08.05.2024

Der Fall Beleri

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Der Fall Beleri

Was die Verhaftung eines südalbanischen Lokalpolitikers mit der Beton-Mafia zu tun hat

von Hans-Georg Taucher

Oberhalb des Manastiri-Strands an der südalbanischen Küste HANS-GEORG TAUCHER
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Als sich Fredi Beleri bei den albanischen Kommunalwahlen vor einem Jahr für das Bürgermeisteramt im südlichen Küstenstädtchen Himara bewarb, standen seine Chancen nicht schlecht. Beleri trat für das oppositionelle Wahlbündnis „Bashkë Fitojmë“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Sali Berisha an. Aber nur zwei Tage vor dem Wahlgang wurde er abends vor seinem Restaurant verhaftet – angeblich „in flagranti“ beim Kauf von Wählerstimmen.

Als Beweismittel lagen laut der Staatsanwaltschaft der Bezirkshauptstadt Vlora Tonaufnahmen eines Polizeispitzels vor. Wegen Gefahr im Verzug habe man zugreifen müssen, denn Beleri habe mit seinem Handeln das Wahlergebnis beeinflussen können. Dennoch gewann er die Wahl mit 19 Stimmen Vorsprung. Allerdings konnte der Kandidat, der zur griechischen Minderheit in Südalbanien gehört und auch die griechische Staatsbürgerschaft besitzt, seinen Posten bis heute nicht antreten. Denn für die Vereidigung hätte er persönlich erscheinen müssen. Stattdessen blieb er in Untersuchungshaft, Anträge auf Freigang oder Hausarrest wurden abgelehnt.

Inzwischen ist Beleri in erster Instanz zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, das Berufungsverfahren ist für Juni angesetzt. Bis zur letztinstanzlichen Entscheidung bleibt Beleris Vorgänger Jorgo Goro kommissarisch im Amt. Goro ist Mitglied der Sozialistischen Partei Albaniens (PS) des Ministerpräsidenten Edi Rama.

Rückblick: Bei den Parlamentswahlen im April 2021 wurden Edi Rama und seine PS mit dem Rekordergebnis von fast 49 Prozent wiedergewählt. Ein parteiübergreifendes Oppositionsbündnis unter Führung der Demokratischen Partei (PD) kam nur auf knapp 40 Prozent. Der seit 2013 amtierende Rama kann sich in seiner dritten Amtsperiode auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen.

Auch die Gemeindeebene hatte die PS fest im Griff, weil die PD die letzten Kommunalwahlen von 2019 boykottiert hatte; damals fielen auch demokratische Hochburgen an die PS. Zur Kommunalwahl im Mai 2023 trat die PD zwar landesweit wieder an. Aber sie war schlecht organisiert und aufgespalten in das Wahlbündnis „Bashkë Fitojmë“ und eine chancenlose Rumpf-PD. Die Vorherrschaft der PS war also nicht gefährdet – außer in Himara.

Beleri war nicht der Einzige, der am Wahltag im Gefängnis saß. Auch andere Honoratioren aus Himara wurden über das Wahlwochenende festgesetzt – ein parteiloser Lokalpolitiker und Unterstützer Beleris beispielsweise wegen Trunkenheit am Steuer. Das Vorgehen der Exekutive war offensichtlich orchestriert, und zwar von Tirana aus.

Wozu das Ganze? Zwei Gründe waren ausschlaggebend. Beide haben mit der Albanischen Riviera zu tun: Hinter Vlora und der Bucht von Orikum ragt das über 2000 Meter hohe Ceraunische Gebirge auf. Jenseits des Llogara-Passes beginnt der Küstenabschnitt der Albanischen Riviera, mit hoch über dem Meer liegenden Dörfern, mit Olivenhainen, Zypressen, Orangenbäumen, unerschlossenen Buchten und Stränden. Ein landschaftliches Juwel.

Längst ist das touristische Potenzial erkannt. Die Erschließungsmaßnahmen laufen auf Hochtouren; noch 2024 soll der Llogara-Tunnel eröffnen, der die Fahrt zur südlichen Küste erheblich beschleunigt. Ein internationaler Flughafen bei Vlora soll 2025 den Betrieb aufnehmen. Himara ist, mit dem einzigen Hafen der Region, für den Tourismus von zentraler Bedeutung. Und eine Goldgrube für Investoren.

Der zweite Grund ist geografischer und ethnografischer Art. Himara und die Riviera sind der griechischen Insel Korfu näher als Tirana. Und die ganze Küstenregion ist griechisch geprägt. Die vielen Kirchen und Kapellen sind allesamt orthodox, anders als im Hinterland gibt es keine einzige Moschee. Die erste albanischsprachige Schule wurde hier erst 1917, fünf Jahre nach Gründung des Staats Albanien gegründet. In vielen Haushalten wird Griechisch gesprochen, Zweisprachigkeit ist weit verbreitet, ebenso die doppelte Staatsbürgerschaft. Die gesamte Region war über Jahrhunderte innig mit Griechenlands Häfen verbunden. Keine einzige Straße in Tirana trägt den Namen Himaras, in Athen gibt es mehr als ein Dutzend Χειμάρα-Straßen.

In der kommunistischen Hodscha-Ära blieb die griechische Gemeinschaft intakt. Danach begann eine Art kultureller Renaissance. Seit 2009 gibt es wieder eine griechische Schule. Die Interessen der Minderheit vertritt die Organisation Omonia (Einheit), in Himara repräsentiert durch Beleri, mit griechischem Namen: Dionysios Alfred Beleris. Der glühende Nationalist stand in den 1990er Jahren der irredentischen Organisation Mavi nahe, im März 1995 wurde er von der griechischen Polizei als Mitglied eines bewaffneten Trupps verhaftet, der eine Kaserne im Süden Albaniens angreifen wollte. Der ganze Süden wird von griechischen Nationalisten bis heute als „Nordepirus“ bezeichnet, der mit dem griechischen Epirus zu vereinigen sei.1

Die Region Himara ist also einerseits ein Eldorado der Spekulanten, die der Volksmund „Beton-Mafia“ nennt und aus einem Klüngel von Abgeordneten, Regierungsbeamten, Ministern und Oligarchen besteht. Andererseits ist sie die Heimat einer Bevölkerungsgruppe, die nördlich des Llogara-Passes zumindest skeptisch beäugt wird. Die Bedeutung der griechischen Minderheit ist zwar deutlich gesunken, nachdem ein Großteil nach Griechenland abgewandert ist. Aber Ministerpräsident Rama weiß, welche Ressentiments er bedient, wenn er in den sozialen Medien vor griechischen Separatisten warnt, die sich der Entwicklung ihres Küstenstreifens widersetzten.

Aus Sicht der albanischen Opposition und der Athener Regierung ist die Inhaftierung von Beleri ethnopolitisch motiviert. Griechenland drohte wegen des Vorfalls sogar, dem Nachbarland den EU-Beitritt zu verwehren. Und Regierungschef Mitsotakis persönlich nominierte Beleri im April als Kandidaten für die Wahl zum Europäischen Parlament. Schon im September 2023 hatte die EVP-Fraktion des Parlaments die Vereidigung Beleris gefordert. Doch Tirana verweist stets auf die Unabhängigkeit der albanischen Justiz.

Derweil blieb in Himara alles beim Alten: Baugenehmigungen und Investitionsvorhaben werden vorangetrieben, bleiben aber wie üblich völlig intransparent. Schlimmer noch: Seit Ramas erster Amtszeit wurden etliche Regelungen eingeführt, die die örtlichen Strukturen, die Selbstverwaltung und damit föderale Prinzipien schwächen. Im Zuge der Gemeindereform von 2015 wurde der Region Himara das Hinterland des Shushica-Tals zugeschlagen – und damit überwiegend muslimisch geprägte Gemeinden, was die Wahlchancen der PS erheblich verbessert.

2010 war noch unter dem PD-Ministerpräsidenten Sali Berisha die „Albanian Investment Development Agency“ (Aida) gegründet worden, die ausländische Investoren ins Land zu locken sollte. Aber die dem Wirtschaftsministerium angegliederte Behörde kam erst unter Rama richtig in die Gänge. 2015 wurde ein Gesetz für „strategisches Investment“ verabschiedet, das In­ves­ti­tio­nen von mindestens 5 Millionen Euro bei Hotelneubauten und von 15 Mil­lio­nen bei einer Ferienanlage als „strategisches Investment“ definierte und damit als förderungswürdig. Die Vorhaben wurden von einem spe­ziel­len „Committee of Strategic Investment“ (CSI) geprüft. Die Aida schafft also Bauland, schreibt ganze Buchten zur Erschließung aus und gibt Strände zur Bebauung frei, die CSI sucht Investoren und prüft das „öffentliche Interesse“ an den einzelnen Vorhaben.

Bislang wurden landesweit 200 Liegenschaften als Investitionsobjekte definiert, 40 davon werden derzeit infrastrukturell erschlossen und baulich entwickelt. 34 weitere Investitionsvorhaben werden noch von der CSI geprüft. Es bleibt also noch viel zu verteilen. Unter den Investoren an der Himara-Küste befindet sich allerdings kein einziges ausländisches Konsortium (abgesehen vom Joint Venture eines Radisson-Hotels in der Bucht von Borsh). Bislang profitieren vor allem inländische Unternehmer. Und für diese ist die Rolle als strategischer Investor sehr lukrativ: Der Staat stellt Baugrund und Liegenschaften (mittels Pachtverträgen zu einem Euro) und hilft bei den Genehmigungsprozessen.

Die Infrastruktur (Strom, Wasser, Straßen) wird von der Regierung oder den Gemeinden finanziert. Da strategische Investoren auf Jahre hinaus Steuerbefreiungen und Vergünstigungen genießen, tragen sie zu dieser öffentlichen Finanzierung kaum etwas bei.

Wer also ein paar Millionen auf der hohen Kante hat oder nicht weiß, wohin mit seinem Schwarzgeld, der sieht sich am besten in Himara und an der albanischen Südküste um. Die gesetzlichen Anreize gelten zwar auch für die anderen Landesteile, aber nirgends wirken sie verlockender als im Süden.

Das liegt auch an den Eigentumsverhältnissen, die häufig unklar bis absichtlich ungeklärt sind. Besitztitel sind die Ausnahme, Eigentum basiert zumeist auf Gewohnheitsrecht und lokalen Abmachungen statt auf einem amtlichen Kataster. Das ist ein Resultat von jahrhundertelanger osmanischer Herrschaft, gefolgt von Enteignungen im Zuge der Kollektivierung durch das kommunistische Regime und schließlich der Vernichtung ganzer Archive während der Unruhen von 1997.2

Angesichts dieser Verhältnisse ist es fast unmöglich, einen Olivenhain, einen Gemüsegarten oder eine Ackerterrasse als Eigentum registrieren zu lassen. Das Unterfangen gleicht „einer Fahrt durch die Hölle“, erklärt ein Ortsvorsteher, und die könne „länger dauern als das Leben selbst“.

Die Himara-Küste ist ein agrarisch geprägter Landstrich; die Olivenhaine wurden von der Dorfbevölkerung gemeinschaftlich bewirtschaftet. Der private Grundbesitz war in vorkommunistischen Zeiten zerstreut, ein Stück Land hier, eine Parzelle dort. Wenn es überhaupt schriftliche Eigentumstitel gibt, so stammen sie aus der Regierungszeit von König Zogu (1928–1939). Viele Leute bewirtschaften daher Grund, der ihnen nicht offiziell gehört, bauen Häuser auf nicht dokumentiertem Land. Um eine Strandtaverne oder einen Liegestuhlverleih zu betreiben, ist eine jährliche Lizenz erforderlich.

Aber solche provisorischen Anlagen werden, sobald der Strand ins Visier der Projektentwickler gerät, von den anrückenden Planierraupen plattgemacht. Besitzansprüche und Einkommensquellen können also von heute auf morgen obsolet werden, insbesondere wenn ein strategischer Investor einsteigt. Selbst verbrieftes Eigentum ist nicht sicher, sobald es einem Investment im Wege steht.

Das demonstriert der albanische Oligarch Samir Mane mit seinem Vorzeigeprojekt „Green Coast Village“. Der erwarb zunächst legal ein bescheidenes Stück Land und gab sich als strategischer Investor. Nach dem Erwerb weiterer Liegenschaften bekam er grünes Licht vom Staat; renitente Dorfbewohner, die ihren Besitz nicht verkaufen wollten, wurden de facto enteignet.

Das Resultat ist ein riesiges Bungalowresort am eigens erschlossenen Strand von Palasë. Geld, Status und ein Draht zur Regierung ermöglichen Geschäfte im großen Stil, die der lokalen Bevölkerung im Kleinen verwehrt bleiben. Bei einem solchen Großprojekt geht dann alles sehr schnell. Manche nennen es bandenmäßigen Raub.

All das erklärt, warum für die regierungsnahen Unternehmenskreise ein unabhängiger Bürgermeister in Himara, über dessen Tisch sämtliche Akten wandern, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Es galt zu verhindern, dass jemand Interna ausplaudert und Hinterzimmerabsprachen öffentlich macht.

Also musste ein Bürgermeister Beleri verhindert werden. Da die Thematisierung seiner extremistischen Vergangenheit im Wahlkampf nichts brachte, musste er auf andere Weise gestoppt werden. Zwar dürfte seine Inhaftierung kurz vor der Wahl manche Dorf­be­woh­ne­r:in­nen abgehalten haben, für Beleri zu stimmen. Das verhinderte aber nicht seinen knappen Sieg. Damit begann eine juristische Eskalation, die nach Abschluss des albanischen Berufungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg landen dürfte.

Währenddessen zieht es nach wie vor viele Al­ba­ne­r:in­nen angesichts der unsicheren Verhältnisse und mangels beruflicher Perspektiven ins Ausland. Das gilt trotz des beginnenden Tourismusbooms auch für die Bevölkerung in der südlichen Küstenregion. Das Ausmaß der Abwanderung wurde jüngst durch die Volkszählung vom September 2023 ermittelt. Doch die genauen Ergebnisse hat die Regierung Rama bislang nicht veröffentlicht. Sie scheut offenbar eine offizielle Bestätigung, dass die albanische Bevölkerung seit 2011 um etwa 1 Million auf 1,8 Millionen geschrumpft sein dürfte.

Und noch etwas: Aufgrund der tatsächlichen Einwohnerzahl könnte man die Zahl der abgegebenen Stimmen bei der letzten Kommunal- wie bei der Parlamentswahl von 2021 in Zweifel ziehen. Sollten dabei auch Tote mitgestimmt haben, wäre die Legitimation der dritten Regierung Rama beschädigt.

1 Beleri und seine Mitkämpfer wurden im Mai 1995 in Athen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt; weil der griechische Geheimdienst hinter der Gruppe stand, fand die Verhandlung hinter verschlossenen Türen statt. Beleri warb noch bis 2009 in rechtsradikalen Kreisen für die Befreiung des „Nordepirus“.

2 Im „Lotterieaufstand“ entlud sich Anfang 1997 der Volkszorn über gigantische Finanzbetrügereien und die Existenzkrise des Landes.

Hans-Georg Taucher ist Journalist.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.05.2024, von Hans-Georg Taucher