08.05.2024

Gescheiterter Staat

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Gescheiterter Staat

von Rodrigue Nana Ngassam

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Es ist ein trauriger Rekord in einem Land, in dem seit 1997 Krieg herrscht: Die Zahl der Binnenvertriebenen in der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) belief sich Ende 2023 auf 7 Millionen Menschen.1 Die nicht enden wollenden Konflikte haben auch Millionen Todesopfer gefordert. Ihre genaue Zahl ist unbekannt, aber allein durch die Kämpfe zwischen August 1998 und Dezember 2002 im Osten des Landes sind laut dem International Rescue Committee (IRC) mehrere Millionen Menschen getötet worden.2

Seit ihrer Unabhängigkeit von Belgien 1960 hat die DR Kongo nie dauerhaft Frieden und Stabilität erlebt. 1961 wurde der erste Premierminister Patrice Lumumba (mutmaßlich auf Betreiben der CIA) ermordet. Danach installierte Präsident Joseph Mobutu Sese Seko während seiner langen, vom Westen unterstützten autokratischen Herrschaft (1965–1997) eine korrupte, räuberische und unsoziale Rentenökonomie. Aus dieser hat sich das zentralafrikanische Riesenland, das Mobutu 1971 in Zaire umbenannte, bis heute nicht befreit.

Trotz seines großen Reichtums an Bodenschätzen (51 Prozent der weltweiten Reserven an Kobalt, 31 Prozent der Industriediamanten, 6 Prozent der Diamanten in Edelsteinqualität sowie 9 Prozent der Tantalvorkommen) zählte die DR Kongo Anfang der 1990er Jahre zu den am höchsten verschuldeten armen Ländern der Welt, während das Privatvermögen Mobutus über 4 Mil­liar­den US-Dollar betrug.3

Nach dem Abzug der belgischen Kolonialherren wollte die neue nationale Elite das Land zu einem „Brasilien Afrikas“ – entwickeln, einem Schwellenland, das sich wirtschaftlich auf verstaatlichte Unternehmen stützen sollte, wie die aus der Union Minière du Haut-Katanga (UMHK) hervorgegangenen Bergbaufirmen Générale des Carrières et des Mines (Gécamines). Weil sich aber Präsident Mobutu und seine Familie nach Gutdünken aus der Unternehmenskasse bedienten, rutschte Gécamines immer mehr in die roten Zahlen.4 Heute betreibt es seine Bergwerke im Rahmen von Joint Ventures gemeinsam mit ausländischen Investoren.

In Zaire waren die fragilen staatlichen Institutionen nie in der Lage, ihre grundlegenden Aufgaben zu erfüllen und insbesondere die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Dieses Defizit fällt durch die außergewöhnliche Größe des Landes noch mehr ins Gewicht: Mit einer Fläche von 2,3 Millionen Quadratkilometern ist die DR Kongo mehr als sechsmal so groß wie Deutschland.

In der Endphase von Mobutus erratischer Herrschaft stürzte das Land ins Chaos. Zunächst plünderte das Militär 1991 die Hauptstadt Kinshasa. Da kein politischer Ausweg zu erkennen war, radikalisierten sich immer mehr gesellschaftliche Akteure, von denen einige schließlich den bewaffneten Kampf aufnahmen.

Der Völkermord an den Tutsi zwischen April und Juli 1994 im benachbarten Ruanda (siehe den Beitrag von Marion Fiquet auf Seite 11) wuchs sich zu einer regionalen Krise aus: Flüchtlinge, Täter und bewaffnete Gruppen auf der Jagd nach den Mördern strömten nach Zaire und machten es zu ihrem Rückzugsort und Kampfgebiet.

In dieser Situation begann 1996 ein Bürgerkrieg der Rebellen gegen das Mobutu-Regime. Im folgenden Jahr stürzte die von Ruanda und Uganda unterstützte und von Laurent-Désiré Kabila angeführte Allianz der demokratischen Kräfte für die Befreiung Kongos (AFDL) Mobutu. Das Land hieß nun wieder DR Kongo. Die Erleichterung über die Flucht des Diktators, der im September 1997 im marokkanischen Exil starb, hielt jedoch nicht lange an. Auch die neue Regierung verfiel in Autoritarismus, verbot die Opposition und kündigte gleichzeitig Verträge mit den Nachbarstaaten, was diesen missfiel.

Daher zettelten Ruanda und Uganda einen zweiten, von 1998 bis 2003 andauernden Aufstand an, der von der Kongolesischen Sammlung für Demokratie (RCD) und der Bewegung zur Befreiung des Kongo (MLC) orchestriert wurde, um Kabila aus dem Amt zu jagen. Acht afrikanische Länder – Angola, Burundi, Namibia, Ruanda, Simbabwe, Sudan, Uganda und der Tschad – ergriffen direkt oder über verschiedene bewaffnete Gruppen Partei. Neben ihren politischen Zielen trieben sie vor allem Begehrlichkeiten nach den Bodenschätzen der DR Kongo.

Noch heute leidet die an Uganda und Ruanda grenzende Region Kivu im Osten des Landes am stärksten unter der Unsicherheit und den kriegerischen Auseinandersetzungen.

Hier tummeln sich eine Vielzahl bewaffneter Gruppierungen: die ursprünglich aus Uganda stammenden Alliierten Demokratischen Kräfte (ADF), die seit 2017 mit dem Islamischen Staat verbunden sind und die Scharia durchsetzen wollen; die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), die die Interessen der aus Ruanda geflüchteten Hutu vertreten und sich dem Regime von Ruandas Präsident Paul Kagame widersetzen; sowie ethnische Milizen wie die Mai-Mai. Hinzu kommen Menschen-, Drogen- und Waffenhändler, Schmuggler und Wilderer.

Auch besetzen die Rebellen von der Bewegung des 23. März (M23) zusammen mit ihrer Verbündeten, der von Ruanda unterstützten Kongofluss-Allianz (AFC), große Teile der Provinz. Seit ihrer Gründung 2012 hat die M23 zahlreiche Gräueltaten begangen. Und trotz des Friedensabkommens mit der Zentralregierung, das 2013 in Nairobi geschlossen wurde, hat sie im November 2021 erstmals wieder zu den Waffen gegriffen und im März 2022 eine neue Offensive begonnen.

Die DR Kongo ist Schauplatz unzähliger Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen.5 An manchen Orten haben bewaffnete Banden ganze Gemeinschaften vertrieben. Sie versuchen die Kontrolle über rohstoffreiche Gebiete oder über die Zufahrtsstraßen zu diesen Gebieten zu erlangen, um an Geld für Waffen zu kommen oder sich selbst zu bereichern, gestützt auf die Nachfrage multinationaler Konzerne, die den Milizen über Zwischenhändler Mineralien abkaufen. Mitunter werden die am Ort lebenden Menschen als Zwangsarbeiter für den Rohstoffabbau rekrutiert. Auch den kongolesischen Streitkräften (FARDC) werden immer wieder ähnliche Verbrechen vorgeworfen.

In dieser Situation werden tausende Kinder zum Kämpfen gezwungen. So zählte Unicef 2018 allein in der südwestlich gelegenen Kasai-Region zwischen 5000 und 10 000 Kindersoldaten. Sexuelle Gewalt wird regelmäßig als Kriegswaffe eingesetzt, um Gemeinschaften zu terrorisieren, zu unterwerfen und sie für ihre tatsächliche oder vermeintliche Unterstützung der Gegner zu bestrafen.

In Kinshasa hört man nicht selten den fatalistischen Spruch „Congo ekobonga te“ („Der Kongo wird nie aus dieser Falle herauskommen“). Um sich aus der Falle zu befreien, bräuchte das Land eine Lösung, die zwischen allen direkt oder indirekt beteiligten Konfliktparteien abgestimmt sein muss und nicht von Lagerdenken bestimmt wird. Ihr Fokus müsste auf der Entmilitarisierung des Gebiets, einem Dialog der Kriegsparteien und einem Friedensplan liegen, der den Status der verschiedenen Gemeinschaften klärt und die Demobilisierung und Reintegration der Milizionäre und Kindersoldaten vorsieht.

Die westlichen Regierungen täten gut daran, eine solche Initiative zu unterstützen. So könnten sie den Verdacht entkräften, sie zögen Profit aus dem Konflikt und handelten im Grunde immer noch imperial. Zum Frieden beitragen könnte zudem die katholische Kirche, die sich seit Ende der 1950er Jahre stark in der lokalen Politik engagiert.6

1 „Record High Displacement in DRC at Nearly 7 Mil­lion“, IOM, 30. Oktober 2023.

2 Benjamin Coghlan und andere, „Mortality in the Democratic Republic of the Congo: An ongoing crisis“, IRC, 1. Mai 2007.

3 Pierre Jacquemot, „L’économie politique des conflits en République démocratique du Congo“, in: Afrique contemporaine, Bd. 2, Nr. 230, Paris, Juli 2009.

4 Benjamin Rubbers, „L’effondrement de la Générale des Carrières et des Mines. Chronique d’un processus de privatisation informelle“, in: Cahiers d’études africaines, Bd. 1, Nr. 181, Paris 2006.

5 „Main Trends in Human Rights Violations in the DRC – 1st January to 31st December 2023“, Monusco, 26. Februar 2024.

6 Siehe François Misser, „Katholiken gegen Kabila“, LMd, April 2018.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Rodrigue Nana Ngassam forscht am Irges-Institut für Geopolitik in Kinshasa.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2024, von Rodrigue Nana Ngassam