11.07.2024

Was hat den RN so stark gemacht?

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Was hat den RN so stark gemacht?

Die Befürchtung, dass Frankreich demnächst von den Rechtsextremen regiert wird, hat sich nicht bewahrheitet. Das ist allerdings nicht Präsident Macron zu verdanken, sondern dem linken Wahlbündnis Nouveau Front Populaire. Doch die Bedrohung von rechts außen ist damit nicht gebannt.

von Benoît Breville, Serge Halimi und Pierre Rimbert

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Der Rassemblement National (RN) hat die politische Ordnung in Frankreich durcheinandergewirbelt – wie konnte es dazu kommen? Nachdem der RN-Vorsitzende Jordan Bardella bei den Europawahlen am 9. Juni für seine Partei mit 31,3 Prozent mehr als doppelt so viele Stimmen eingefahren hatte wie das liberale Macron-Lager Besoin d’Europe (14,6 Prozent), löste der Präsident kurzerhand die Nationalversammlung auf und verkündete vorgezogene Neuwahlen.

Die Prognosen sprachen für einen Machtzuwachs des RN; doch mit dem erst am 13. Juni gegründeten linken Wahlbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) wendete sich im zweiten Wahlgang am 7. Juli abermals das Blatt.

Auch wenn der RN nach vorläufigen Ergebnissen mit 143 Sitzen in der Assemblée Nationale hinter dem NFP (182 Sitze) und dem Macron-Lager Ensemble (168 Sitze) liegt, kann er trotzdem triumphieren: Es ist das beste Ergebnis seit seiner Gründung 1972. Dieses Wahlergebnis zeigt vor allem, dass hier nicht nur eine Partei abgestraft wurde, die meinte, man könne das Land managen wie eine Bank, sondern auch ein impulsiver und arroganter Präsident, der sich selbst zum Bollwerk gegen die Rechtsextremen ernannt hatte.

Die Scheinheiligkeit, mit der er vor den Folgen einer politischen Entwicklung warnte, die er selbst mitverursacht hat, ist jedoch kein Macron’sches Alleinstellungsmerkmal, sondern ein Topos der Regierenden, seit die Rechts­ex­tre­men in Frankreich am Start sind. Die ersten Erfolge der damals noch unter dem Namen Front National (FN) firmierenden Partei bei den Kommunalwahlen 1983 fielen mit der Unterwerfung der Sozialisten unter die liberale Wirtschaftspolitik der EU zusammen.

Das beste RN-Ergebnis seit seiner Gründung 1972

Die beiden Ereignisse brachte damals niemand in Verbindung; doch die Ergebenheit, mit der rechte wie linke Parteien die Regeln der marktliberalen Globalisierung seither verinnerlicht haben, bildete den Nährboden für eine Partei, die zuvor bei den Parlamentswahlen 1981 gerade einmal 100 000 Stimmen auf sich hatte ver­einen können.

Mit dem Verlust an ökonomischer, monetärer und juristischer Souveränität zugunsten supranationaler Instanzen verlagerte sich der öffentliche Diskurs auf kulturalistische, sicherheitspolitische und identitäre Fragen.

Der FN, 1972 von versprengten Anhängern des Vichy-Regimes und ewiggestrigen Algerienfranzosen gegründet, blühte erst in dem sozialen Chaos so richtig auf, das infolge von De­in­dus­tria­li­sierung und Massenarbeitslosigkeit entstand. So gelang es den FN-Ideologen, die Wut auf neoliberale wie so­zia­lis­tische Globalisierungsmanager in ein diffuses Ressentiment gegen „die da oben“ umzulenken – und die Angst vor dem sozialen Abstieg in Hass auf diejenigen, die noch weiter unten stehen. Nach der ersten großen Entlassungswelle traf es die arabischen Arbeiter, „die uns die Jobs wegnehmen“; und nach den Anschlägen in den USA 2001 und stärker noch nach den terroristischen Anschlägen 2015/16 in Paris und Nizza traf es ganz allgemein „die Muslime, die unsere Werte bedrohen“.

Der Erfolg der Rechtsextremen ist aber nicht nur Resultat einer gesellschaftlichen Misere aus Arbeitslosigkeit und Prekarisierung. Es ist auch der Bumerangeffekt einer zynischen Instrumentalisierung. Stets hat die herrschende Klasse damit Wahlkampf gemacht, dass sie den FN (seit 2018 RN) als unwählbar dargestellt hat. Gleichzeitig hat sie aber dessen Priorisierung von Themen wie Einwanderung und Sicherheit übernommen.1 Eine alte Leier ist auch der vielbeschworene „Kampf gegen die Extreme“ und die Behauptung, nur eine Partei der Mitte – der „progressive, demokratische und republikanische Block“ (O-Ton Macron) – sei legitimiert, Frankreich bis in alle Ewigkeit zu regieren.

Die Auflösung des Parlaments markiert das Ende eines politisches Schattentheaters. Die Darsteller folgten seit Beginn der 1990er Jahre derselben Dramaturgie: Wenn der weltweite Aufstieg des Nationalismus – im Fall Frankreichs der FN – ein politisches Nebenprodukt der Globalisierung und der von

ihr ausgelösten Veränderungen und Ängste ist, wenn die Regierungen aber diese Globalisierung dennoch für unvermeidlich, ja wünschenswert halten, gibt es nur eines, was die Demokratie retten kann: die Rechtsextremen an der Machtergreifung hindern und eine Brandmauer gegen sie errichten. So wurde im Lauf der Jahre der FN/RN so etwas wie eine sichere Bank für die traditionellen Parteien, die ohnehin von einem für sie maßgeschneiderten Wahlsystem profitierten.

Bis 2022 hatte der Rassemblent National nur eine Handvoll Abgeordnete und regierte in keiner der 13 Regionen und in keinem der fünf Überseegebiete Frankreichs. Die jeweiligen Bündnisse der „republikanischen Front“ traten stets siegessicher gegen den FN/RN an. Die Ursachen seines Erfolgs konnten sie getrost missachten.

Indem man die offen rassistischen Positionen des FN in den Vordergrund stellte, entfernte man die – wachsende – Anzahl Pro­test­wäh­le­r:in­nen aus dem Spiel und sie konnten wie die Nicht­wäh­le­r:in­nen schlicht ignoriert werden.

Die Verachtung des Wählervotums betraf aber nicht nur die Rechtsextremen. Französische Regierungen hören im ersten Anlauf eher darauf, was die EU-Kommission in Brüssel oder Beratungsunternehmen wie Moody’s und McKinsey verlangen, als darauf, was die Mehrheit der Bevölkerung will.

So war es nach dem Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag, der am 29. Mai 2005 in Frankreich mit 54,8 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde, als auch nach der Meinungsumfrage zur Rentenreform, bei der 70 Prozent der Befragten dagegen stimmten (unter den Erwerbstätigen sogar 90 Prozent).

Dabei haben die Regierungen, konservative wie sozialistische, durchaus gezeigt, dass sie entschlossen und schnell handeln und Vorgaben der EU gelegentlich auch zurückweisen können. Neue Freihandelsabkommen wurden ausgehandelt, die Banken wieder flottgemacht, Unternehmen während der Coronapandemie unterstützt.

Frankreich ist keine Ausnahme – in den großen Linien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik folgen die westlichen Länder dem gleichen Muster: Arbeiter, Angestellte, Beamte und Dienstleister bringen sie in Konkurrenz zueinander und vertiefen so die Gegensätze zwischen abgesichert und prekär, beschäftigt und arbeitslos, welt­verbundener Großstadt und abgehängter Land­re­gion, gebildet und ungebildet.2 Die rechtsextremen Parteien allerorten fordern einen na­tio­nalen, von der lokalen Elite gelenkten Kapitalismus. Der Aufstieg des FN in Frankreich ist da nur insofern besonders, als er von den politisch Verantwortlichen lange nicht ernst genommen wurde.

40 Jahre war der FN/RN quasi der vom Himmel geschickte Buhmann, den man nur aus dem Spiel ausschließen musste, um selbst als Sieger daraus hervorzugehen. Diese Rechnung geht nach den jüngsten Parlamentswahlen nicht mehr auf. Sowohl beim ersten als auch beim zweiten Durchgang der vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli wählten 33,1 Prozent der Stimmberechtigten (10,6 Millionen Wäh­le­r:in­nen) für eine Kandidatin oder einen Kandidatin der rechtsextremen Partei.

Ein Blick zurück zeigt, wie sich der Aufstieg der Le Pens seit Jahrzehnten angebahnt hat. Als Jean-Marie Le Pen am 24. April 1988 – er hatte gerade bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 14,4 Prozent der Stimmen gewonnen – im Fernsehen auftrat, feierte er „den großen Schwung der nationalen Wiedergeburt“ und den Triumph über die, die es mit „Niedergang und Dekadenz“ halten. Er hatte nur 2 Prozentpunkte weniger Stimmen bekommen als Ex-Ministerpräsident (1976–1981) Raymond Barre, während der Kommunist André Lajoinie mit 6,8 Prozent weit hinten lag.

Seit seiner Gründung 1972 vertrat der FN ein klassisch rechtsextremes und antikommunistisches Programm. Die Französische Revolution wurde nicht gefeiert, sondern geschmäht; man forderte die Rückführung von Mi­gran­t:in­nen und die Wiedereinführung der Todesstrafe und lehnte Abtreibung und die Gleichstellung sexueller Minderheiten kategorisch ab.

Der FN polemisierte gegen den Marxismus, die gelenkte Volkswirtschaft, die Valéry Giscard d’Estaing als Finanzminister (1969–1974) vertrat, und dann gegen den Wirtschaftsliberalismus unter seiner Präsidentschaft (1974–1981). Stattdessen forderte der FN eine protektionistische Na­tio­nalökonomie, die Zerschlagung des Sozialstaats, Steuersenkungen, die Abschaffung der Sozialversicherung und massive Privatisierungen – kurz: ein Wirtschaftsprogramm, das von US-Präsident Ronald Reagan und Chiles Diktator Augusto Pinochet inspiriert war. Über Pinochet sagte Le Pen, er habe „sein Land gerettet“.

Le Pens radikale Kehrtwenden

Den ersten Erfolg errang der FN bei den Europawahlen 1984 (11 Prozent). Die größte Zustimmung erhielt er damals von Kleinunternehmern, Akademikern in technischen Berufen und einem reaktionären, zumeist katholischen Bürgertum, das der Kolonie Algerien nachtrauerte.

1988 zählte dann mit 19 Prozent auch ein bedeutender Anteil von Arbeitern zu seiner Wählerschaft. Diese soziale Zusammensetzung mit eigentlich divergierenden Interessen blieb fast zwei Jahrzehnte konstant.

Insgesamt profitierte die Partei mehr von dem gesellschaftlichen Wandel als von den Wahlversprechen in ihrem Programm. Seit der Präsidentschaft des Sozialisten Mitterrand (1981) deutete sie die soziale Frage der zugewanderten Arbeitskräfte und deren Kinder zum Problem für die öffentliche Ordnung um. Früh war auch von angeblich ethnisch-religiösen Spannungen die Rede. Auf die Konflikte in den Autofabriken, als zwischen 1982 und 1984 tausende Arbeiter entlassen wurden, reagierte die konservative Presse prompt mit ausländerfeindlichen Kommentaren.

Massenentlassungen, von denen vor allem Facharbeiter mit Migrationshintergrund betroffen waren, eine hilflose Regierung, eine aggressive rechte Opposition sowie die starke mediale Aufmerksamkeit für Themen, die sich mit Zuwanderung und Unsicherheit verbinden ließen, führten zu den ersten Wahlerfolgen des FN: Im März 1983 bekam die Partei mit ihrer Losung „Zuwanderung, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Steuererhöhung, Schnauze voll!“ im 20. Arrondissement von Paris 11,3 Prozent der Stimmen und bei den Kommunalwahlen im Herbst in Dreux (Département Eure-et-Loir) 16,7 Prozent.

Die Sozialistische Partei reagierte auf den FN-Erfolg nicht mit sozialen, sondern mit kulturalistischen Maßnahmen. Die linke Presse feierte die maghrebinisch-französische „culture beur“, und der PS unterstützte die NGO SOS Racisme; Harlem Désir, der unter Präsident Hollande PS-Vorsitzender wurde, war eines ihrer Mitglieder.

Für die Sozialisten wurde das Feindbild Front National unverzichtbar. Alarmiert durch die Gefahr von rechts außen, kehrten frühere Anhänger zurück, die sich nach der liberalen Wende von 1983 abgewandt hatten. „Es ist in unserem Interesse, dass der FN wächst“, erklärte Sozialminister Pierre Bérégovoy im Juni 1984. „Er macht die Rechte unwählbar. Je stärker er wird, desto unbesiegbarer werden wir sein. Das ist die historische Chance der Sozialisten.“

Um den FN zu stärken, vor allem aber um den Konservativen zu schaden, kündigten die Sozialisten in regelmäßigen Abständen an, man werde demnächst ein kommunales Wahlrecht für Mi­gran­t:innen einführen. Gekommen ist es nie.

Es war Präsident Mitterrand, dem der FN seine ersten Medienauftritte verdankte. Als Reak­tion auf einen Brief Le Pens, der sich darüber empörte, dass er in den Medien faktisch unsichtbar sei, sorgte Mitterrand im Juni 1982 persönlich dafür, dass der FN-Gründer live im Fernsehen auftreten durfte; und im Februar 1984 organisierte er ihm eine Einladung in die wichtige Talksendung „L’Heure de vérité“ (Stunde der Wahrheit). Damals sah der sozialistische Präsident in Le Pen nur eine harmlose politische Figur. Er hat es nicht mehr erlebt, dass Marine Le Pen bei den letzten Parlamentswahlen 2022 seinen alten Wahlkreis Nièvre gewann.

Der FN machte sich die Taktik zu eigen, die Stimmungsmache in den Medien für sich zu nutzen, als würden diese das Weltbild des FN bestätigen. Er profitierte von der Radikalisierung der Rechten in Sicherheitsfragen unter dem konservativen Innenminister Charles Pasqua (1986–1988), dem ersten Kopftuchstreit und den Straßenschlachten von Vaulx-en-Velin im Oktober 1990, die im Fernsehen als „Intifada der Banlieues“ apostrophiert wurden. Medien und Politik nährten so die Furcht vor der zweiten Einwanderergeneration, die angeblich ihrem arabischen Herkunftsland und dem Islam mehr verbunden sei als ihrem Geburtsland Frankreich.

Zudem erwies sich der FN entgegen seinen Dogmen als erstaunlich flexibel. Nach der Einführung des Europäischen Binnenmarkts (1986–1993) und dem Ende des Kalten Kriegs vollzog Le Pen eine radikale Kehrtwende. Hatte er bis Mitte der 1980er Jahre eine gemeinsame europäische Währung und Verteidigung gegen die „so­wje­ti­sche Bedrohung“ favorisiert, wetterte er nun gegen das „Globalisierungs- und Dritte-Welt-Europa“, die Brüsseler „Föderasten“ und die „vaterlandslosen Bankiers“, die hinter dem Maas­tricht-Vertrag stünden.3

Ebenso bekämpfte er später die gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die Freihandelsabkommen, den Vertrag zur Europäischen Verfassung von 2005 und zwei Jahre später den von Lissabon. 1992, nach der knappen Zustimmung (51 Prozent) beim Referendum über den Maastricht-Vertrag, aktualisierte der FN sein Wirtschaftsprogramm, wandte sich von dem Reagan-Modell ab und sagte dem „entfesselten Liberalismus“ und der „neuen Weltordnung, die von den großen Multis getragen wird, die aus persönlichen Interessen nach einem allgemeinen und deregulierten weltweiten Freihandel streben“, den Kampf an.

Stattdessen wurde der FN zum Verteidiger der „zahlreichen öffentlichen Dienstleistungen, Kommissariate, Geburtshäuser und Spitäler“, die durch die EU-Kommission bedroht seien. Die einhellige pro-europäische Einstellung von Wirtschaft, Medien und Regierungsparteien sicherte ihm ein Quasimonopol der radikalen Kritik an ­einer immer unpopulärer werdenden Institution.

Im Unterschied zur Linken strebte der FN aber auch keine Reformen für ein „soziales Euro­pa“ an. Sein Euromanifest von 2009 ist eine einzige Abrechnung: „Die Europäische Union ist ein totalitäres System geworden, ihre Bilanz ein ökonomisches und soziales Desaster: Rezession, Produktionsverlagerung, Verachtung der Völker, Preisexplosion seit Einführung des Euro, Verschwinden unserer Landwirtschaft (…) und der öffentlichen Dienstleistungen, Massenzuwanderung, Zerstörung unserer nationalen Identität.“ Unter Marine Le Pen, die 2011 den Vorsitz der Partei übernahm, wurde dieser Kurs fortgesetzt. Sie forderte sogar den Ausstieg aus dem Euro, 2018 änderte sie wieder ihre Meinung.

Einige Faktoren verlangsamten den Aufschwung der Rechtsextremen. 1998/99 lieferten sich der Vorsitzende Jean-Marie Le Pen und sein Generalsekretär Bruno Mégret einen Machtkampf, woraufhin viele Kader die Partei verließen. Bei den anschließenden Präsidentschaftswahlen kam Le Pen 2002 zwar in die Stichwahl, erhielt aber weniger als 18 Prozent der Stimmen, kaum mehr als beim ersten Wahlgang.

Fünf Jahre später machte Nicolas Sarkozy mit den FN-Themen Unsicherheit, Migration und nationale Identität so erfolgreich Wahlkampf, dass ein Teil der traditionellen FN-Wähler:innen zu ihm überlief – der sich schon als Innenminister bei den Unruhen im Herbst 2005 als Scharfmacher profiliert hatte, als er drohte, „das Gesindel“ (la racaille) in den Vorstädten zu „kärchern“.3

Bei dieser fünften und letzten Präsidentschaftswahl kam Le Pen nur noch auf 10,4 Prozent. Die Gefahr schien damit gebannt, zumal inzwischen linke Aktivisten den Protest gegen neoliberale Reformen besser vorzutragen schienen. Zwischen den vielen neuen sozialen Bewegungen schien kein Platz mehr zu sein für den FN.

Im April 2015 behauptete Éric Ciotti, der Abgeordnete der Sarkozy-Partei Les Républicains, dass „das Wirtschaftsprogramm von Madame Le Pen haargenau das gleiche ist wie das von Mélenchon und Besancenot“, dem Vorsitzenden der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA). „Haargenau“ stimmt zwar nicht, richtig ist aber, dass die Posi­tio­nen des konservativen und des rechtsextremen Lagers in vielen Fragen immer weiter auseinandergingen – abgesehen von ihrer geteilten Ab­neigung gegenüber Einwanderern und dem Islam.

So sind zwei Drittel der FN-Anhänger:innen für die von den Linken und den Gewerkschaften geforderten Reformen wie die Rückkehr zur Rente mit 60, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine grundlegende Reform des kapitalistischen Systems und für soziale Gerechtigkeit, die den Reichen nimmt und den Armen gibt. Eine Allianz der Rechten schien unmöglich – ohnehin wollte Marine Le Pen davon nichts wissen.

Doch wenn es darum ging, gegen die neoliberale Politik der konservativen, aber auch der so­zia­lis­tischen Regierungen zu mobilisieren, war der FN nicht dabei. Ihm missfielen die Anliegen der Gewerkschaften, weil sie „Franzosen“ und Migranten vertraten und die identitären Abgrenzungen des FN ablehnten, umgekehrt distanzierten sich die Gewerkschaften von der Partei.

Bei der großen, teilweise erfolgreichen Streikbewegung vom November/Dezember 1995, den Protesten gegen die Rentenreform 2010, dem Eisenbahnerstreik 2014, dem Streit um das Arbeitsrecht 2016, der Gelbwestenbewegung 2018 und dem Kampf um die nächste Rentenreform im folgenden Jahr geriet der FN/RN immer wieder in eine Zwickmühle: Er konnte sich nicht gegen die Proteste stellen, die ein großer Teil seiner Wählerschaft unterstützte, wollte aber gleichzeitig an ­seinem Bild einer „Partei der Ordnung“ festhalten.

Um diesen Widerspruch aufzulösen, behauptete der FN, die neoliberale Sozialpolitik, die er bekämpfe, sei das Ergebnis europäischer Verträge, die Gewerkschaften und Linke unterstützt hätten, und der Regierungen, die gewählt worden seien, um die Rechtsextremen zu verhindern. Die Tatsache, dass schon 1992 Mitterrand und Chirac für den Maas­tricht-­Ver­trag geworben hatten, ebenso wie 13 Jahre später Sarkozy und Hollande den europäischen Verfassungsvertrag unterstützten, schien diese Behauptung zu untermauern.

Im Hinblick auf Europa waren sich diese vier Präsidenten – zwei konservative und zwei sozialistische – einig, obwohl die EU über eine wachsende Zahl wirtschaftlicher und sozialer Parameter entschied. Die gleiche Unterstützung für die EU-Verträge, die gleiche Mehrheit in Brüssel, der gleiche Kampf in einer „republikanischen Front“ gegen die Rechtsextremen bei den Wahlen – kein Wunder, dass sich der FN/RN als die große ­Alternative präsentieren kann und die „Verhinderungswahl“ als Bündnis für den Status quo wahrgenommen wird, um die eigene Haut zu retten.

Mit den Jahren wirkte eine solche Strategie, die – wie im Fall der Volksfront 1936 – einmal vonnöten war, um einer außerparlamentarischen, faschistoiden Bewegung den Weg zu versperren, immer weniger überzeugend. Zum einen, weil die Rechtsextremen normaler wurden, sich verbal mäßigten, sich sogar als Philosemiten darstellten. Zum anderen, weil die Parteien, die sich gegen rechts außen verbündeten, immer wieder Schlüsselelemente ihres Programms kopierten.

Am 16. November 2016 erklärte Präsident Hollande vor dem Parlament: „Wir müssen einer Person ihre Nationalität entziehen können, wenn sie wegen eines Angriffs auf die vitalen Interessen der Nation oder eines terroristischen Anschlags verurteilt wurde, auch wenn sie als Franzose geboren ist, ich sage es ganz deutlich: auch wenn sie als Franzose geboren ist, sofern sie noch eine andere Nationalität hat.“ Und Marine Le Pen jubelte: „Der FN hat ein realistisches und seriöses Programm, von dem sich sogar François Hol­lande inspirieren lässt.“

Ein noch größeres Geschenk machte ihr Macron mit seinen Demonstrationsverboten, dem Zuwanderungsgesetz, dem Gesetz gegen „Separatismus“ und mit Begriffen wie „Verwilderung“, „Entzivilisierung“ und „Immigrationismus“. Da freute sich der Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy: „Die Aufwertung unserer Thesen macht unsere Machtübernahme für die Franzosen möglich, wahrscheinlich und wünschenswert. Das Original gewinnt immer gegen die schlechte Kopie, sogar die übertriebene Kopie, wenn man sich Darmanin ansieht.“ Der Innenminister Gérald Darmanin hatte Marine Le Pen als „zu weich“ gegen den Islamismus bezeichnet.

Rassismus als einzige Konstante

Seit den Attentaten vom 11. September 2001, also seit nunmehr über 20 Jahren, diskutiert Frankreich über islamistischen Terrorismus. Davor haben diese Themen keine Rolle gespielt; früher ritten die Rechtsextremen auf dem angeblichen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Arbeitslosigkeit herum und schrieben „Drei Millionen Arbeitslose sind drei Millionen Zuwanderer zu viel“ auf ihre Wahlplakate.

Nach 9/11 begann eine Ära internationaler Instabilität mit verstärkter Migration – eine Entwicklung, die den Rechtsextremen massiv in die Hände gespielt hat. 1980 gab es 8,4 Millionen Vertriebene in der Welt. 1990 waren es 17,3 Millionen, 2001 bereits 19,1 Millionen und 2014 dann 41 Millionen. Im Juni meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR für 120 Millionen Vertriebenen bis Ende April 2024.

Die Diskussionen über Kopftuch und Burka nahmen in den Medien immer mehr Raum ein, vor allem nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015, das Bataclan in Paris am 13. November 2015, auf Feiernde am 14. Juli 2016 in Nizza, den Geschichtslehrer Samuel Paty 2020 und weitere. In dieser Phase schloss sich der FN einer politischen Fraktion von den Niederlanden bis Italien an, die den Islam zum Todfeind der europäischen Zivilisation erklärte.

So konnte der FN/RN die Einwanderung bekämpfen, ohne dazu die üblichen rassistischen Vorurteile bemühen zu müssen – Entdämonisierung verpflichtet. Stattdessen berief man sich auf die Verteidigung der Freiheiten und „unserer Lebensweise“ (Gleichheit von Mann und Frau, Rechte für Schwule und Lesben, Meinungsfreiheit und das Recht auf Satire) gegen den „muslimischen Separatismus“ in „für die Republik bereits verlorenen Gebieten“. So bekam der Diskurs der Rechtsextremen gewissermaßen republikanische Weihen.

Der wachsende ideologische Einfluss des FN führte aber nicht automatisch zu mehr politischer Macht. Von der Finanzkrise von 2008 und deren Folgen hat der FN viel mehr profitiert. Während im Nachklapp der Erdölkrise in den 1980er Jahren vor allem die großen Fabriken in den Metropolen reihenweise dichtmachten, dezimierte die Weltwirtschaftskrise diesmal die kleineren Unternehmen auf dem Land und in den Kleinstädten, im Forstwesen, in der Papier- und Transportwirtschaft, im Lebensmittelsektor und in der Pharmazie. Zehntausende Beschäftigte verloren ihre Arbeit in Gegenden, in denen es ohnehin nur wenig gab.

Der Staat war zwar bereit, Banken, Versicherungen und Immobilienunternehmen zu retten, nahm aber die strukturelle Zerstörung von kleinen Betrieben in Kauf, die der Verlagerung ins Ausland noch widerstanden hatten. Der Graben zwischen den globalisierten Großstädten, die sich schnell erholten, und dem Rest des Landes wurde damit noch tiefer.

Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, wurde durch den von der EU-Kommission diktierten Sparkurs, den die Pariser Regierung verteidigte, noch verstärkt. In wenigen Jahren schlossen hunderte Schulen, Bahnhöfe, Gerichte, Geburtshäuser, Notdienstzentralen und Finanzämter, auch in den Großstädten, vor allem aber in Kleinstädten und Dörfern: Zwischen 2011 und 2016 machte die Hälfte der Postämter im Dé­parte­ment Sarthe südwestlich von Paris dicht. Der Staat verschwand praktisch aus der Landschaft. Und die Propaganda des Front National, der die Armen gegeneinander aufhetzte, fiel auf fruchtbaren Boden: dass die staatliche Unterstützung nicht diejenigen erreiche, die sie verdienten, sondern die Ausländer, die die Sozialversicherungssysteme ausnutzten, und die Banlieues, in denen die Gesetze der Republik nicht anerkannt würden.

Die Historikerin Valérie Igounet berichtet, dass Ende 2014 Thierry Lepaon, der Generalsekretär des großen Gewerkschaftsbands CGT, auf einer Sitzung aus einem Flugblatt vorlas, in dem es um Protektionismus und den Erhaltung öffentlicher Dienstleistungen ging. Der Staat, wurde da gefordert, müsse seine Souveränität, die an Brüssel ‚verkauft‘ worden sei, strategisch zurückerobern. Die anwesenden Genossen stimmten dem voll und ganz zu. „Es gibt nur ein Problem“, erklärte Lepaon: „Dieses Flugblatt wurde von Leuten des Front National geschrieben. Was machen wir jetzt?“4

Der FN als Fürsprecher der Globalisierungsopfer, die von der Oberschicht verachtet werden: Diese Rolle ist insofern erfolgreich, weil die dahinterstehende Beobachtung als solche ja nicht falsch ist. Tatsächlich betrachten die urbanen Eliten ländliche Gegenden oft nur als Erholungsgebiet und ignorieren die Sorgen und Nöte etwa der Landwirte, die sich mit den wachsenden Anforderungen an den Umweltschutz verändert haben.

Das Modell des kleinen Hausbesitzers auf dem Land als idealisierter Gegenentwurf zum Städter und seinem entfremdeten „Métro, boulot, dodo“-Alltag (U-Bahn, Arbeit, Schlaf) gilt in Zeiten der Klimakrise nicht mehr als erstrebenswert. Die Zukunft gehört dem umweltbewussten Stadtbürger, der Fahrrad fährt, bio isst, regional einkauft und seine kostspielige Tugend zum moralischen Imperativ erhebt.

Diese neue progressive Moderne lässt einen großen Teil der Bevölkerung als gestrig und verachtenswert erscheinen. Dem bleibt eben, falsch zu wählen. Der FN, der sich 20 Jahre lang auf seine Bastionen im Südosten und Nordosten Frankreichs konzentriert hat, weitet seinen Einfluss nun auf die gesamte Landbevölkerung aus.

Macrons Gleichgültigkeit für sie, seine Verachtung für „Leute, die nichts sind“, seine großen Reformen der Renten, der Arbeitslosenversicherung, des Arbeitsrechts, nicht zu vergessen die Benzinsteuer, haben ein politisches Aufbegehren gegen die wachsende Verarmung im ländlichen Frankreich ausgelöst.

Die Gelbwestenbewegung, die mit ihrer gemischten Anhängerschaft und ihren Methoden etwas völlig Neues auf die Beine gestellt hat, wurde in den traditionellen Medien fast durchweg negativ dargestellt; die Linke hat sie misstrauisch beäugt, die Regierung hat mit Repressionen auf sie reagiert – und der FN hat sie kooptiert: „Ich bin hier, um im Namen eines Frankreichs zu Ihnen zu sprechen, das sich gedemütigt fühlt, weil man ihm ‚Ihr seid nichts, ihr seid ein Nichts!‘ entgegenruft“, verkündete Marine Le Pen am 29. November 2018 im Rundfunk. „Jetzt reicht es. Die Politik hat sich seit Jahren vor allem, ja ausschließlich um alle möglichen und denkbaren Minderheiten in unserem Land gekümmert. Wir sind die Mehrheit, und wir verdienen Wertschätzung und Respekt.“

„Wir“? Das „einfache Volk“, von dem Le Pen spricht, hat sich ebenso häufig fürs Nichtwählen wie fürs Wählen entschieden. Viele dieser Nicht­wäh­le­r:in­nen haben diesmal ihre Stimme den Rechtsextremen gegeben, um eine Globalisierung zu stoppen, die die Welt der Arbeiter und Angestellten zerstört. Aber das wird ihnen nicht helfen. Denn während die Partei von Marine Le Pen die Konservativen und die politische Mitte mit ihren Obsessionen – Sicherheit und Einwanderung – infiziert, nähert sie sich immer mehr dem ökonomischen Normalzustand an.

1 Siehe Serge Halimi, „Front National. Der Außenseiter stabilisiert das System“, LMd, Januar 2016.

2 Siehe Benoît Breville und Serge Halimi, „Trauerspiel in Rot“, LMd, Januar 2022.

3 Siehe Dominique Vidal, „Eine französische Unruhe“, LMd, Dezember 2005.

4 Valérie Igounet, „La conversion sociale du FN, mythe ou réalité?“, Projet, Nr. 354, Paris, Oktober 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Benoît Breville, Serge Halimi und Pierre Rimbert