13.06.2024

Umkämpfte See

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Umkämpfte See

Konfliktregion Mittelmeer

von Philippe Leymarie

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Die mediterrane Welt ist seit jeher ein Schnittpunkt „vieler Zivilisationen, eine auf die andere geschichtet“, wie es der Historiker Fernand Braudel formuliert hat.1

Auch heute ist das Mittelmeer ein geografischer Raum, in dem die Interessen und Ambitionen der nördlichen und südlichen Anrainerstaaten aufeinandertreffen: der Israelis und der Palästinenser, der Europäer und Maghrebiner, der Araber und Afrikaner.

An das fast geschlossene Meeresbecken grenzen 18 Länder, plus die Inselstaaten Zypern und Malta. Über Schifffahrtsrouten im Mittelmeer, das nur 0,7 Prozent der globalen Meeresfläche ausmacht, wird etwa ein Viertel des Welthandels abgewickelt; zwei Drittel der Energietransporte nach Europa kommen über das Mittelmeer.

Für den Seeverkehr dient es als Korridor zwischen Atlantik und Indischem Ozean (durch die Straße von Gibraltar im Westen und den Suezkanal im Osten) wie auch zum Schwarzen Meer (durch den Bosporus). Geopolitisch bedeutsam ist auch das weit verzweigte Netz von Unterseekabeln.

Angesichts einer „nie dagewesenen chaotischen Multipolarität“, wie es der französische Konteradmiral a. D. Jean-Michel Martinet ausdrückt, macht all dies das Mittelmeer zum Schauplatz von Machtkämpfen und vielfältigen, immer wieder aufflammenden Krisen. Martinet ist Militärexperte beim Thinktank FMES (Fondation médi­ter­ra­néenne d’études stratégiques), er sieht das Mittelmeer „als Brücke und zugleich als Puffer zwischen zwei Welten“: zwischen den Ländern an der Nordküste mit ihren „postmodernen, reichen und überalterten Gesellschaften“ und denen an der Südküste, „die mit wirtschaftlichen, demografischen, sozialen und politischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben“.2

Laut einem Informationsbericht der französischen Nationalversammlung, den die Parlamentarier Jean-­Jacques Ferrara und Philippe Michel-Kleisbauer kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine publiziert haben, ist das Mittelmeer von einem „gemeinsamen“ zu einem „umkämpften“ Raum geworden.3

Als Beleg verweisen die Autoren auf die zahlreichen Spannungsherde, die im Mittelmeer eine Rolle spielen: die Rivalitäten zwischen Russland, China und dem Westen; die Logik von Anti-Access/Area-Denial-Strategien4 , die Russland, Syrien und die Türkei betreiben; die Infragestellung des Status quo von „eingefrorenen“ Konflikten (Zypern, Westsahara); die anhaltenden Auswirkungen des libyschen Bürgerkriegs auf die Länder der Sahelzone (Mali, Burkina Faso, Niger).

Seit der Veröffentlichung dieses Berichts sind noch weitere Brennpunkte hinzugekommen: der russisch-ukrainische Krieg, der auch am Schwarzen Meere wütet, das nur über das Mittelmeer zu erreichen ist; der Krieg Israels in Gaza; die sich verschärfende Krise der Lebensmittel- und Rohstoffversorgung.

Der Ukrainekrieg bedeute einen „Einschnitt auch für das Mittelmeer“, konstatierte der FMES-Direktor Admiral Pascal Ausseur auf einer Fachkonferenz in Toulon im November 2023. Auf derselben Konferenz sprach Xavier

Pasco, Direktor der französischen Stiftung für strategische Forschung (FRS), von einer „Beschleunigung“, wenn nicht gar einer „Hysterisierung“ der Konflikte in der Region. Pasco verwies auch auf die großen Vorbehalte und die Ablehnung, die Europa insbesondere in Afrika und im Nahen Osten erfahre: Immer mehr Menschen dieser Regionen sähen die Staaten des Alten Kontinents als „Kriegstreiber, die bei den Flüchtlingen mit zweierlei Maß messen und die Verantwortung für die ständigen Hungersnöte tragen“. Europa sei dabei, den globalen Informationskrieg zu verlieren so Pasco, man müsse „den gefährlichen russischen, chinesischen oder türkischen Narrativen ein eigenes entgegensetzen“.

Das wäre deutlich leichter, wenn es nicht all die bekannten Gewalttätigkeiten und Völkerrechtsverletzungen gegeben hätte: seitens der USA in Ex-Jugoslawien, im Irak und in Afghanistan, seitens der Chinesen im Chinesischen Meer, seitens der Russen in Georgien und mehrfach in der Ukraine, seitens der Franzosen und Briten in Libyen, der Aserbaidschaner im Kaukasus oder der Türken im östlichen Mittelmeer.

In jüngster Zeit sind es die Auswirkungen der russischen Ukraine-Invasion auf das Schwarze Meer und die des Gazakriegs auf das Rote Meer, die das Gefahrenpotenzial in der erweiterten Region vervielfacht haben. Hinzu kommen die Konflikte im Mittelmeer selbst: die Dauerstreit zwischen Griechenland und der Türkei um die Inseln in der Ostägäis, um die Exploration von Gas- und Ölvorkommen sowie um den Status der Republik Nordzypern; der militärische Schlagabtausch zwischen Israel und Iran; die erneute Eskalation zwischen Israel und dem Libanon respektive der Hisbollah; die drohende Destabilisierung der Regime in Ägypten und Tunesien; die wachsenden Spannungen zwischen Algerien und Marokko wegen der Westsahara-Frage; das Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in Libyen, das auch den regionalen Dschihadismus befeuert; mögliche Angriffe oder Sabotageakte gegen Unterwasserkabel und Pipelines; die Instrumentalisierung der Migration zu politischen Zwecken (etwa seitens der Türkei); schließlich die Streitigkeiten über die Abgrenzung der Hoheitsgewässer und ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ).

Die Tendenz, maritime Grenzlinien infrage zu stellen, beunruhigt vor allem die Länder an der Nordküste des Mittelmeers, die mit ihren Kriegsflotten seit Jahrhunderten die Ozeane durchkreuzt und sich die Herrschaft über die „Hohe See“ angemaßt haben.

Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Das 1994 in Kraft getretene UN-Seerechtsübereinkommen (Unclos) erlaubt die Einrichtung von ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ), die sich bis zu 200 Seemeilen (370 Kilometer) ins offene Meer erstrecken können. Das war ein Zugeständnis an die Küstenstaaten und vornehmlich an die Länder des Globalen Südens, die sich die Nutzung der in diesen Gebieten liegenden Ressourcen versprechen.5 Das Unclos garantiert zugleich die Freiheit der Schifffahrt in allen Seegebieten einschließlich des „Küstenmeers“, also der üblicherweise 12 Seemeilen tiefen nationalen „Hoheitszonen“. Diese Freiheit gilt übrigens auch für Kriegsschiffe, so weit sie sich an das Prinzip der „friedlichen Durchfahrt“ (innocent passage) halten.

Diese sorgfältig austarierte Ordnung ist zunehmend gefährdet. Einige Mittelmeeranrainer wollen ihre AWZ auf Kosten von Drittstaaten ausweiten. Zudem wollen sie ihre ökonomischen Rechte zu politischen Ansprüchen ausweiten, etwa indem sie den Zugang anderer Nutzer mit militärischen Mitteln unterbinden, Durchfahrtsgebühren einführen, Offshore-Windparks oder Bohrplattformen errichten und Meeresschutzgebiete deklarieren.

Anfangs hatten die großen Schifffahrtsna­tio­nen mit der Unterzeichnung des Unclos gezögert, doch haben sie den „guten Kompromiss“ zu schätzen gelernt. Den verteidigen sie heute vor allem deshalb, weil er „das Seerecht zum Zugriffsrecht“ gemacht hat, wie die Autoren einer umfassenden Studie über die „Territorialisierung der Meeresräume“6 feststellen.

Im westlichen Mittelmeer etwa hat Algerien einseitig eine AWZ deklariert, deren Grenzen die Rechte Italiens und Spaniens verletzen, weil sie ignorieren, dass auch Sardinien und die Balearen eine AWZ beanspruchen können.

Im östlichen Mittelmeer wird die einvernehmliche Abgrenzung der Wirtschaftszonen durch historische Spannungen, das Streben nach re­gio­naler Dominanz und ökonomische Interessen erschwert. Zum Beispiel beansprucht die Türkei – die dem Unclos nicht beigetreten ist – mit ihrer 2019 verkündeten Doktrin vom „Blauen Vaterland“ (Mavi Vatan) eine AWZ von 462 000 Quadratkilometern.

Dadurch gerät Ankara in Konflikt mit den Ansprüchen Griechenlands und Zyperns, die das Seerechtsübereinkommen unterzeichnet haben. Als im Sommer 2020 türkische Forschungsschiffe, von Kriegsschiffen begleitet, in der umstrittenen Zone nach Gasvorkommen suchten, kam es zu gefährlichen Zwischenfällen.7 Seitdem hat Präsident Erdoğan wiederholt mit der Besetzung griechischer Inseln in der Ostägäis gedroht, die nahe der türkischen Küste gelegen sind. Beide Ländern veranstalten in dem Spannungsgebiet regelmäßig Militärmanöver.

Die Türkei, die als einziges Land die Republik Nordzypern (TRNZ) anerkennt, ist politisch isoliert und fühlt sich benachteiligt. 2022 erlangte sie von Libyen – als Gegenleistung für die militärische Unterstützung der Regierung in Tripolis – die Unterschrift unter ein für sie günstiges bilaterales Abkommen über die Abgrenzung der libyschen und der türkischen AWZ. Die griechischen Ansprüche auf eine AWZ für Kreta und die Dodekanes-Inselgruppe ignoriert das Abkommen allerdings.

Im äußersten Südosten des Mittelmeers wurden in den letzten Jahren bedeutende Gasvorkommen entdeckt, die von Israel und Ägypten bereits ausgebeutet werden. Im November 2022 unterzeichneten Israel und Libanon, die sich offiziell noch im Kriegszustand befinden, überraschend einen Vertrag über die Grenzen ihrer AWZ. Danach erhält Israel das Gasfeld Karisch, während dem Libanon die Erträge des Gasfelds Qana zustehen, das von einem internationalen Konsortium (TotalEnergies, ENI und Qatar Energy) erschlossen werden soll.

Ein ständiger Konfliktherd ist auch die Zuwanderungsfrage. Irreguläre Migranten erreichen Europa vor allem über das Mittelmeer; 2023 waren es 234 467 Menschen (nach Frontex-Angaben vom 26. Januar 2024). Die italienische Rechtsregierung behindert die Rettungsaktivitäten von NGOs und hält deren Schiffe unter diversen Vorwänden an Land fest. Die Route über das zentrale Mittelmeer, die als eine der tödlichsten der Welt gilt, wird damit noch gefährlicher (siehe auch den Beitrag auf Seite 14).8

Die Europäische Union versucht die Migra­tion durch verschiedene Maßnahmen einzudämmen. 2016 hatte sie mit der Türkei ein Abkommen geschlossen, das die Zahlung von 6 Mil­liar­den Euro für die Versorgung der 3 bis 4 Millionen überwiegend syrischen Geflüchteten auf türkischem Territorium vorsah. Ungeachtet dessen öffnete die türkische Regierung im März 2020 ihre Landgrenze zu Griechenland, um Druck auf die EU auszuüben.

Tödlichste Fluchtroute der Welt

In Libyen unterstützt die EU seit 2017 die Küstenwache und engagiert sich in der Bekämpfung der „Schleuserkriminalität“. In Niger dagegen hat die seit Juli 2023 regierende Junta ein Gesetz aufgehoben, das die kommerziellen Schleuser kriminalisierte. Begründung: Das Gesetz sei „unter dem Einfluss ausländischer Mächte“ verabschiedet worden.9 Und in Tunesien erklärte Präsident Kaïs Saïed, sein Land könne „nicht der Grenzwächter Europas sein“.

Derweil übermalt man in Toulon, dem Heimathafen der französischen Mittelmeerflotte, die Kennungen der Kriegsschiffe, die regelmäßig im Mittelmeer patrouillieren. In Zeiten drohender Auseinandersetzungen könne „die Ungewissheit über der Identität der Schiffe ein taktischer Vorteil sein“, lässt der Generalstab der Marine verlauten.10

Westliche Militärs sehen einen Kipppunkt näher rücken: „Es gibt eine wachsende Unordnung, die Welt gerät aus den Fugen. Falls sich die Lage sehr schnell verschlimmert, müssen wir vorbereitet sein“, warnt Admiral Nicolas Vaujour, der Generalstabschef der französischen Marine. Das mache eine erhöhte Bereitschaft der französischen Kriegsmarine erforderlich, aber auch größere Operationen in der Nähe zu Krisenregionen. Deswegen komme es auch häufig zu Kontakten mit russischen Schiffen, „wobei wir bemüht sind, Irrtümer und Zwischenfälle zu vermeiden“.

Die Militärs planen auch sehr viel mehr gemeinsame Manöver mit dem Ziel, das Zusammenwirken verbündeter Seestreitkräfte zu verbessern – „bis sie austauschbar sind“, wie es dem Generalstabschef der italienischen Marine vorschwebt, die ihre Schlagkraft ebenfalls verstärken will.

Im gesamten Mittelmeerraum ist aktuell eine Aufrüstung der Seestreitkräfte im Gange. Die nationalen Planungen bis 2030 sehen einen gewaltigen Ausbau der Kriegsflotten vor. Gemessen in Tonnage-Zahlen (und bezogen auf das Jahr 2008) legt Ägypten um 170 Prozent zu, Israel um 160 Prozent, Algerien um 120 Prozent, Marokko um 52 Prozent und die Türkei um 33 Prozent. Eine große Kriegsmarine gilt als Symbol für Prestige und Einfluss und ist konkret ein Machtinstrument zur Wahrung von Interessen.11

„Man rüstet auf, um seine Souveränität zu demonstrieren“, sagt Nicolas Mazzucchi, Forschungsdirektor beim Zentrum für strategische Studien der französischen Marine (CESM). Er verweist auf das Beispiel der Maghrebstaaten, die ihre Kriegsschiffe mit erstklassiger Technik ausrüsten. Algerien hat dank einer strategischen Partnerschaft mit Russland seine U-Boot-Flotte mit Marschflugkörpern vom Typ Kalibr ausgestattet und zusätzlich Militärtechnik von China gekauft. Das Verteidigungsbudget in Höhe von mehr als 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts war 2023 eines der größten in der Region12 – und vor allem eine Botschaft an den Nachbarn Marokko.

Die rasante Aufrüstung zur See und in der Luft – mit Kampfjets, Radaranlagen, Flugzeug- und Raketenabwehrsystemen, Schiffen, U-Booten, Drohnen – erhöht die Gefahr unbeabsichtigter „Fehler“. Eine falsche Berechnung, eine Fehlinterpretation oder eine Provokation kann eine Eskalation auslösen. Bislang wurde bei solchen Zwischenfällen das Schlimmste meistens durch „professionelles Verhalten“ verhindert.

Die Handlungsfähigkeit von Seestreitkräften wird mittlerweile auch durch verbesserte „Area Denial“-Systeme beschränkt – Raketen, die von See oder vom Land abgeschossenen werden. Admiral Ausseur verweist auf das aktuelle Beispiel der jemenitischen Huthi-Rebellen, die mit ihren Drohnen- und Raketenangriffen auf Schiffe im Roten Meer demonstrieren, dass man heute „eine Seeschlacht ohne Marine“ führen kann.

Die U.S. Navy hat in den letzten Jahrzehnten den Mittelmeerraum tendenziell vernachlässigt. Das liegt auch daran, dass Washingtons sein Hauptinteresse auf die indopazifische Region verlagert hat. Dennoch sind die USA im Mittelmeer (mit der Sechsten Flotte) und im Persischen Golf (mit der Fünften Flotte) nach wie vor massiv präsent; und seit Beginn des Ukrainekriegs und zumal seit dem neuen Gazakrieg sind auch die US-Flugzeugträger wieder zurück.

Auf den rund 30 Militärbasen, die Washington im Mittelmeer und am Golf unterhält, haben die USA ein großes Arsenal von Antiraketenwaffen installiert. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei einerseits ihrem Protégé Israel, andererseits ihrem Hauptgegner Iran, aber auch den Seerouten, auf denen die gigantischen Containerschiffe durch den Suezkanal und das Mittelmeer nach Europa fahren.

Im Zuge ihres Engagements für die Ukraine und gegen Russland hat sich das strategische Interesse der USA am östlichen Mittelmeer wieder verstärkt. In einer Region, in der zuletzt die Türkei, Russland und ihre Verbündeten dominierten, übernimmt Washington also erneut die Führung der gestärkten Nato. Die wichtigsten US-Stützpunkte im Mittelmeerraum sind das Hauptquartier der Nato-Seestreitkräfte in Neapel und die spanische Marinebasis Rota (bei Cadiz), wo die mit dem Aegis-Kampfsystem ausgerüsteten US-Zerstörer stationiert sind.

Eine wichtige Rolle spielen auch die Awacs-Flugzeuge, die – unter US-Flagge oder mit dem „Nato“-Emblem – von Sizilien und Griechenland bis an die Grenzen der Ukraine operieren. Die Nato-Landstreitkräfte des Alliierten Oberkommandierenden in Europa (Saceur) werden vom türkischen Izmir aus koordiniert.

Der erste Staat, der bemüht war, den von den USA im Rahmen ihrer Neuorientierung nach ­Asien freigemachten Raum zu füllen, war Russland, das historisch schon immer zu den „warmen Meeren“ strebte. Im östlichen Mittelmeer konnte es seine Präsenz dauerhaft festigen: Im Zuge des Syrienkonflikts, in den Moskau ab 2015 direkt zugunsten des Assad-Regimes intervenierte, hat Russland seine Marinebasis in Tartus ausgebaut und in Hmeimim an der syrischen Küste eine Luftwaffenbasis errichtet.

Mit der Annexion der Krim 2014 schien Russland die historische Marinebasis Sewastopol am Schwarzen Meer langfristig gesichert zu haben und schickte sich an, das Asowsche Meer zu einem russischen Binnensee zu machen.13 Doch nach der Ukraine-Invasion im Februar 2022 wurden die Karten neu gemischt. Die russische Schwarzmeerflotte verlor in zwei Jahren etwa 20 Schiffe; zudem ist ihre Bewegungsfreiheit durch die Kämpfe eingeschränkt.

Das Montreux-Abkommen von 1936 verbietet die Durchfahrt der türkischen Meerengen (Bosporus, Dardanellen) für Kriegsschiffe von Ländern, die in einen regionalen Konflikt verwickelt sind. Deshalb musste Russland, um seine Seestreitmacht im östlichen Mittelmeer zu verstärken, auf die Baltische und die Pazifikflotte zurückgreifen: zudem hat es Probleme mit der Logistik und der Instandhaltung seines oft überalterten Materials.

Was Moskau vor allem fehlt, ist ein Netz von Stützpunkten und logistischen Versorgungsstationen, das seinem geopolitischen Ehrgeiz angemessen wäre. Dennoch sind die russischen See- und Luftstreitkräfte dank ihrer syrischen Militärbasen immer noch imstande, in einer größeren Zone des östlichen Mittelmeers die westlichen See- und Luftstreitkräfte in ihrer bislang gewohnten Bewegungsfreiheit einzuschränken.14

Als stärkster regionaler Akteur erweist sich damit die Türkei – dank der Kontrolle über den einzigen Zugang zum Schwarzen Meer und ihrer wichtigen energiepolitischen Rolle als Drehscheibe für Gaslieferungen aus Russland und Aserbaidschan nach Europa. Überdies hat die Türkei – als einziges „mittelöstliches“ Mitgliedsland der Nato – auch geopolitisches Gewicht, schon weil sie die Südostflanke des westlichen Bündnisses abdeckt. Und demografisch gesehen ist sie das Mittelmeerland mit der zweitgrößten Bevölkerung (nach Ägypten), das zugleich Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, aufgenommen hat.

Die Regierung in Ankara surft gern auf der anti­westlichen Welle, etwa wenn sie die internationalen Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt. Das kann sie sich gefahrlos herausnehmen, weil sie von allen gebraucht wird: von den USA, von Europa und auch von Russland. Zudem konnte die Türkei ihre Position in der Nato noch dadurch stärken, dass sie das russisch-ukrainische Abkommen vom Juli 2022 vermittelt hat, das ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer möglich machte.

Militärisch ist die Türkei in mehrere regionale Konflikte verwickelt – etwa in Libyen und in Sy­rien. Die USA hat sie vor den Kopf gestoßen, als sie von Russland das hochmoderne Lenkwaffensystem S-400 kaufte, woraufhin Washington die bereits bewilligte Lieferung von F-35-Kampfflugzeugen gestrichen hat. Doch neuerdings zeigt sich die Biden-Regierung wieder bereit, Erdoğan rüstungspolitisch entgegenzukommen, um ihn für die Aufgabe seiner Blockade des schwedischen Nato-Beitritt zu belohnen.

Allerdings plant Ankara inzwischen die Entwicklung eines eigenen Kampfflugzeugs der fünften Generation namens Kaan. Tatsächlich produziert die Türkei inzwischen drei Viertel seiner Waffensysteme selbst und ist ein wichtiger Rüstungsexporteur geworden. Der größte Verkaufsschlager ist die Drohne vom Typ Bayraktar TB2, die das Unternehmen Baykar Technologies in 15 Länder liefert, unter anderem in die Ukraine.

Iran ist zwar kein Mittelmeeranrainer, verfügt jedoch über erheblichen Einfluss in der Region vor allem mittels der schiitischen Milizen im Irak, der Hisbollah im Libanon und in Syrien sowie der Huthi im Jemen. Zudem mischt Teheran seit Längerem in der komplizierten Kurdenfrage mit, und seit dem 7. Oktober wird die Welt durch die militärische Eskalation zwischen Israel und Iran in Atem gehalten.

Als neuer Akteur im Mare nostrum tut sich in jüngster Zeit auch China hervor. Während Peking auf globaler Ebene als militärstrategischer Player auftritt, ist es im Mittelmeer vornehmlich an den Handelswegen interessiert. Verständlicherweise, denn mehr als zwei Drittel der chinesischen Exporte nach Europa kommen durch den Suez­kanal.

Das logistische Großprojekt der „maritimen Seidenstraße“ beruht unter anderem auf einem guten Dutzend Hafenbeteiligungen rund um das Mittelmeer, die der chinesische Staatskonzern Cosco (China Ocean Shipping Company) zusammengekauft hat. Diese miteinander vernetzten Hafenanlagen liegen in Ägypten (Port-Saïd, Damiette), Frankreich (Fos-Marseille), Türkei (Ambari), Griechenland (Piräus), Italien (Vado Li­gure) und Spanien (Valencia). Demnächst soll auch Algerien (El-Hamdania) dazukommen, wo China seit 2012 Frankreich als größten Handelspartner abgelöst hat.

Im Rahmen der „digitalen Seidenstraße“ mischt China auch auf dem großen Markt der im Mittelmeer verlegten Unterseekabel mit. Beträchtliche chinesische Investitionen fließen auch in die Staaten des Westbalkans (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Nord-Mazedonien, Montenegro, Serbien), die für Peking als künftige EU-Staaten interessant sind.

Die chinesische Kriegsflotte ist seit fünf Jahren in Dschibuti am Ausgang des Roten Meers präsent. Es ist die bislang einzige Marinebasis im Ausland. Doch Peking könnte, wenn nötig, eine ganze Flotte ins Mittelmeer verlegen oder sogar Militärstützpunkte in der Region errichten. Auf diese Möglichkeit angesprochen, sagte Admiral Her­vé Blé­jean, Generaldirektor des Militärstabs der EU, im November 2022: „Die Frage ist nicht ob, sondern wann.“

Für die kommenden Jahrzehnte ist außerdem zu erwarten, dass das Wissen über den Meeresboden und die Kartierung – zunächst nur von Teilgebieten – große Fortschritte machen wird. Mittels KI, Satellitentechnologie und dem Einsatz von Drohnen wird die Erkundung und Ausbeutung von Rohstoffvorkommen in großer Tiefe profitabel werden.15

Insgesamt zeichnet sich für das Mittelmeer folgendes Zukunftsszenario ab: Die europäischen Länder werden auf den Zugang zum Persischen Golf mit seinen fossilen Rohstoffen nicht mehr existenziell angewiesen sein; für Russland wird sich aufgrund des Klimawandels der Nördliche Seeweg öffnen; die USA werden sich noch stärker auf die Pazifikregion konzentrieren, wo China die größte Seemacht der Welt geworden sein wird; die weitere Reduzierung der Fischbestände, die heute schon einen kritischen Punkt erreicht hat, wird die Konflikte um die Fangrechte und -quoten weiter verschärfen; autonome Überwachungs- und Ortungssysteme, die mit Laserwaffen oder Überschallraketen verkoppelt sind, werden die Sicherheit großer Räume gewährleisten – und den Zugang zu diesen beschränken.

Ein aktuelleres Gefahrenszenario sieht die FMES im westlichen Mittelmeer voraus. Innerhalb von 5 bis 10 Jahren könnte der alte algerisch-marokkanische Konflikt wieder aufflammen, etwa aufgrund eines Zwischenfalls in der Westsahara. Das könnte eine Kettenreaktion auslösen: Algerien verhängt ein Seeembargo gegen Marokko, woraufhin die Europäer Rabat unterstützten. In der Folge verschlechtern sich die bereits angespannten Beziehungen zwischen Paris und Algier, das mit der „Waffe der Gasversorgung“ droht. Die algerische Marine nutzt ihre von Moskau gelieferten S-400-Raketen, um eine No-access-Zone zu schaffen, und droht mit dem Einsatz von Iskander-Raketen, mit denen seine U-Boote ausgestattet sind; die Folge wäre eine Unterbrechung des Handelsverkehrs durch die Meerenge von Gi­bral­tar.

Noch mehr Unsicherheitsfaktoren enthalten die 20-Jahres-Prognosen der FMES: die Möglichkeit eines Kriegs um Meeresressourcen (Fisch, Rohstoffe in der Tiefsee); eine tendenziell vollständige Aneignung von „Wirtschaftszonen“ durch nichteuropäische Staaten (eine „Entwestlichung des internationalen Rechts“) mit daraus resultierenden Einschränkungen für den Seeverkehr im südlichen und östlichen Mittelmeer, im Schwarzen und im Roten Meer; sowie im Ex­trem­fall die Entstehung einer antiwestlichen Allianz im östlichen Mittelmeer, die die Durchfahrt von Kriegsflotten durch den Suezkanal zum Indischen und Pazifischen Ozean verhindert. Dadurch würde unter anderem Frankreichs Netz von Stützpunkten in Übersee infrage gestellt, denn seine Marine müsste dann den längeren Seeweg um Afrika herum nutzen.

1 Fernand Braudel, Georges Duby und Maurice Aymard, „Die Welt des Mittelmeeres“, aus dem Französischen von Markus Jakob, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1987.

2 „La Méditerranée, un espace crisogène?“, Les Grands Dossiers de Diplomatie, Paris, 19. September 2022.

3 Nationalversammlung, „Les enjeux de défense en Méditerranée“, rapport n° 5052, 17. Februar 2022.

4 Anti-Access/Area Denial (A2AD) ist eine Militärstrategie, die über Abschreckungssysteme verfügt, die die Annäherung oder den Zugang zu einem Gebiet verhindern können.

5 Siehe Didier Ortolland, „Weltseerecht“, LMd, Dezember 2022.

6 Jean-François Pelliard, „Territorialisation des espaces maritimes“, Région Sud/FMES, fmes-france.org, 2022.

7 Siehe Niels Kadritzke, „Grenzstreit im östlichen Mittelmeer“, LMd, September 2020; Élisa Perrigueur, „Von Kastellorizo bis Komotini“, LMd, Januar 2021.

8 2023 registrierte die UN-Migrationsbehörde IOM auf dieser Route 2554 Tote und Vermisste; bis Mai 2024 waren es weitere 683.

9 La Croix, 18. Januar 2024.

10 Zitiert nach: Zone militaire-opex360.com, 5. Dezember 2023.

11 „Le réarmement naval militaire dans le monde“, Études marines, hors-série, Centre d’études stratégiques de la Marine (CESM), Paris, Januar 2023.

12 Siehe „Trends in International Arms Transfers“, Sipri, Stockholm, März 2024.

13 Benoît Vitkine, „Ukraine: emprise russe en mer d’Azov“, Le ­Monde, 12. Oktober 2018.

14 Pierre Grasser, „Déni d’accès en Méditerranée orientale: l’un des thermomètres des relations OTAN/Russie“, DSI, 14. November 2022.

15 Siehe Olive Heffernan, „Grüner Goldrausch in der Tiefsee“, LMd, August 2023.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Philippe Leymarie ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Philippe Leymarie