08.05.2024

Wer baut das olympische Dorf?

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Wer baut das olympische Dorf?

Am 26. Juli beginnen in Paris die Olympischen Spiele. Die meisten Wettkampfstätten liegen im armen Département Seine-Saint-Denis Eine Sozialcharta sollte auf den Baustellen für faire und sichere Arbeitsbedingungen sorgen. Doch das ist nur teilweise gelungen.

von Margot Hemmerich

Kathleen Ryan, Bad Peach (Bite), 2022, diverse Halbedelsteine, Perlmutt, Muschelschale, Glas, Stahlstifte auf überzogenem Polystren, Aluminium und Bakelit, 54,5 × 67,3 × 58,5 cm
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Bernard Thibault erklärte stolz: „Wir haben bewiesen, dass wir sozial verantwortlich, ja sogar vorbildlich handeln können.“ Das war am 23. September 2023, und der Ex-Generalsekretär des französischen Gewerkschaftsverbands CGT sprach in der Cité du cinéma im Pariser Vorort Saint-Denis in seiner Funktion als Co-Vorsitzender des „Komitees zur Überwachung der Sozialcharta für die Olympischen Spiele“ 2024 in Paris.

Zur gleichen Stunde beendete Moussa H. seine Schicht. Die Cité du cinéma ist ihm vertraut, denn sie grenzt an die Baustelle des olympischen Dorfs, wo er seit Monaten ohne Vertrag gearbeitet hat. An jenem 23. September saß er nach der Arbeit in der Herbstsonne.

Als Moussa 2008 von Mali nach Frankreich kam, erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Danach lebte er in ständiger Angst: „Auch abends zu Hause hatte ich Angst, verhaftet zu werden.“ Er hatte keine Erlaubnis, aber immer Arbeit: „In den 15 Jahren war ich nie länger als drei Monate ohne Job. Auf den Baustellen werden immer Menschen ohne Papiere gebraucht.“ Das gilt auch für die Olympiade-Baustellen.

Der inzwischen 40 Jahre alte Moussa hat seinen Berufsausweis für die Baubranche immer bei sich. Dank dieses laminierten Stückchens Karton konnte H. jeden Tag das Gelände des olympischen Dorfs betreten, das in Saint-Denis im neuen Stadtteil Pleyel entsteht. Angeheuert wurde er, unter falschem Namen, von Subunternehmern. Die gründen mit einem minimalen Stammkapital von 1000 bis 2000 Euro Ad-hoc-Firmen, die sie ebenso schnell wieder auflösen.

Die Anstellung läuft nicht über eine Zeitarbeitsfirma, erzählt Moussa: „Das Ganze geht über Mund-zu-Mund-Propaganda. Wir schicken unsere Personalien per SMS oder Whatsapp, und am nächsten Tag kriegen wir die Adresse der Baustelle. Niemand will wissen, ob es sich um unsere wahre Identität handelt.“

Nach Angaben des CGT-Büros in Bobigny, dem Nachbarort von Saint-Denis, waren mindestens 100 Arbeiter ohne Papiere – in Frankreich „Sans-Papiers“ genannt – auf den Olympia-Baustellen beschäftigt. Das würde nur einen winzigen Teil der Arbeitskräfte ausmachen, denn bis zur Fertigstellung der Anlagen wurden zig Millionen Arbeitsstunden geleistet.1

Die Staatsanwaltschaft Bobigny leitete eine Voruntersuchung wegen informeller Beschäftigung ein, nachdem die Arbeitsaufsichtsbehörde bei einer Kontrolle im Juni 2022 mehrere Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere angetroffen hatte. Einige Monate später reichten zehn dieser Sans-Papiers, darunter Moussa H., beim Arbeitsgericht Klage wegen Ausbeutung ein, und zwar gegen die Baukonzerne Vinci, Eiffage, Spie Batignolles und GCC wie auch gegen acht Subunternehmer.

Daraufhin bekamen 25 Arbeiter eine Aufenthaltsgenehmigung. „Bis dahin gab es weder einen Arbeitsvertrag noch eine Lohnabrechnung, geschweige denn Urlaub oder bezahlte Überstunden“, erzählt der 40-Jährige. Wir hatten keine Arbeitsschuhe und kaum Sicherheitsausrüstung, „einen Helm nur, wenn einer übrig war“.

Auf der Baustelle bekommen die Sans-Papiers jede Art von Arbeit zugewiesen: Mauern hochziehen, den Presslufthammer bedienen, beim Ausschalen helfen, putzen. „Jeden Morgen sagt dir der Vorarbeiter, wohin du gehen sollst. Wer nicht spurt, wird ersetzt. Für uns geht es dabei ums Überleben“, sagt Moussa.

Im Juni 2018 feierten die fünf größten französischen Arbeitnehmerorganisationen gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden die Unterzeichnung der Sozialcharta. Dieses Dokument wurde schon während der Olympia-Bewerbungsphase ausgearbeitet und von der Regierung als Argument für die französische Kandidatur genutzt. In der Folge wurde der Ausschuss zur Überwachung der Sozialcharta eingerichtet, gemeinsame Vorsitzende wurden Thibault und Dominique Carlac’h, die Vizepräsidentin des größten Arbeitgeberverbands Medef.

Lokalwirtschaft hat das Nachsehen

Das für die Infrastruktur zuständige staatliche Unternehmen Société de liv­raison des ouvrages olympiques (Solideo) bekannte sich in einer Pressemitteilung vom 4. März 2021 zu „sozial vorbildlichen Baustellen“ und zu der ausdrücklichen Verpflichtung, „illegale Arbeit, wettbewerbswidrige Praktiken und Diskriminierung zu bekämpfen und die Qualität der Arbeitsbedingungen zu garantieren“.

Doch diese Solideo-Charta hat an den Arbeitsbedingungen kaum etwas geändert, meint Jean-Pascal François, Sekretär der CGT-Baugewerkschaft: „Das Beste an der Charta ist, dass es sie überhaupt gibt, aber solange die Gewerkschaften keinen Druck ausüben, bleibt es lediglich bei Absichtserklärungen. Im Übrigen hatten wir trotz aller Versprechungen große Schwierigkeiten, auf die Baustellen zu gelangen.“ Als Grund nennt er die ­kaskadenartig erteilten Unteraufträge und die Schwierigkeit, die Verantwortung der eigentlichen Auftraggeber zu beweisen.

Ähnlich sieht es Philippe Servalli, Präsident des Verbands der Bauunternehmen in der Großregion Paris: „Das ist ein Preisproblem: Der Generalunternehmer erzielt eine gewisse Gewinnspanne bei seinen Subunternehmern. Je mehr Mittelsmänner es gibt, desto weniger Geld bleibt für das übrig, was wir ‚Hand‘ nennen.“ Für den Besitzer der „Hand“ erhöhe sich damit der Anreiz zu tricksen.

„Es stimmt, dass solche Zustände im Baugewerbe sehr verbreitet sind“, erklärte Antoine du Souich, Direktor für Strategie und Innovation bei Solideo, nachdem die ersten Arbeiter aus Mali ihre Klage eingereicht hatten. Auf den Baustellen der Spiele hätten derartige Praktiken jedoch keinen Platz: „Wir müssen ein gutes Beispiel abgeben, und deshalb müssen wir das ändern.“

Die Behörde für Arbeitsschutz hat seit Ende 2022 mehr als tausend Kontrollen durchgeführt. Doch im Oktober 2023 blockierten rund 100 undokumentierte Arbeiter die Baustelle des Olympiastadions im Pariser Viertel La Chapelle. Sie forderten, unterstützt von der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft CNT-SO, die Legalisierung ihres Arbeits- und Aufenthaltsstatus. Unter dem Slogan „Ohne Papiere keine Olympiade“ – wurde die Besetzung im Dezember 2023 wieder aufgenommen, um durchzusetzen, dass die aufgrund der Proteste im Oktober entlassenen Kollegen wieder eingestellt werden.

Der Ausschuss zur Überwachung der Sozialcharta hat bis Anfang 2024 über 167 Arbeitsunfälle gezählt, darunter 27 schwere, aber keinen tödlichen. „Die Olympischen Spiele sind ein mediales Aushängeschild, daher wurden natürlich Mittel für Prävention und Schutz bewilligt. Aber schon auf der anderen Straßenseite hat es reihenweise tödliche Unfälle gegeben“, erzählt CGT-Sekretär François.

Die Unfälle und Todesfälle auf den Baustellen der neuen Metrolinien des Grand Paris Express oder bei den Sanierungssarbeiten entlang der Seine – wo das Marathon- und Freiwasser-Schwimmen stattfinden soll – zählen die Organisatoren der Spiele also nicht mit. Das gilt etwa für den Tod des 21-jährigen Seydou Fofana, der im April 2023 von einer Betonplatte erschlagen wurde; oder des 51-jährigen Amara Dioumassy, der drei Monate später von einem Kleintransporter überfahren wurde. Diese Infrastrukturprojekte, sagt François, stehen unter Zeitdruck, denn sie sollen rechtzeitig für die Olympischen Spiele fertig werden.

Zu den Zielen, die in der Sozialcharta an oberster Stelle genannt sind, gehören die angeblichen Impulse für die lokale Wirtschaft. Laut Solideo müssen 25 Prozent des Auftragsvolumens für Olympia 2024, also knapp 500 Millionen Euro, an kleine bis mittlere Unternehmen sowie an Projekte der Soli­dar­öko­nomie vergeben werden. Das soll vor allem der Bevölkerung des Dé­parte­ments Seine-Saint-Denis zugutekommen, wo die meisten Wettkämpfe stattfinden. Im April 2019 wurden dafür zwei Plattformen namens Entre­prises 2024 und ESS 2024 eingerichtet, um die Angebote zu erfassen und die Investitionen zu begleiten.

Vier Jahre später verkündete Solideo-Chef Nicolas Ferrand stolz: „Wir halten Zeitplan, Budget und Zielvorgaben ein.“ Auf den ersten Blick wurde das Ziel sogar übertroffen: Bis Dezember 2023 wurden 780 Millionen Euro an 2241 kleine und mittlere Unternehmen sowie an 119 Einrichtungen der So­li­dar­öko­nomie vergeben. Wie sich das konkret auf die lokale Wirtschaft auswirkt, bleibt jedoch abzuwarten.

„Wenn man ein olympisches Schwimmbad für über 100 Millionen Euro baut, kann man sich gut vorstellen, dass es keine kleine Firma sein wird, die den Auftrag übernimmt“, meint der Sprecher der lokalen Bauindustrie, Philippe Servalli. „Aber es gibt ja auch Nebengebäude und -strukturen, für die die lokalen Kleinunternehmen durchaus infrage kämen. Wir mussten aber feststellen, dass die Aufträge gebündelt wurden, um die Ausschreibungen vor allem auf mittelgroße Unternehmen abzustimmen, auf landesweit tätige Firmen mit mehreren tausend Beschäftigten.“

Laut einer Studie für die Bauwirtschaft in der Region Île-de-France (CERC-IDF) kamen die Aufträge für die Rohbauten nur zu 14 Prozent Klein- und Mittelbetrieben zugute; beim Ausbau waren es 33 Prozent.

Das zweite quantitative Ziel von Solideo lautet, dass 10 Prozent der geleisteten Arbeitsstunden der beruflichen Eingliederung von arbeitsmarktfernen Personen dienen und den Stadtteilen zugutekommen sollen, die nach den urbanen Entwicklungsplanungen Priorität haben. In dieser Hinsicht scheint die Mission erfüllt zu sein, denn nach Angaben von Solideo wurden die Ziele bis Ende 2023 um 108,8 Prozent übererfüllt. „Die Wette ging in doppelter Hinsicht auf, denn mehr als die Hälfte der begünstigten Personen kommt aus unserem Département“, freut sich Mathieu Hanotin, Bürgermeister von Saint-Denis.

Die Geschichte des Vereins Ha­lage sieht tatsächlich wie ein großer Erfolg aus, zumindest auf dem Papier. Die vor 30 Jahren im Vorort l’Île Saint-Denis gegründete Einrichtung zur beruflichen Eingliederung hat sich auf die Gestaltung von Grünflächen und die Sanierung städtischer Brachflächen spezialisiert. Sie beschäftigt heute 130 Mitarbeiter, davon 90, die gerade Eingliederungsmaßnahmen durchlaufen. Der Verein hat innerhalb von drei Jahren mehrere Aufträge für die Begrünung olympischer Anlagen erhalten, entweder direkt von Solideo oder im Rahmen von Unteraufträgen mit „normalen“ Unternehmen oder als Subunternehmer für einzelne Lose. „Das ist eine echte Anerkennung unserer Arbeit“, stellt der Vereinsvorsitzende Stéphane Berdoulet erfreut fest. Allerdings dürfe man auch einige verlorene Ausschreibungen und andere Schwierigkeiten nicht übersehen: „Die größte Enttäuschung war ein Auftrag zur Herstellung von Pflanzsubstraten, bei dem wir gegen ein Unternehmen antraten, dessen Angebot um mehrere hunderttausend Euro günstiger war. Da gilt dann das Gesetz des wirtschaftlich Stärkeren.“

Deshalb ist es laut Berdoulet für kleinere Firmen bei vielen Aufträgen für die Olympiade erforderlich, Konsortien mit anderen Unternehmen zu bilden. Allerdings seien die Fristen bis zur Antragsabgabe sehr kurz. „Außerdem dürfen wir durch diese Aufträge nicht die Stammkunden verlieren, mit denen wir die restliche Zeit arbeiten.“

Dagegen haben die Pariser Sommerspiele für die Beschäftigten der „Régie des quartiers“ in Saint-Denis, einer Organisation, die arbeitsmarktfernen Menschen berufliche Eingliederung und soziale Begleitung anbietet, schon jetzt einen bitteren Beigeschmack. „Nach sechs oder sieben Treffen hat uns der Immobilienkonzern Icade in seine Bewerbung für den Bau von 13 Gebäuden des olympischen Dorfs aufgenommen“, erzählt ihr Direktor Mathieu Glaymann. „Für uns bedeutete der Auftrag für Malerarbeiten rund 200 000 Stunden Arbeit über vier Jahre. Aber am Ende sprangen für die 500 Beschäftigten exakt null Arbeitsstunden heraus.“

Im November 2019 vergab Solideo den Bau von Block D des Dorfs an ein Konsortium, das aus Icade, dem staatlichen Finanzinstitut Caisse des dépôts und dessen Immobilientochter CDC Habitat bestand. Dieses beauftragte SPIE Batignolles mit der Errichtung von zwölf Gebäuden.

Dieser Baukonzern, dem im Übrigen irreguläre Arbeitsverhältnisse und die Beschäftigung von Sans-Papiers vorgeworfen wurden, erteilte den Zuschlag dann doch nicht der Régie de quartiers aus Saint-Denis. „Das schienen damals alle sehr zu bedauern, aber niemand konnte etwas dagegen tun, weder Icade noch die Solideo noch die gewählten Volksvertreter“, klagt Glaymann.

So etwas komme leider öfter vor, bestätigt Nicolas Peyronnet, Direktor von ESS 2024, einer der beiden Plattformen für die Solidarwirtschaft. „Es gibt die Bewerbungsphase, in der die Projektträger viel versprechen und Organisationen wie Régie de quartiers dafür anführen, aber angesichts der Auflagen und der Präferenzen der Bauunternehmen sind die Zusagen dann auf einmal gar nicht mehr so sicher.“

Auch für Solideo erklärt Du Souich bedauernd: „Leider konnten sich die Generalunternehmen nicht mit Icade über die Auftragsvergabe an Régie de quartier einigen.“ Immerhin verweist er auf die Strafen, die für die Nichteinhaltung der Verpflichtungen eingeführt wurden. Doch die belaufen sich auf nur 60 Euro pro nicht realisierter Eingliederungsstunde. Dazu meint Glaymann von Régie des quartiers: „Wir wissen genau, dass die Unternehmen diese Kosten in ihrem Gebot von vornherein einkalkulieren.“

Ganz ähnlich lief es bei Geschichte bei den Aufträgen über den Anstrich des Wassersportzentrums und die spätere Reinigung der Baustelle, erzählt Glaymann weiter: „Im ersten Fall hatten wir zugestimmt, den Stundensatz auf 25 Euro zu senken, aber dem Bauträger Bouygues war das immer noch zu teuer.“ Beim Reinigungsauftrag bekam ein Unternehmen von außerhalb den Zuschlag, weil es ein um 5000 Euro billigeres Gebot einreichte und angeblich einen „besseren Dienstleistungsumfang“ anbot.

Die Zielvorgaben für die Anzahl der Eingliederungsstunden wurde zwar erreicht. Aber sie kamen zu einem beträchtlichen Teil (39 Prozent) sogenannten Eingliederungs-Zeitarbeitsfirmen (ETTI) zugute. Nur 8 Prozent entfielen auf Eingliederungsverträge und nur 6 Prozent auf herkömmliche befristete Verträge.2

Als Grund wurde angeführt, dass Organisationen wie Régie de quartier Personen betreuen, die weiter vom Arbeitsmarkt entfernt sind als die ETTI, also Zeitarbeitsfirmen. Letztere würden deshalb von Unternehmen, die ihre Bewerbung mit dem Etikett „Eingliederungsangebote“ ausschmücken wollen, klar bevorzugt.

In Seine-Saint-Denis ist die Zahl der ETTI von vier auf elf gestiegen, von denen einige gleich mehrere Filialen in dem Département betreiben. Das gilt insbesondere für die Firma Humando, eine Tochter des Schweizer Personaldienstleistungskonzerns Adecco. Die börsennotierte Adecco Group beschäftigt europaweit mehr als 1 Million Arbeitskräfte in mehr als hunderttausend Unternehmen.

Es gibt eine weitere Strategie, die große Unternehmen anwenden, um bei Ausschreibungen die Anforderungen der Inklusion zu erfüllen: die Gründung eines sozialen Joint Ventures, also die Kooperation mit einer gemeinnützigen Organisation. Im Oktober 2019 haben zwei der größten Baukonzerne in den benachbarten Départements Val-de-Marne und Hauts-de-Seine je ein solches Joint Venture gegründet: Vinci Construction das Unternehmen Baseo; EuroVia das Unternehmen Tridev. Sozialer Partner der Konzerne war in beiden Fällen derselbe, die auf Eingliederung spezialisierte Groupe Id’ees.

Im Gegensatz zu Solideo hat sich das Organisationskomitee für die Olympischen und Paralympischen Spiele (Cojop) keine quantitativen Ziele gesetzt, sondern stattdessen einen Kodex für seine Aufträge im Umfang von insgesamt 2,7 Milliarden Euro beschlossen.

Was das in der Praxis bedeutet, erklärt Marie Barsacq, die innerhalb des Cojop für den Bereich „Auswirkungen und Folgen“ zuständig ist: „Wir haben allen Bewerbern auf unsere Ausschreibungen folgende Fragen gestellt: Was tun Sie für Recycling? Was tun Sie zur Begrenzung des CO2-Fußabdrucks? Was tun Sie für Arbeitssuchende? Und schließlich: Was tun Sie, damit sich positive Effekte für die Region ergeben?“

Um Letzteres zu gewährleisten, arbeitet das Komitee unter anderem nach dem Prinzip der „umgekehrten Beschaffung“. Das bedeutet, dass man von den Dienstleistungen ausgeht, die die örtlichen Unternehmen anbieten, und die Ausschreibungen so formuliert, dass diese zum Zuge kommen. Oder dass man an Organisationen, die sich für die Eingliederung benachteiligter Gruppen oder für Menschen mit Behinderungen einsetzen, die Aufträge direkt vergibt.

Nach diesem System erhielt zum Beispiel ein Zusammenschluss von neun Einrichtungen aus Seine-Saint-Denis und dem Süden von Paris den Zuschlag für die Wäschereien im olympischen Dorf. Der Auftrag ist 1,7 Millionen Euro wert und umfasst elf Waschsalons für die Athleten und Athletinnen, die an allen Tagen von 5 bis 22 Uhr geöffnet sind. „Das bedeutet Arbeit für bis zu 400 Menschen“, freut sich Cumhur Guneslik, der die Eingliederungsorganisation Énergies leitet.

Als Erfolgsgeschichte wird auch häufig die Recyclingfirma Lemon Tri im Pariser Vorort Pantin angeführt. Ende 2021 wurde das als Eingliederungseinrichtung anerkannte Unternehmen beauftragt, sich an der Beschaffung und am Recycling von 10 Millionen Korken zu beteiligen, aus denen die Sitze im Olympiastadion und in der olympischen Schwimmhalle gefertigt sind.

Vor Kurzem erhielt Lemon Tri auch den Zuschlag für einen großen – von Coca-Cola vergebenen – Auftrag zum Einsammeln aller Plastikflaschen an sämtlichen Wettkampfstätten. „Wir waren der ideale Kandidat“, erklärt Augustin Jaclin, einer der Gründer von Lemon Tri. „Wir passten in alle drei Kästchen: kleines und mittelständisches Unternehmen, Solidarökonomie und lokal.“

Ein kleiner Betrieb wie Lemon Tri kann sich aber nur um begrenzte Aufträge bewerben, sagt Jaclin. Bei großen Umfängen und kurzen Fristen reichen die betrieblichen Kapazitäten nicht aus: „Ich werde nicht fünfzig Leute einstellen und Millionen in Ausrüstung investieren, ohne die Garantie, dass nicht alles wie ein Soufflé in sich zusammenfällt.“

Nicolas Peyronnet empfängt seine Besucher im Yunus-Zentrum am Seine-Ufer. Der Direktor von ESS 2024 hat die Strategie, die Spiele für Unternehmen der Solidarwirtschaft zu öffnen, von Anfang an unterstützt: „Das war keine einfache Aufgabe. Man musste bei den Auftraggebern erst mal Überzeugungsarbeit leisten.“

Einige Firmen habe man überzeugen können, weil sie darin einen Imagevorteil sahen. „Aber für andere, wie etwa die Eventmanager, ging es in erster Linie nur darum, eine möglichst pompöse Eröffnungszeremonie zu gestalten“, erzählt Peyronnet, der mit ESS 2024 ein Modell entwickeln will, das auch für die Organisatoren der kommenden Olympiaden zur Norm wird.

Das Organisationskomitee Cojop betont, dass bei der Auftragsvergabe der Angebotspreis nur noch 30 bis 40 Prozent Gewicht habe, gegenüber 60 Prozent bei herkömmlichen öffentlichen Aufträgen. Intern ist allerdings unbestritten, dass häufig ein Konflikt besteht zwischen der Einbindung der lokalen Organisationen und dem einzuhaltenden Kosten- und Fristenrahmen.

Cojop machte keine Angaben über die Art und Höhe der Strafen für Nichteinhaltung der sozialen Verpflichtungen. Aber die Kooperationspartner hätten die eingegangenen Verpflichtungen eingehalten oder sogar übertroffen. Offen bleibt jedoch, ob das auch für die rund zehn Partnerunternehmen der Olympischen Spiele gilt, die fast die Hälfte aller Dienstleistungen in eigener Regie organisieren. Für diese Hauptsponsoren – wie Coca-Cola, den Telekomkonzern Orange und die Allianz – gelten die vom Cojop festgelegten Zielen nicht.

„Als gewählter Vertreter betrachte ich es als meine Aufgabe, positive Impulse zu setzen“, erklärt Hanotin, der Bürgermeister von Saint-Denis. „Ich kämpfe dafür, die Vorzüge unserer Region darzustellen, aber wir sind nicht die Organisatoren der Veranstaltung.“ Er könne weder anderen eine Entscheidung diktieren noch eine getroffene Entscheidungen kontrollieren. Eine Gesamtbilanz könne man erst nach dem Ende der Olympischen Spiele ziehen. Der Frage nach seiner Rolle bei der Auftragsvergabe weicht Hanotin aus.

Sicher ist, dass die Bewohner der Region Seine-Saint-Denis die Frage nach Nutzen und langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Olympischen Spiele ab Herbst 2024 intensiv diskutieren werden. Klar ist jetzt schon, dass nicht alle „olympischen Jobs“ dauerhaft erhalten bleiben, betont der Bürgermeister, der zugleich Präsident des Gemeindeverbands ­Plaine Commune ist, zu dem sich neun Vororte im Norden Paris zusammengeschlossen haben. „Deshalb müssen wir Qualifizierungsangebote entwickeln, damit die Arbeitnehmer anschließend bessere Anstellungschancen haben.“

Die Kommunen der Plaine Commune streben die Transformation der gesamten Region an, die sie zu einem Zentrum des Tourismus in der Île-de-France machen wollen. Laut Hanotin sollen vor allem im gastronomischen Gewerbe mehr Jobs geschaffen werden, „denn die sind nicht verlagerbar und kommen somit den Einwohnern zugute“.

Die durch die Olympischen Spiele angestoßene Umgestaltung des Stadtgebiets von Saint-Denis, das zu 52 Prozent aus Sozialwohnungen besteht, wird sich zwangsläufig auf den Wohnungsmarkt auswirken. Inzwischen hat Vinci mit dem Verkauf der 174 Wohnungen seines Hochhauskomplexes Apogée im Norden des olympischen Dorfs begonnen. Der durchschnittliche Quadratmeterpreis von 7000 Euro – im übrigen Département liegt er bei 2000 bis 4000 Euro – ist für die meisten Bewohner von Saint-Denis unerschwinglich.

Wie recht hatte der Ex-Gewerkschafter Thibault, als er 2017 nach der Vergabe der Olympischen Spiele an Paris meinte: „Die entscheidende Frage ist doch, was danach passiert.“

1 Vincent Biausque und Cécile Le Fillâtre, „Plus de 45 mil­lions d’heures de travail pour livrer les ouvrages olym­piques“, Insee Analyses Île-de-France, Nr. 179, Dezember 2023.

2 Stéphane Mazars und Stéphane Peu, „Rapport d’in­for­mation en conclusion des travaux de la mission d’information sur les retombées des Jeux olympiques et paralympiques de 2024 sur le tissu économique et associatif local“, 5. Juli 2023.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Margot Hemmerich ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2024, von Margot Hemmerich