte Krieg gesorgt? Und der Wohlstand? Die Abschaffung der Zölle und der freie Verkehr von Gütern, Geld und Menschen waren zweifellos eine Voraussetzung für den Wirtschaftsboom. Aber dazu hat Brüssel wenig beigetragen, wenn wir Milwards ebenso bitterer wie messerscharfer Analyse folgen. Es waren eher die restaurierten Nationalstaaten, die für die Investitionen sorgten und die Risiken übernahmen.

In diesen dreißig Jahren bestand ein sozialdemokratischer Konsens: starke interventionistische Staaten mit einem großen öffentlichen Sektor und dem Ziel, für Vollbeschäftigung und die Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu sorgen. Der im August 2010 verstorbene Tony Judt7 hat uns aufgefordert, vom 20. Jahrhundert nicht nur die Schrecken im Gedächtnis zu behalten. In der Tat gehören die Stabilität und die soziale Gerechtigkeit in Westeuropa nach 1945 zu den großen Errungenschaften der Menschheit.

Auf diese Phase folgten dreißig Jahre des – inzwischen verblassenden – neoliberalen Dogmas, das uns den Schlamassel beschert hat, in dem wir heute sitzen. Dass der Nationalstaat seine mühsam gewonnene Legitimität einbüßt, wenn er öffentliche Einrichtungen privatisiert, die für das Leben der Menschen wichtig sind, war keine Überraschung. Je mehr sich der Staat von den Bürgern entfernte, umso mehr verloren die das Interesse an den demokratischen Prozessen. In jüngster Zeit bemühen sich die europäischen Regierungen, die verlorene Autorität neu zu begründen. Bezeichnenderweise versuchen sie das unter anderem dadurch, dass sie die supranationale Integration beschleunigen, statt sie zu verlangsamen.

Mein eigenes Bild von unserem heutigen Europa ist das eines lebenden Schwamms, eines knautschigen Gebildes unbestimmter Ausdehnung, eines kostbaren und wunderschönen Kollektivwesens, in dessen offenen Poren ungezählte Gastorganismen schwimmen oder sich einnisten und vermehren. Es wird nie ein klirrender, stählerner Superstaat sein, der blitzartig über Krieg und Frieden entscheiden kann. Und es wird für seine eigene Verteidigung in Wahrheit immer auf andere Mächte angewiesen sein.

Der Rechtsphilosoph Samuel von Pufendorf hat in seinem 1667 veröffentlichten Werk „De statu imperii Germanici“ das Heilige Römische Reich als „irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper“ („irregulare aliquod corpus et monstro simile“) beschrieben. Ein paar hundert Jahre später wurde der verschachtelte Irrsinn von Regeln und Ausnahmen, der den völkerrechtlichen Status Westberlins ausmachte, oft als Monstrum beschrieben. Das sanftmütige europäische Monstrum unserer Tage hat noch andere Vorläufer aus vormodernen Zeiten. Zum Beispiel die Polnisch-Litauische Union. Diese alte Rzeczpospolita wurde 1795 im Zuge der dritten Teilung Polens von ihren autoritären Nachbarstaaten (Russland, Preußen, Habsburger Monarchie) gemordet, zuvor aber hatte sie fast 400 Jahre lang als nicht klar umrissene, ineffiziente, gastfreundliche, dezentralisierte, ziemlich tolerante multikulturelle Föderation existiert, über längere Zeiten auch als größtes Staatsgebilde Osteuropas.

Der Zerfall dieser Union war auch auf ihre eigenen demokratischen Strukturen, oder sagen wir, auf die Ablehnung jeglicher Autoritäten zurückzuführen. Im polnischen Sejm – dem Reichstag der Adelsrepublik – galt das Prinzip der Einstimmigkeit: Das Veto eines einzigen Mitglieds reichte, um ein Gesetz zu blockieren oder sogar alle vorangegangenen Beschlüsse wieder aufzuheben. Nach demselben Prinzip werden heute, wie wir nur zu gut wissen, die wichtigsten Entscheidungen in der EU getroffen: monstro simile.

Der polnische Außenminister Radek Sikorski hat in seiner bedeutenden Berliner Rede vom 28. November 2011 nachdrücklich und warnend auf das Schicksal der Rzeczpospolita hingewiesen: Die Teilung Polens sei damals nicht abzuwenden gewesen, weil man die nötigen Reformen verschleppt habe. In der heutigen Eurokrise müsse die EU schnell handeln. „Wahrscheinlich bin ich der erste polnische Außenminister, der dies sagt, aber hiermit tue ich es: Meine Angst vor deutscher Macht ist geringer als meine einsetzende Angst vor deutscher Untätigkeit.“ Laut Sikorski steht die EU vor der Wahl zwischen vertiefter Integration und Auflösung. Er selbst plädiere, als Vertreter eines Landes, das bald der Eurozone beitreten will, für das beschleunigte Vorantreiben einer föderativen, integrierten Union.

Diese Rede war wie eine Kavallerieattacke. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was der draufgängerische Sikorski sagt – schon weil er noch immer ein bekennender Neoliberaler ist. Und ich sehe auch in Zukunft keine Brüsseler Armee, die mehr Schrecken verbreiten könnte als der Europäische Rechnungshof. Aber ich glaube, dass er in der Frage der weiteren Integration richtig liegt. Die Eurokrise wird sich zunächst weiter zuspitzen, aber irgendwann wird sich eine Lösung finden. Schon weil Europa ohne gemeinsame Währung undenkbar geworden ist. Mit seiner Berliner Rede rückte Sikorski in die Nähe der Milward’schen Position, nach der die EU nicht die Antithese, sondern die Ergänzung zum Nationalstaat darstellt. „Je mehr Macht und Legitimität wir den gemeinschaftlichen Institutionen geben, desto sicherer sollten sich die Mitgliedstaaten fühlen, dass bestimmte privilegierte Bereiche für immer in der Zuständigkeit der Staaten verbleiben.“8 Erstaunlich genug, dass ein Marktliberaler wie Sikorski dieses Argument vorbringt. Denn es besagt ja gerade, dass die gewählten Regierungen, die sich zwanzig Jahre lang in kleinstaatlichem Geschwafel verausgabt haben, durch eine vertiefte Integration zu neuem Selbstbewusstsein finden werden und das Vertrauen ihrer Bürger zurückgewinnen können.

Und was wird mit Großbritannien? Über den Rückzug der Briten ist die gesamte – oder sagen wir fast die gesamte – EU traurig. Aber mir scheint, dass die Union und die Eurozone heute ohne Großbritannien besser dran sein würden. Stattdessen brauchen sie ein anderes Partnerland, nämlich England. Das kleine Schottland würde sich auch allein in die EU und eine reformierte Währungsunion einfügen. England dagegen wird erst dann an der Gestaltung Europas selbstbewusst mitwirken können, wenn es seine großbritischen Ansprüche, seine archaische Auffassung von Souveränität und seine Illusionen über eine „special relationship“ zu den USA aufgegeben hat.

Seit das Absterben der sozialdemokratischen Ordnung begonnen hat, sind über dreißig Jahre vergangen. Jetzt endlich scheint die schwangere Witwe, von der Alexander Herzen vor 160 Jahren gesprochen hat, erste Vorwehen zu verspüren. Aber was kündigen sie an? Das Wiedererstehen eines „reformierten Kapitalismus“? Einen unerwarteten Wurf kleiner Geschwister, also die Aufspaltung einiger alter Staaten? Oder eine europäische Ordnung, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihre Wiedergeburt erleben – der wir also, wie Tony Judt hoffte, „die Frage nach der Substanz des Allgemeinwohls neu stellen können“? Wenn es so kommt, werde ich die Amikejo-Flagge hissen.

Fußnoten: 1 Das Nazi-Propaganda-Foto unter: germanhistorydocs.ghi-dc.org/images/highres_30002211%20copy1.jpg. Die Szene wurde übrigens nachträglich gestellt. 2 Es handelt sich um den Vaalserberg; weitere historische Einzelheiten unter: de.wikipedia.org/wiki/Neutral-Moresnet. 3 Perry Anderson, „The New Old World“, London (Verso) 2009. 4 Voltaire, „Das Zeitalter Ludwigs XIV.“, 2 Bde., Leipzig 1887, Bd. 1, S. 25 f. (frz. Orig. 1751). 5 Im 1947 bei Gründung der CDU beschlossenen Ahlener Programm stand der Satz: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Entsprechend war eine teilweise Vergesellschaftung der Schwerindustrie vorgesehen. 6 Alan S. Milward, George Brennan und Federico Romero, „The Rescue of the European Nation-State“, London (Taylor & Francis) 1992. Die Bedeutung des berühmten Wirtschaftshistorikers würdigt der Nachruf im Guardian vom 28. Oktober 2010: www.guardian.co.uk/books/2010/oct/28/alan-milward-obituary. 7 Siehe: Tony Judt, „Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“, München/Wien (Hanser) 2006. 8 Gemeint ist beispielsweise die Kultur und alles, was mit nationalen Identitäten zu tun hat. Sikorskis Rede auf Englisch unter: www.msz.gov.pl/files/docs/komunikaty/20111128BERLIN/radoslaw_sikorski_poland_and_the_future_of_the_eu.pdf. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Neal Ascherson ist Journalist und Autor. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.04.2012, von Neal Ascherson