08.05.2024

Das Recht zu schießen

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Das Recht zu schießen

von Maëlle Mariette und Franck Poupeau

Katie aus Texas Aus: Gabriele Galimberti und Gea Scancarello, „The Ameriguns“, Manchester (Dewis Lewis Publishing) 2020GABRIELE GALIMBERTI
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Mit einer schnellen und energischen Bewegung schiebt die junge Frau das Magazin in die Waffe und drückt ab. Im Bruchteil einer Sekunde fliegt die Patronenhülse durch die Luft, knallt die Detonation durch den Gehörschutz aufs Trommelfell und breitet sich der beißende Gestank von Schießpulver aus. Sandra richtet ihr Fernglas auf die Zielscheibe. Sie lächelt, legt ihre Smith & Wesson M&P 40 Shield auf den Tisch und ruft: „Ins Schwarze!“

Die Schützin, Migrantin aus Mexiko, Krankenpflegerin von Beruf, trainiert erst seit Kurzem an der Waffe. Wir treffen sie an einem Samstagmorgen auf dem öffentlichen Schießplatz der Ben Avery Shooting Facility im Norden von Phoenix, Arizona. Die Gun Ranch, die zwischen riesigen Saguaro-Kakteen mitten in der Wüste liegt, ist mit 668 Hektar die größte Schießanlage dieser Art in den USA. Unter einem rustikalen Holzdach reihen sich kleine Schießtische aus Zement, so weit das Auge reicht. Hinter ihnen üben die Schützen allein oder mit ihren Familien – der Zutritt ist ab fünf Jahren erlaubt – eifrig am Luftgewehr, an der Halbautomatik oder einem Weitschussgewehr.

Die Temperatur erreicht an diesem Morgen schon 43 Grad. Doch die Schützen lassen sich durch nichts stören. Nur die Zielscheibe zählt: konzentrische Kreise, menschliche Gesichter oder kleine bunte Außerirdische, die vor allem den Kindern so gefallen. Alle müssen Ohrschützer und Schutzbrillen tragen. Bevor es am Ende zu den Picknicktischen mit eingebautem Grill geht, werden noch die auf dem Boden verstreuten Patronenhülsen ordentlich weggefegt.

„Seit der Coronapandemie läuft der Laden ziemlich gut“, erzählt John, Besitzer eines Waffenladens in Cave Creek am nördlichen Stadtrand von Phoenix. 2020 wurden in den USA 23 Mil­lio­nen Schusswaffen verkauft, 8,4 Millionen der Privatkunden waren Erstkäufer.1 Das seien aber nicht die üblichen Kunden gewesen, erklärt John hinter seiner Glastheke, in der alle möglichen Waffenmodelle und -größen ausliegen. Laut einer im Dezember 2021 veröffentlichten Studie waren damals die Hälfte der Waffenkäufer weiblich und 40 Prozent gehörten einer ethnischen Minderheit an.2

„Ich habe meine erste Waffe 2016 gekauft, als Donald Trump gewählt wurde“, erzählt Co­lette Jennings, eine Afroamerikanerin um die 30, in einem Fast-Food-Restaurant in Tucson, der zweitgrößten Stadt in Arizona. „Wie viele Schwarze habe ich mir Sorgen gemacht wegen der vielen Angriffe auf Afroamerikaner bei Trumps Wahlkampfauftritten und wegen der Hasskommentare seiner Anhänger in den sozialen Medien.“ Seither hat sie ihre Waffe immer dabei.

Als im Mai 2020 George Floyd von einem weißen Polizisten ermordet wurde, kam es mit „Black Lives Matter“ im ganzen Land zu riesigen Protesten. Da beschloss Colette Jennings, sich fortan für das individuelle Recht auf Waffenbesitz einzusetzen, wie es im Second Amendment der US-Verfassung geschrieben steht.

Jennings ist kein Einzelfall. 2020 stieg die Zahl der Mitglieder in der National African American Gun Association (NAAGA) um mehr als 25 Prozent – vor allem durch den Beitritt von Frauen. Der 2015 gegründeten Organisation gehören inzwischen fast 50 000 Menschen an – obwohl Schwarze mit einer Waffe oft ins Visier der Polizei geraten. So wurde etwa Colette Jennings Bruder nur deshalb verhaftet, weil die Polizei in seiner Tasche eine Waffe fand. Dergleichen geschieht Weißen eher selten.

Queerer Waffenclub Pink Pistols

Als Ronald Reagan Gouverneur von Kalifornien war, erließ er ein Gesetz, den Mulford Act von 1967, mit dem das Tragen von geladenen Waffen in der Öffentlichkeit verboten wurde. Es richtete sich in erster Linie gegen die Black-Panther-Aktivisten, die damals durch die Straßen von Oakland patrouillierten, um ihrerseits die Polizei zu kon­trol­lieren. Überhaupt hatten Gesetze zur Waffenkontrolle auch stets das Ziel, die Schwarze Bevölkerung niederzuhalten3 – um Revolten auf den Plantagen zur Zeit der Sklaverei zu verhindern, und auch später in der Jim-Crow-Ära zwischen 1877 bis 1964, als Schwarze zwar nicht mehr versklavt, aber einem brutalen System der Segregation unterworfen waren.4

Philip Smith, Gründer und Vorsitzender der NAAGA, verbindet mit dem Recht auf Waffenbesitz daher auch so etwas wie eine Wiedergutmachung und Anerkennung: „Wir haben für dieses Land gekämpft und sind für dieses Land gestorben, obwohl wir nichts als Sklaven waren. Das Recht auf Waffenbesitz ist Teil unserer amerikanischen Staatsbürgerschaft.“5

2020 kamen in den USA 19 613 Menschen durch Schusswaffen ums Leben.6 Es war ein historischer Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und zugleich ein Wendepunkt: 2021 stiegen die Opferzahlen auf über 20 000 (mit 21 068 in 2021 und 20 390 in 2022), immer mehr von ihnen kamen durch Massenschießereien mit vier und mehr Toten um.

Nicht nur Afroamerikaner legen sich immer häufiger Waffen zu. Philip Gomez, ein Jurastudent an der University of California in Berkeley und mexikanischer Herkunft, gründete vor ein paar Jahren die Latino Rifle Association. Auslöser war das Massaker von El Paso im August 2019 mit 23 Toten. Der Attentäter, der im Juli 2023 zu mehreren lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurde, hatte damals in einer Walmart-Filiale mit einem Sturmgewehr gezielt auf Menschen mit augenscheinlich hispanischem Hintergrund geschossen.

Die Latino Rifle Association schult ihre Mitglieder in Selbstverteidigung, so Gomez, damit sie zum Üben nicht in die Waffenklubs gehen müssen, wo Konföderiertenflaggen hängen und die Gewehre mit dem antimexikanischen Trump-Slogan „Build That Wall!“ beklebt sind.

Auch die LGBTQI-Community organisiert sich. Wir treffen Jason D., den Vorsitzenden der Phoenix-Sektion des Waffenklubs Pink Pistols, nach seinem Training in Shooter’s World, einem Schießstand im armen industriellen Randgebiet von Phoenix: „Das hier ist einer der wenigen Orte, wo wir nicht gemobbt werden. Wir treffen uns einmal die Woche. Aber eigentlich mag ich keine Waffen, ich mag es nicht, zu schießen.“ Dann zählt er die letzten homo- und transphoben Angriffe mit Waffen auf. Die meisten Opfer gab es bei dem Massaker von Orlando (Florida), als ein Mann am 12. Juni 2016 im Nachtklub Pulse 49 Menschen erschoss und mindestens 53 teilweise schwer verletzt wurden: „Ich habe keine andere Wahl, als immer eine Waffe bei mir zu haben.“

Der typische Waffenbesitzer sei zwar nach wie vor der weiße, alte, männliche, politisch konservative Südstaatler vom Land, erklärt David Ya­mane, Gründer des Blogs Gun Culture 2.0 und Soziologieprofessor an der Wake Forest University in Winston-Salem, North Carolina. Doch insgesamt sei das Spektrum vielfältiger: „Von 50 Mil­lio­nen Waffenbesitzern sind ungefähr 20 Millionen traditionelle Konservative, etwa die gleiche Anzahl bezeichnet sich als politisch gemäßigt, die restlichen bezeichnen sich als Liberale.“ Was im US-Kontext gemäßigte Linke meint. Die meisten Neubesitzer von Waffen kämen, so Yamane, aus dieser Gruppe, zu der er „Sozialisten und Anarchisten, aber auch Libertäre und Demokraten“ zählt – und Menschen, die dem Staat prinzipiell misstrauen: „zuvorderst Afroamerikaner und Latinos“.

Die 50-jährige Anwältin Lara Smith aus Kalifornien ist nationale Sprecherin des Liberal Gun Club (LGC), des Gegenvereins zur National Rifle Association (NRA), der mächtigsten Waffenlobby der USA.7 Der LGC sei 2008 als Gegenmodell gegründet worden zu der rassistischen, extrem rechten Haltung, die in der Welt der Waffen dominiert, erzählt Smith.8 Nach dem Einzug von Trump ins Weiße Haus sei die Mitgliederquote um 10 Prozent gestiegen. In 33 Bundesstaaten hat der LGC mehrere tausend Mitglieder: „Viele Progressive haben plötzlich begriffen, dass in Washington eine tyrannische Regierung ans Ruder kommen könnte und dass das Second Amendment einen Schutz darstellt.“9

In den letzten Jahrzehnten hat die NRA, die landesweit fünf Millionen Mitglieder hat und über ein Netz aus 14 000 angegliederten Organisationen – Klubs, Vereine, Unternehmen et cetera – verfügt, eine extensive Auffassung des Rechts auf Waffensitz durchgesetzt. Bei ihrer Gründung 1871 ging es in der NRA hauptsächlich ums Jagen und Sportschießen. Zur Waffenlobby entwickelte sie sich erst in den 1960er Jahren und beim Jahreskongress 1977 übernahmen die konservativsten republikanischen Kräfte das Ruder.

Unmittelbar zuvor war das Institute for Legislative Action (ILA) gegründet worden, das sich auf seiner Internetseite als „bewaffneter Arm der NRA“ präsentiert und „das Recht aller gesetzestreuen Individuen“ verteidigt, „zu legitimen Zwecken Waffen zu kaufen, zu besitzen und zu nutzen, wie es das Second Amendment der US-Verfassung garantiert“.

Tatsächlich hat das Recht auf Waffenbesitz eine heute weitgehend vergessene Geschichte. Es waren die aufgeklärten Ostküsten-Intellektuellen, die 1789 das Recht auf Waffenbesitz in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aufnahmen. Es ging jedoch nicht um Individualismus, sondern um politische Teilhabe und Emanzipation.10 Die Vereinnahmung des Second Amendment durch die Konservativen veränderte dessen Bedeutung, so dass es heute im Wesentlichen zwei konkurrierende Interpretationen gibt.11 Die eine hat im Sinn, dass es geordnete Milizen in den einzelnen Bundesstaaten geben müsse, um deren Existenz gegenüber der Zentralmacht zu verteidigen.

Die andere macht aus dem Second Amendment ein unveräußerliches individuelles Recht: 1986 erließ Präsident Reagan, den die NRA im Wahlkampf massiv unterstützt hatte, ein Gesetz zum Schutz von Waffenbesitzern und -verkäufern (Firearms Owners’ Protection Act) und 2008 fällte der Supreme Court ein Grundsatzurteil: Im Prozess District of Columbia vs. Heller bestätigte er das individuelle Recht jedes US-Bürgers auf das Tragen einer Waffe zur Selbstverteidigung.

Die Auffassung, dass man sich mit Waffen gegen kriminelle Bedrohungen und potenziellen „Machtmissbrauch“ durch den Staat – womit eigentlich alle Regulierungen gemeint sein können12 – wappnen müsse, war die vorherrschende zu Zeiten der „konservativen Revolution“ in der Republikanischen Partei, die „weniger Staat“ und die Rückkehr zu traditionellen Werten forderte.

Das Tragen von Waffen wurde quasi zum heiligen Recht erhoben, das auf gar keinen Fall eingeschränkt werden dürfe. „Wir sind Millionen sehr unterschiedliche Menschen, die für ihre eigene Sicherheit und den Schutz ihrer Kinder Verantwortung übernehmen, das ist ein von Gott gegebenes Recht“, pflegte NRA-Geschäftsführer ­Wayne LaPierre zu sagen. Im Januar 2024 verlor er seinen Job und wurde am 23. Februar von einem New Yorker Geschworenengericht schuldig befunden, über 5 Millionen Dollar aus der NRA-Vereinskasse unterschlagen zu haben.

LaPierres Ansichten sind typisch für die Waffenfreunde. Cheryl Todd, die 60-jährige Inhaberin eines Waffengeschäfts am Stadtrand von Phoenix und Moderatorin der Sendung „Gun Freedom Radio“, ist eine glühende Verfechterin des Second Amendment. Zum Beweis ihrer Standfestigkeit wedelt sie mit einem Exemplar der US-Verfassung und schwärmt von der wachsenden Zahl neuer Waffenbesitzer, die man nun – teilweise „zum ersten Mal in ihrem Leben“ mit „unserer Identität“ vertraut machen könne und dem, was „unsere Gründerväter in unsere Verfassung geschrieben haben“: „Das ist mein Recht als Mensch, als Frau, als Mutter, als Großmutter und als Ehefrau. Das ist ein individuelles Recht, bei dem der Staat nichts mitzureden und keine Rolle zu spielen hat. Weil es das Recht ist, das Gott mir gegeben hat, um mein Leben mithilfe eines besonderen Werkzeugs zu schützen: meiner Waffe.“

Die NRA ist nicht nur eine Lobbyorganisation der Waffenindustrie mit engen Verbindungen zu konservativen Abgeordneten. Jedes Jahr bilden außerdem 80 000 von der NRA zertifizierte Schießtrainer etwa 750 000 Ame­ri­ka­ne­r:in­nen an der Waffe aus. Zudem betrauen viele Bundesstaaten die NRA mit den Schulungen zur Erlangung des Kleinen Waffenscheins. Bei solchen Gelegenheiten kann die NRA verbreiten, dass Besitz und Tragen einer Waffe nicht nur eine von der Verfassung garantierte Grundfreiheit ist, sondern ein geradezu staatsbürgerlicher Akt: „Mit einer Waffe bin ich Staatsbürger, ohne Waffe bin ich nur Untertan“, verkündet denn auch Schießlehrer Carlos, bevor er seinen Unterricht in einem NRA-Schießklub in Tuscon beginnt.

Auch Ken Campbell, Ex-Sheriff und Leiter von Gunsite („das älteste und größte Schießtrainingszentrum der Welt“), geht es um die Ausbildung von „guten Staatsbürgern“ und – untrennbar damit verbunden – „guten bewaffneten Kerlen“. Gunsite liegt zwei Autostunden nördlich von Phoenix in der Kleinstadt Paulden. Das vormalige American Pistol Institute wurde 1976 von Oberstleutnant Jeff Cooper gegründet, der als Marine im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg gekämpft hat. In den USA, so Cooper, soll jedermann darauf vorbereitet sein, sich gegen die „bad guys“ zu verteidigen.

Für 2000 Dollar kann man hier ein fünftägiges Intensivtraining absolvieren, das einen in die Lage versetzt, sich „in jedweder Situation zu behaupten“. Die Trainer sind Polizisten, Eliteschützen oder ehemalige Marines und Kommandanten, die im Irak oder in Afghanistan stationiert waren. Das Übungsgelände erstreckt sich über 1300 Hektar in der Wüste. Es ist ausgestattet mit 27 Schießständen, von Kugeln durchlöcherten Autos, an denen trainiert wird, wie man sich bei einer Schießerei auf dem Parkplatz verteidigt, und mit sogenannten „kill houses“, in denen Einbrüche simuliert werden.

Selbst beim Essen im Restaurant sollte man stets auf der Hut sein: „Setz dich immer so hin, dass du den Rücken frei hast und die Eingangstür im Blick behältst. Schau dich ganz genau um und wenn du einen Burschen siehst, der keinen guten Eindruck macht, sei vorsichtig“, sagt Trainer Campbell. In seinem Büro-Fernseher läuft Fox News in Dauerschleife. Mehrere US-Flaggen hängen neben Sammlerwaffen. „Ich will mich nicht darauf verlassen, dass der Staat mich schützt. Nicht der Staat hat die Macht, sondern das Volk.“

Vertrauen auf Gott und Gewehr

John Correia ist Selbstverteidigungsexperte, bezeichnet sich als progressiv und libertär und ist ein Kritiker der NRA. Früher war er Pastor, daher das Motto auf seinem T-Shirt: „Rifle and Bible“. Er findet, man müsse sich „mit seinen eigenen Mitteln verteidigen“ und dürfe „von niemandem abhängig“ sein, vor allem nicht von den „Bullen, die Zeit brauchen, um anzurücken“ und „ihren Job schlecht machen“.

Dieses negative Bild von der Polizei ist unter Waffenbesitzern verbreitet, insbesondere seit polizeiliches Fehlverhalten häufiger öffentlich gemacht wird. Auf seinem Youtube-Kanal Active Self Protection – drei Millionen Abonnenten, 50 Millionen monatliche Aufrufe – veröffentlicht John Correia seit 2013 seine Analysen von Gefahrensituationen (Taschendiebstahl, Überfälle aller Art, Freiheitsberaubung et cetera) und Tipps, wie man sich dagegen zur Wehr setzen kann. Wir treffen ihn bei der Aufnahme eines neuen Tutorials im C2 Tactical, einem Schießklub am Stadtrand von Phoenix.

Der sechsfache Vater meint, bei der Verteidigung seiner Familie könne er sich nur auf seine Waffe und auf Gott verlassen: „Was die amerikanische Waffenkultur vor allen anderen auszeichnet, ist die Tatsache, dass wir unsere Freiheit mit Waffen erobert haben. Der erste Zusatzartikel, der die Meinungs-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit garantiert, ist wichtiger als der zweite, aber der zweite garantiert den ersten, weil er einen Schutz gegen staatliche Tyrannei bietet und daran erinnert, dass der Staat nur da ist, weil wir ihn wollen. Wenn wir ihn verändern wollen, haben wir das Recht dazu, und der bewaffnete Widerstand bleibt immer das letzte Mittel.“

Correias Misstrauen gegenüber dem Staat speist sich aus zwei Grundüberzeugungen: Erstens sei der Staat gar nicht in der Lage, seine Bürger zu beschützen; zweitens behaupte er unberechtigterweise, sie zu verteidigen, beraube sie aber in Wirklichkeit ihrer Individualität und degradiere sie zu Untertanen, denen die Freiheit zum Widerstand und das Recht (und die Pflicht), ihre Familien zu beschützen, genommen wird.

Am anderen Ende des politischen Spektrums ist Schießtrainer Gully derselben Auffassung. Der linke Waffennarr fährt jede Woche von Tuscon in die Wüste zum Schießtraining mit seinen Freunden von der Socialist Rifle Association – die, so der Autor Benjamin Kunkel, „im Grunde nur ein Spiegelbild der National Rifle Association ist“.13 Wir treffen Gully mit seinem Freund Dave. Sie packen Munitionskisten und eine ganze Sammlung von Waffen aus: Gewehre und Pistolen, mit Aufklebern wie „Patriotism is propaganda“, ­„Make racists afraid again“ oder „Destroy power not ­people“.

Verrostete Patronenhülsen liegen auf dem Boden. Die beiden Männer zielen auf leere Konservendosen und eine alte Mikrowelle. Gully trainiert „vor allem Schwule und Transpersonen, die in diesen Zeiten besonders gefährdet sind“. Wegen „der alltäglichen Gewalt“ und der „immer größeren Brutalität der Bullen“ sei es gerechtfertigt, dass alle sich bewaffnen. Er sei bereit, Waffengewalt einzusetzen, sagt er, „wenn die Faschos zu weit“ gehen. Er sagt auch, er würde mit ihnen zusammen demonstrieren, sollte die Regierung irgendwann Waffen verbieten wollen.

Der Gunsite-Chef Campbell berichtet, er gebe „immer öfter Leuten Schießunterricht, die nicht öffentlich sagen wollen, dass sie eine Waffe tragen: Hollywoodstars, Anwälte, Professoren und so. Wenn man für einen Demokraten gehalten werden will, ist es schwierig, zuzugeben, dass man eine Waffe besitzt“. Es sei ein Dilemma, das ihn „politisch heimatlos“ gemacht hat, erklärt der Soziologe David Yamane, der das Recht auf Abtreibung genauso verteidigt wie das Recht, eine Waffe zu tragen. Mit dieser Haltung sieht er sich sowohl von den Demokraten als auch von den Republikanern stigmatisiert.

Auch Scott Prior, der Vorsitzende der Arizona-Sektion des Liberal Gun Club, weist die Behauptung der NRA und vieler Konservativer zurück, nur ihr politisches Lager trete für Waffenbesitz ein – diese Verknüpfung machen allerdings auch progressive Medien. „Linke, die Waffen besitzen, tauchen in der Öffentlichkeit gar nicht auf“, meint Prior. „Jedes Mal, wenn wir mit Rechten zu tun haben, wollen sie uns nicht abnehmen, dass wir genau wie sie das Second Amendment unterstützen.“

So war es auch im Februar 2023 beim LGC-Jahrestreffen, als sie draußen vor dem Arizona State Capitol das Recht auf Waffenbesitz und das Second Amendment gefeiert haben. „Die Demokraten haben keine Ahnung vom Waffenthema“, meint Prior. „Alles, was sie tun, ist, Restriktionen vorzuschlagen, die längst in Kraft sind“ – wie etwa die Kontrolle des Vorstrafenregisters von potenziellen Waffenkäufern. Die Vorschrift wurde bereits in allen Bundesstaaten eingeführt.

Auf der Waffenmesse Prescott Valley Gun Show im Norden von Arizona steht der Trumpist Ted hinter einem Stand, der mit „Make Democrats American Again“-Aufklebern übersät ist. Auf seinem Mottoshirt steht „Black on Ammo“ (Die Munition ist alle). Als wir das Gerücht erwähnen, dass die Demokraten Waffen verbieten wollen, bricht er in schallendes Gelächter aus: „Es gibt in diesem Land Millionen von Waffen, niemand wird sie je verbieten können. Sollen sie nur versuchen, sie uns wegzunehmen! Im Zweiten Weltkrieg haben die Japaner Amerika nicht angegriffen, weil sie wussten, dass hinter jedem Grashalm einer mit ’ner Waffe steht.“

Viele Waffenbesitzer, ob progressiv oder konservativ, fühlen sich von der Demokratischen Partei missachtet und unverstanden, besonders von den Eliten an der Ostküste und in Kalifornien. Die New York Times oder die Washington Post veröffentlichen „immer seltener Reportagen über Orte abseits der progressiven urbanen Milieus“, beobachtet Yamane. „Sie haben nicht die geringste Ahnung, was in diesen Gegenden wirklich los ist. Weil sie zum Beispiel noch nie Waffenbesitzern vor Ort begegnet sind, rufen sie andauernd bei mir an und fragen: ‚Aber warum machen diese Leute das?‘ “

Die demokratischen Eliten hätten auf progressive Waffenbesitzer einen noch größeren Hass als auf die NRA14 , sagt Lara Smith vom Liberal Gun Club nach einem Treffen mit den Vertretern von Everytown for Gun Safety. Der frühere Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, hat die Organisation 2013 mit dem Ziel gegründet, eine strengere Waffenkontrolle im Land durchzusetzen. „Das ist einer der Gründe, warum ich aus der Demokratischen Partei ausgetreten bin“, erzählt Scott Prior. „Ich bin in Texas aufgewachsen, meine Tante und mein Onkel hatten ein Waffengeschäft. Unabhängig von meinen politischen Überzeugungen waren und sind Waffen Teil meines Lebens.“

Nach Ansicht der Waffenhändlerin Cheryl Todd „hat Obama keine schlechten Gesetze verabschiedet, aber wie er die vermittelt hat, war eine Katastrophe. Und Biden macht den gleichen Fehler.“ Dagegen habe Donald Trump „eine Menge Waffenkontrollgesetze erlassen, mehr als die Demokraten!“ Wie viele Waffenbesitzer ist Todd empört über Trumps „unverzeihliche“ Entscheidung, Schnellfeuerkolben (bumb stocks) zu verbieten, die die Schussfolge beschleunigen. Die Republikanerin sagt, sie werde es sich „zweimal überlegen“, ob sie wieder Trump wählt. Aber den Demokraten ihre Stimme zu geben, kann sie sich überhaupt nicht vorstellen.

1 Jennifer Carlson, „Merchants of the Right. Gun Sellers and the Crisis of American Democracy“, Princeton (University Press) 2023.

2 Matthew Miller, Wilson Zhang und Deborah Azrael, „Firearm purchasing during the Covid-19 pandemic: Results from the 2021 national firearms survey“, in: Annals of Internal Medicine, Bd. 175, Nr. 2, Philadelphia, Februar 2022.

3 Siehe Angela Stroud, „Guns don’t kill people …: Good guys and the legitimization of gun violence“, in: Humanities and Social Sciences Communications, Bd. 169, Nr. 7, 2020.

4 Siehe Loïc Wacquant, „Ein teuflisch penibles System“, LMd, März 2024, und „Lynchmorde als öffentliches Spektakel“, LMd, April 2024.

5 Lakeidra Chavis und Agya K. Aning, „In a year of racial and political turmoil, this black gun group is booming“, The Trace, New York, 16. Dezember 2020.

6 Vgl. „GVA 10 Year Review 2014–2023“, Gun Violence Archive, Washington, D. C.

7 Siehe Deborah Friedell, „Waffen für alle“, LMd, November 2020.

8 Derek Walter, „Vote democrat, love guns? There’s a group for you, too“, The Trace, 15. September 2017.

9 Siehe die Smith-Zitate bei Kali Holloway, „6 gun groups that aren’t for white right-wingers“, salon.com, 3. September 2017.

10 Siehe Benoît Bréville, „Die Freiheit der Waffennarren“, LMd, März 2013.

11 Richard Uviler und William Merkel, „The Militia and the Right to Arms, or, How the Second Amendment Fell Silent“, Durham (Duke University Press) 2003; Patrick Charles, „The Second Amendment. The Intent and Its Interpretation by the States and the Supreme Court“, Jefferson (McFarland & Company) 2009.

12 Mugambi Jouet, „Guns, identity and nationhood“, Palgrave Communications, Bd. 138, Nr. 5, London 2019.

13 Siehe Benjamin Kunkel, „Zorn und Waffen“, LMd, Juli 2021.

14 Ben Strauss, „The loneliness of the liberal gun lover“, Politico, 4. November 2017.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Maëlle Mariette ist Journalistin, Franck Poupeau ist Soziologe.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2024, von Maëlle Mariette und Franck Poupeau