Die Briten und der Gazakrieg
von Daniel Finn
Seit Beginn der israelischen Gaza-Offensive nach dem 7. Oktober zeigt sich in Großbritannien eine Kluft zwischen der politischen Klasse und der öffentlichen Meinung. Rishi Sunaks konservative Regierung und die oppositionelle Labour-Partei von Keir Starmer stehen voll hinter dem Krieg, den Benjamin Netanjahu unter Berufung auf Israels Selbstverteidigungsrecht führt. Dagegen lehnt ein Großteil der britischen Bevölkerung die Idee ab, dass Israel die Enklave so lange bombardieren soll, bis die Hamas eliminiert ist.
Bereits bei einer YouGov-Umfrage vom November 2023 waren 59 Prozent der Befragten für die Beendigung und nur 19 Prozent für die Fortsetzung der israelischen Militäraktion; im Februar 2024 waren sogar 66 Prozent für einen Waffenstillstand, für die Fortsetzung des Kriegs nur noch 13 Prozent. Was Waffenlieferungen an Israel betrifft, so befürworten 56 Prozent der Befragten einen Stopp; nur 17 Prozent sind für weitere Lieferungen.1
Ende März informierte Alicia Kearns, die konservative Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in Westminster, über ein Gutachten von Regierungsjuristen, wonach Israel in Gaza gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße. Die Regierung hielt diese Rechtsmeinung unter Verschluss, nach der sie verpflichtet wäre, Waffenlieferungen an Tel Aviv einzustellen.
Am 2. April wurden sieben Mitarbeitende der Hilfsorganisation World Central Kitchen, drei davon britischer Nationalität, durch einen israelischen Luftangriff getötet. Am Tag danach bezeichneten mehr als 600 Juristen und Wissenschaftler – darunter drei frühere Richter des britischen Supreme Court – in einem offenen Brief die Waffenlieferungen an die israelische Armee als völkerrechtswidrig.2
Seitdem haben im Namen der Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung einige der größten Protestdemonstrationen der neueren britischen Geschichte stattgefunden. Woche für Woche gehen die Menschen in London und anderen britischen Städten auf die Straße und fordern einen Waffenstillstand. An der bislang größten Kundgebung beteiligten sich fast 1 Million Menschen. Die Antwort der Regierung Sunak besteht darin, die Demonstrierenden zu denunzieren und ihre Protestaktionen zu kriminalisieren.
Innenministerin Suella Braverman forderte die Londoner Metropolitan Police (MET) auf, eine für den 9. November angemeldete Demonstration zu untersagen. Als die Polizeiführung darauf hinwies, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gebe, behauptete Braverman fälschlicherweise, die Palästina-Sympathisanten planten die Schändung eines Kriegerdenkmals. Damit wollte sie offenbar rechtsextreme Aktivisten animieren, den Demonstrationszug zu attackieren, was ihr einen Vorwand für künftige Versammlungsverbote geliefert hätte. Tatsächlich marschierten daraufhin etwa 2000 rechtsextreme Aktivisten auf, die allerdings nicht die Gaza-Demo, sondern die Sicherheitskräfte angriffen. Mehrere Polizeibeamte wurden verletzt, einige von ihnen schwer.
Nach diesem Fiasko musste Sunak seine Innenministerin feuern. Das hinderte jedoch weder die Regierung noch die rechte Presse daran, die Demos für einen Waffenstillstand weiterhin als antisemitische „Hassmärsche“ zu attackieren. Dabei verwiesen sie stets auf den Slogan „From the River to the Sea, Palestine will be free“, der bei den Kundgebungen häufig zu hören ist und am 21. Februar sogar auf den Big Ben projiziert wurde.
Gleich nach dem 7. Oktober hatte Braverman als Innenministerin die Polizeispitze angewiesen, den Slogan als „Ausdruck eines gewaltsamen Verlangens“ zu interpretieren, den Staat Israel „auszuradieren“, was ein Verstoß gegen die öffentlichen Ordnung sei.3 In mindestens einem Fall befolgte die Polizei die Instruktionen Bravermans: In Manchester wurde eine junge Frau palästinensischer Herkunft festgenommen und wegen „rassistisch aufgeladener Sprache“ angeklagt.4
Sunaks Feldzug gegen Palästina-Sympathisanten
Die Israel-Unterstützer sehen in dem Slogan eine „verborgene Agenda“: Da der Slogan nichts darüber aussage, was nach der Befreiung Palästinas mit der jüdischen Bevölkerung Israels geschehen solle, könne man ihn nur als Aufruf zur Vernichtung und Vertreibung verstehen. Die palästinensische Seite betont hingegen, der Slogan sei ein Aufruf zur Gleichberechtigung und nicht zu ethnischer Säuberung. Aber das findet in den britischen Medien kaum Gehör.5
Nicht hinterfragt werden dagegen die Slogans der anderen Seite, die auf „das israelische Recht auf Selbstverteidigung“ oder das „Existenzrecht Israels“ abheben. Bei der ersten Formel wird nicht ausgeführt, welche Methoden bei der Selbstverteidigung des Staates Israel statthaft sein sollen; die zweite sagt nichts über einen palästinensischen Staat, also wo dieser an der Seite Israels existieren soll – und ob überhaupt.
Anfang März ging Richi Sunak in seinem Feldzug gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung noch weiter, als er behauptete, die Demonstrationen für einen Waffenstillstand führten zu „einer erschreckenden Zunahme extremistischer Umtriebe und Straftaten“. Dabei gab es bei den Protesten, die besonders friedlich und diszipliniert verliefen, weniger Festnahmen als bei einem Musikfestival oder einer Sportveranstaltung ähnlicher Dimensionen.6 Der Premier stützte sein Verdikt auf unverantwortliche und völlig unbewiesene Behauptungen von Journalisten, wonach in London No-go-Areas für Juden im Entstehen seien.
Zwei britische Hochschullehrer, die Wissenschaftsministerin Michelle Donelan als Hamas-Unterstützter denunzierte, verklagten die Ministerin wegen Verleumdung und hatten vor Gericht Erfolg.7 Und als der Minister Michael Gove im Auftrag der Regierung eine neue Definition des Begriffs „Extremismus“ formulierte, mahnten die Erzbischöfe von Canterbury und York, die Definition ziele „unverhältnismäßig stark auf Muslime ab“. Gove ist eine Galionsfigur der neokonservativen Rechten; er hatte die britischen Muslime schon früher als Gefahr für die liberale Demokratie ausgemacht.8
Befeuert werden die Attacken gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung auch durch Äußerungen von Regierungsvertretern, deren Amtstitel von George Orwell erfunden sein könnten. So rief John Woodcock, seines Zeichens „Unabhängiger Berater gegen politische Gewalt und Gefährdung der politischen Stabilität“ zur „‚Nulltoleranz‘ gegenüber demokratiegefährdenden Gruppierungen“ auf, was unter anderem auf die Palestine Solidarity Campaign (PSC) zielt.
Darauf reagierte die Tory-Abgeordnete Miriam Cates am 4. März mit einem besorgten Post auf X: „Wenn ‚extremistische‘ Meinungen illegal sind, „dann hat derjenige, der den Begriff ‚Extremismus‘ definiert, auch die Macht, die Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit einzuschränken.“ Dieser Weg führe in den Autoritarismus.
Woodcock war früher Labour-Abgeordneter und wechselte 2019 zu den Tories. Doch viele Parlamentarier seiner früheren Partei verurteilen ebenfalls die Gaza-Demonstrationen – allen voran Labour-Chef Keir Starmer. Zu Beginn der israelischen Offensive erklärte Starmer im Brustton der Überzeugung, Israel habe das Recht, der Zivilbevölkerung im Gazastreifen das Wasser und den Strom abzudrehen, obwohl dies den Straftatbestand eines Kriegsverbrechens erfüllt. Das ging nach hinten los, und Starmer musste zurückrudern. Er behauptete einfach, er habe die Frage falsch verstanden – eine glatte Unwahrheit.
Zwei Labour-Abgeordnete wurden von Keir Starmer sogar suspendiert. Andy McDonald hatte auf einer Kundgebung in London erklärt: „Wir werden nicht aufhören, solange die gesamte Bevölkerung nicht in Frieden und Freiheit leben kann – und zwar die israelische und die palästinensische, vom Fluss bis zum Meer“. Kate Osamor wurde aus der Fraktion ausgeschlossen, weil sie den Krieg in Gaza als Völkermord bezeichnet hatte, nachdem der Internationale Gerichtshof die Klage Südafrikas gegen Israel unter Berufung auf die Völkermordkonvention zugelassen hatte.
Labour-Unterstützung für Waffenlieferungen
Allerdings wurde McDonald wieder in die Labour-Fraktion aufgenommen, nachdem die Partei Ende Februar bei einer wichtigen Nachwahl in Rochdale (bei Manchester) eine Niederlage erlitten hatte. Wahlsieger war nämlich George Galloway von der Workers Party, ein ehemaliger Labour-Abgeordneter, dem es gelungen war, den Urnengang zur Abstimmung über Keir Starmers Israel-Unterstützung zu machen.
Dem Erfolg Galloways war eine erbitterte Kontroverse vorausgegangen. Wenige Tage vor seiner Wahl hatte die Scottish National Party (SNP) im Unterhaus einen Entschließungsantrag für einen Waffenstillstand eingebracht. Labour wollte die Formulierungen „Kollektivbestrafung des palästinensischen Volkes“ und „Massaker an unschuldigen Zivilisten“ aus dem Antrag tilgen und den klaren Aufruf zum Waffenstillstand durch Formulierungen verwässern, die Netanjahu dazu legitimierten, den Krieg weiterzuführen.
In dem Änderungsantrag von Labour-Abgeordneten hieß es: „Die Israelis haben ein Recht auf die Garantie, dass die Gräuel des 7. Oktober 2023 sich nicht wiederholen.“ Was darin nicht vorkam, war das Recht der Palästinenser auf die Garantie, dass die seit dem 7. Oktober (und lange davor) erlittenen Gräuel sich nicht wiederholen.
Keir Starmer wollte unbedingt vermeiden, dass Labour-Abgeordnete die Chance bekommen, für den SNP-Antrag zu stimmen oder sich zu enthalten. Deshalb drängte er den Unterhaus-Speaker Lindsay Hoyle, die Änderungsanträge von Labour vor der Abstimmung über die SNP-Resolution zu behandeln. Das war ein eklatanter Verstoß gegen die parlamentarischen Gepflogenheiten – nur um zu verhindern, dass die drittgrößte Partei des Unterhauses einen Antrag einbringen kann, der die Mehrheitsmeinung im Land ausdrückt. Führende Labour-Leute ließen den Medien gegenüber durchsickern, man habe Lindsay Hoyle „unzweifelhaft klargemacht“, falls er nicht spurt, werde er nach den nächsten Wahlen nicht mehr Speaker sein.
Mit ihrer Weigerung, unmissverständlich einen Waffenstillstand zu fordern, stellen sich die Labour-Politiker jedoch gegen ihren eigenen Anhang. Nach einer YouGov-Umfrage im Februar meinten 83 Prozent der Befragten, die bei den letzten Parlamentswahlen für Labour gestimmt haben, Israel solle seine Militäroperation beenden; für eine Fortsetzung waren nur 3 Prozent.
Starmers hartnäckige Unterstützung für Netanjahus Krieg rührt auch von seiner Weigerung, zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Unterstützung für Israel zu differenzieren. Seit er 2020 Parteivorsitzender wurde, setzt er das Eintreten für die Rechte der Palästinenser mit Judenfeindlichkeit gleich und nutzt dieses Konstrukt, um den linken Parteiflügel zu marginalisieren. Bis zu den spätestens im Januar 2025 stattfindenden Parlamentswahlen dürfte dieses innerparteiliche Totschlagargument für den Labour-Chef jedoch zu einem großen Problem werden.
Mittlerweile fordern auch einflussreiche Politiker wie der Konservative Nicholas Soames, Mitglied des House of Lords, oder Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan, die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Doch Sunak und Starmer bleiben fest entschlossen, weiterhin zu liefern. Selbst wenn sie sich in den kommenden Wochen anders besinnen sollten, haben beide schon jetzt ihre eigene Reputation, aber auch das internationale Profil ihres Landes dauerhaft beschädigt.
5 Zur Vieldeutigkeit des Slogans siehe: Kristin Helberg, „Deutung einer Parole“, Qantara, 29. April 2024.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Daniel Finn ist Journalist.