11.04.2024

Lynchmorde als öffentliches Spektakel

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Lynchmorde als öffentliches Spektakel

Folter, Exekutionen und Rechtlosigkeit in der Jim-Crow-Ära

von Loïc Wacquant

Versammlung des Ku-Klux-Klans in Concord (North Carolina), 1963 Chicago History Museum/picture alliance/TopFoto
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Nach Ende der Sklaverei wäre es für Schwarze Bürger in den USA naheliegend gewesen, ihre Wählerstimmen für mehr Druck auf Regierungen und Behörden zu nutzen, um sich gegen wirtschaftliche Diskriminierung und willkürliche Misshandlungen durch Weiße bei alltäglichen Begegnungen zu wehren. Doch obwohl männliche Afroamerikaner mit dem 15. Verfassungszusatz von 1870 offiziell das Wahlrecht erhalten hatten, wurden sie in der Praxis in allen Südstaaten systematisch von den Urnen ferngehalten.

Dies geschah durch ein dichtes Labyrinth von Regeln zu Wahlregistrierung, Ansässigkeit, steuerlichen Voraussetzungen und Lesefähigkeit, dem automatischen Erlöschen der Bürgerrechte nach einer strafrechtlichen Verurteilung, verbunden mit purer Schikane und Nötigung durch Beamte vor Ort. All dies machte die Schwarzen de facto zu „Zombie-Bürgern“ ohne jede Möglichkeit der politischen Mitwirkung.1

Wenn Wahlen vor der Tür standen, schürten Weiße Kandidaten und Medien rassistische Klischees, indem sie „Schamlosigkeiten“ und „Beleidigungen“ skandalisierten, die „lüsterne“ Schwarze Männer angeblich zulasten Weißer Frauen begangen hätten. Im Wahlkampf wurde nicht selten ein direkter Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und Vergewaltigung herstellt: Bekämen Schwarze Zugang zur Wahlkabine, würden unmittelbar darauf „schmutzige, Schwarze Bestien“ ins Schlafzimmer, das Heiligtum der tugendhaften Weißen Frau, eindringen.

Doch bald reichte informeller Druck und Gewalt nicht mehr aus, um die Proteste von Afroamerikanern zu ersticken, die an den Wahlen teilnehmen wollten. Die vormals konföderierten Staaten im Süden griffen auf ausgefeilte juristische Tricks zurück, um das Wahlrecht ihrer Schwarzen Bürger auszuhebeln.

Wie in zahlreichen anderen Fällen diente auch hier der Bundesstaat Mississippi als Vorbild. Den Behörden des „Magnolienstaats“ gelang es unter Anwendung von Gewalt, Betrug, Einschüchterungen und Diskriminierungen, bei der Einschreibung ins Wahlregister die Zahl der Schwarzen Wähler massiv zu drücken: Waren 1868 noch 96 Prozent der wahlberechtigten Schwarzen Männer als Wähler registriert, galt dies 1892 nur noch für 6 Prozent. Selbst 1964 lag der Anteil lediglich bei 7 Prozent. Bei den Wahlen von 1875 wagten es in der Hauptstadt Jackson weniger als ein ­halbes Prozent der registrierten Schwarzen Wähler, ihren Stimmzettel in die Urne zu werfen.2

Um diesen Ausschluss in die Tat umzusetzen, war eine penible juristische Vorarbeit nötig. So musste, wer sein aktives Wahlrecht ausüben wollte, sich vier Monate zuvor in ein Wählerverzeichnis eingetragen haben. Voraussetzung war, dass er bereits seit zwei Jahren im Bundesstaat und ein ganzes Jahr im betreffenden Wahlbezirk wohnte (mit diesen Kriterien wollte man die angeblich „wandernde Rasse“ disqualifizieren). Sämtliche Steuern und eine Wahlsteuer vor 2 Dollar pro Jahr mussten bezahlt sein (eine hohe Schwelle für arme Naturalpächter, die nur selten über Bargeld verfügten), und er durfte keines der Vergehen begangen haben, die man auf einer langen Liste festgehalten hatte: darunter Brandstiftung, Ehebruch, Betrug und Kleindiebstahl.

Falls nötig, konnte noch eine weitere, unscharfe Regel angewandt werden: Der künftige Wähler sollte einen Artikel der Verfassung des Bundesstaats vorlesen und „eine vernünftige Interpretation dazu vorbringen“. Dieser fakultative Test erlaubte es den Verantwortlichen vor Ort, Weiße Analphabeten zur Registrierung zuzulassen, Schwarze dagegen auszuschließen.

Die übrigen Südstaaten folgten ohne Zögern diesem Vorbild und schufen mit Verfassungsänderungen immer mehr formale Hindernisse, um Afroamerikaner am Zugang zu den Wahlkabinen zu hindern. Neue Voraussetzungen wie Grundbesitz, Bildung und „Charakter“ galten bald überall im Süden. Sie konnten von den Beamten vor Ort so abgewandelt werden, dass der reibungslose Ausschluss der Schwarzen gesichert war. Manche Bundesstaaten nutzten die „Großvater-Klausel“: Als Wähler konnte sich nur ein Mann registrieren, dessen Großvater bei der Wahl von 1868 bereits im Wahlverzeichnis eingetragen war; einen solchen konnte die überwiegende Mehrheit der Schwarzen Wähler bis in die 1900er Jahre hinein jedoch nicht nachweisen, weil ihre Großväter noch Sklaven gewesen waren.3

Auch im Prozess der Registrierung gab es unzählige Tricks und Fallstricke. Schwarze, die wählen wollten, bekamen ihre Einschreibungsformulare zurück, sobald darauf der kleinste Fehler zu finden war. Die Beamten konnten ihnen auch mitteilen, die Formulare seien „nicht mehr verfügbar“, sie immer wieder auffordern, „an einem anderen Tag wiederzukommen“, oder sie einfach ignorieren. Stets wurden neue Regeln erfunden, wie in einem County, das verlangte, dass zwei ordentlich registrierte Weiße Wähler die Einschreibung eines Schwarzen bestätigten.

Die Justiz hätte die Einhaltung der Grundrechte wahren können, wenn sie die Weißen bestraft hätte, die sich dieser Methoden bedienten. Doch in der Jim-Crow-Ära in den Südstaaten waren Gesetzgebung und Justiz keine schützenden Institutionen, sondern Instrumente der Unterdrückung. Zudem bestand das Personal der örtlichen Polizei, der Gerichte und der Strafvollzugsanstalten ausschließlich aus Weißen, die von ihrer „rassischen Überlegenheit“ überzeugt waren.

Justizsystem im Dienste der rassistischen Ideologie

Die Polizisten verfolgten mit großem Diensteifer jede noch so geringe Überschreitung des rassistischen Unterordnungsgebots, indem sie Einschüchterung und Gewalt durch Weiße Plantagenbesitzer, Arbeitgeber und Milizionäre unterstützten. Ebenso lauerten Busfahrer, Postbedienstete, Feuerwehrleute, Steuereintreiber und andere kleine Beamte stets auf das kleinste Zeichen des Ungehorsams. In den Augen eines einfachen, kaum ausgebildeten Streifenpolizisten verstanden Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen ausschließlich die Sprache der Gewalt und mussten mit äußerster Härte gemaßregelt werden. Deshalb war Polizeigewalt die übliche Vorgehensweise. Es wurde geprügelt, gefoltert und gemordet.

Auch die Gerichte der Südstaaten traten sämtliche Rechte der Schwarzen mit Füßen – und das mit Zustimmung des Obersten Gerichtshofs der USA, der sich wiederholt weigerte, einzugreifen und rassistische Diskriminierungen in Gerichtsverfahren zu korrigieren. Unter Schlägen und Folter erlangte Geständnisse wurden vor Gericht akzeptiert, offene Parteilichkeit und Vorurteile bei den Geschworenen gehörten zum Alltag.

Weiße Anwälte erhielten Todesdrohungen, wenn sie es wagten, Schwarze Mandanten zu betreuen. Zugleich konnten Schwarze Anwälte nur unter großen Schwierigkeiten ihren Platz einnehmen, denn ihre „Rassenzugehörigkeit“ wurde sofort gegen den Mandanten verwendet. Bis in die 1940er Jahre wurden daher unzählige Angeklagte verurteilt und bestraft, ohne ihr Recht auf Verteidigung wahrnehmen zu können. Im Bundesstaat Mississippi handelte man Mordprozesse oft an einem halben Tag ab. Mit schnellen Verurteilungen wollt man auch verhindern, dass Horden wütender Weißer den Gerichtssaal stürmten und Lynchjustiz am Angeklagten übten.

Schwarze Anwälte gab es nur wenige und auch nur in großen Städten, die Mehrheit der afroamerikanischen Bevölkerung lebte jedoch auf dem Land. Diese Anwälte waren meist Autodidakten und sie stießen auf unüberwindliche Hindernisse. In manchen Countys war es ihnen untersagt, den Gerichtssaal zu betreten oder ihren Eid abzulegen; in anderen mussten sie ihr Plädoyer von den Zuschauerrängen aus halten und wurden von Weißen Richtern und Zeugen mit offener Verachtung behandelt. Manche Zeugen weigerten sich, ihre Fragen zu beantworten, oder beschimpften sie während des Kreuzverhörs.

Die rassistisch motivierten Ungleichheiten bei der Urteilsfindung waren immens. In Georgia etwa war öffentlich bekannt, dass „deutlich mehr Schwarze Männer Jahre im Gefängnis absaßen, weil sie ein Nutztier gestohlen hatten, als Weiße Männer, die Schwarze ermordet hatten“.4 Zudem erklärten sich die Gerichte bei Verbrechen von Schwarzen gegen Weiße nur für Kapitaldelikte zuständig. Kleinere Vergehen wurden im Allgemeinen privat von Plantagenbesitzern oder Aufsehern in Bergwerken und Holzfällerlagern geahndet: Auspeitschen war weiterhin eine gängige Strafe.

Eine Form der Bestrafung hat sich unauslöschlich in die Geschichte und Ikonografie der Jim-Crow-Ära eingebrannt: Die Verpachtung von Strafgefangenen zur Zwangsarbeit („Convict Leasing“) und – nach deren Abschaffung in den 1910er Jahren – die „Chain Gangs“ von aneinander geketteten Häftlingen, die am Straßenrand schufteten oder im Gefängnishof Steine klopften. Die Südstaaten standen nach dem Bürgerkrieg vor dem Ruin, ihre Infrastruktur war komplett marode, und so versuchte man, die Kosten für Aufbau und Unterhaltung von Gefängnissen einzusparen, indem man die Häftlinge an Eisenbahn-, Holz- und Bergwerksunternehmen oder zur Produktion von Baumwolle, Zucker und Tabak verpachtete.

Plantagenbesitzer und Unternehmer mussten dem Staat pro Häftling eine jährliche Pacht zahlen (in den 1890er Jahren waren das 3 Dollar in Georgia und 1,10 Dollar in Mississippi) und für deren Überwachung, Ernährung und Unterkunft aufkommen. Die Bedingungen, unter denen diese Häftlinge schuften mussten, führten zu extrem hohen Sterberaten.

In Mississippi lag die jährliche Sterberate unter den Pachtgefangenen, deren große Mehrheit Schwarz war, in den 1880er Jahren zwischen 6 und 16 Prozent. Im Ergebnis „überlebte nicht ein einziger zu Zwangsarbeit Verurteilter lange genug, um eine Strafe von zehn oder mehr Jahren zu sühnen“.5 Verurteilte Frauen waren zudem sexuellen Übergriffen von Aufsehern oder Mitgefangenen ausgesetzt. Selbst achtjährige Kinder wurden verpachtet, weil die Steuerzahler sich weigerten, öffentliche Gelder für junge Schwarze auszugeben, die als unbelehrbare Verbrecher galten.

Zwischen den 1860er Jahren und 1928, als Alabama als letzter Staat das Convict-Lease-System abschaffte, brachte dieses den Bundesstaaten beträchtliche Gewinne ein. In Tennessee verkaufte man sogar den Urin der Strafgefangenen an die örtlichen Gerbereien und ihre Leichen, sofern die Angehörigen sie nicht einforderten, an die medizinische Hochschule in Nashville. Zugleich profitierten Unternehmen und Arbeitsvermittler, auch die Sheriffs erhielten eine Belohnung, sobald sie einen Schwarzen auf Grundlage geringfügiger oder erfundener Anschuldigungen verhaftet hatten.

Da Schwarze als von Geburt an unbeherrscht und gewalttätig galten, ignorierten die Behörden Verbrechen von Schwarzen gegen Schwarze, auch gewalttätige Übergriffe und Vergewaltigungen, was zu überdurchschnittlichen Gewaltraten in der afroamerikanischen Community führte. Ein Sprichwort lautete: „Wenn ein N**** einen Weißen tötet, ist es Mord. Wenn ein Weißer einen N**** tötet, ist es gerechtfertigter Totschlag. Wenn ein N**** einen N**** tötet, ist es ein N**** weniger.“6 Allerdings traten Plantagenbesitzer auch für ihre Pächter oder Landarbeiter ein, weil sie nicht wollten, dass ihre dringend benötigten Arbeitskräfte im Gefängnis landeten.

Der politische Ausschluss und der verweigerte Zugang zur Gerichtsbarkeit wirkten zusammen: Indem man den Schwarzen das Wahlrecht verweigerte, konnte man sie auch aus Geschworenen-Jurys ausschließen (denn für die Teilnahme musste man im Wahlverzeichnis registriert sein) und die Finanzierung ihrer Schulen und anderer Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge drastisch kürzen. Umgekehrt bedeutete der Ausschluss aus den Justizinstitutionen, dass Schwarze ihre Rechte – wie das Wahlrecht – nicht vor Gericht einklagen konnten.

Die rassistische Gewalt äußerte sich in drei Hauptformen: Einschüchterungen und Aggressionen im Alltag, Menschenjagden und Lynchmorde, Aufstände und Pogrome. Zusammengenommen schürten sie im Leben von Schwarzen ein Klima erstickender Angst. In seiner Autobiografie „Black Boy“ bemerkt der aus Mississippi stammende Schriftsteller Richard Wright: „Die Dinge, die mich in meinem Verhalten als N**** beeinflussten, brauchten mir nicht persönlich zu widerfahren, es genügte, wenn ich von ihnen hörte; schon dann drangen sie bis ins Innerste meines Bewusstseins. Tatsächlich hatte die weiße Brutalität, die ich nicht selbst miterlebte, eine stärkere Wirkung auf mich als das, was ich von ihr zu sehen bekam.“7

Die Lynchjustiz wird aufgrund ihrer Bildsymbolik in der Öffentlichkeit wie in akademischen Kreisen eng mit dem Jim-Crow-Regime assoziiert. Aber als eine Form der Selbstjustiz, die sich dem gesetzlich geregelten Verlauf von Gerichtsprozessen entzieht, war sie nicht auf die Südstaaten beschränkt, noch zielte sie ausschließlich auf Schwarze. Lynchjustiz wurde in allen Landesteilen praktiziert und traf bis in die 1880er Jahre vor allem Weiße. Dann wurde sie plötzlich zum praktischen wie symbolischen Instrument in den Händen einer Weißen Kaste in den Südstaaten, die die früheren Sklavinnen und Sklaven davon abhalten wollte, ihre wirtschaftlichen, bürgerlichen und politischen Rechte einzufordern. 90 Prozent der zwischen 1882 und 1968 im Süden dokumentierten Opfer von Lynchmorden waren Afroamerikaner:innen, während es in den Mountain States im Westen der USA und in Kalifornien lediglich 5 Prozent waren.8

Falsch ist auch die Vorstellung, Lynchjustiz sei vor allem eine Antwort auf vorgeblich oder tatsächlich erfolgte sexuelle Übergriffe von Seiten Schwarzer Männer gewesen. Der Vorwurf Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung machte nur ein Viertel der Fälle aus, ein weiteres Viertel ging auf Verstöße gegen die rassistische Etikette zurück, die manchmal nur darin bestanden, einen Weißen beleidigt zu haben.9 Allein das kollektive Empfinden von Weißen, das Opfer sei „uppity“ (hochnäsig, dreist) oder unverschämt gewesen, konnte einem Schwarzen das Leben kosten. Zudem konnten die Weißen Täter darauf zählen, nicht bestraft zu werden: In der Zeit zwischen 1915 und 1932 „wurden von Zehntausenden Lynchmördern und Zuschauern, die gleichfalls nicht unschuldig waren, nur 49 angeklagt und 4 verurteilt“.10

Doch die tatsächlichen Morde waren nur die Spitze eines Eisbergs von Lynchversuchen und Androhungen, und dieser wiederum nur die Spitze eines noch größeren Bergs schwerer Zuchthaus- oder Todesstrafen, die ordentliche Gerichte im Schnellverfahren verhängten; unter dem Vorwand, weitere Gewalt verhüten zu wollen. Tausende Schwarze wurden gelyncht (nach Zählungen des Tuskegee Institute waren es zwischen 1882 und 1968 mindestens 3446), aber tausende weitere „wurden in abgelegenen Countys ohne Aufsehen ermordet und ihre Leichen in Flüsse und Bäche geworfen“. Noch häufiger waren die sogenannten „N****-Hunts“, bei denen Dutzende oder Hunderte oft stark alkoholisierter Weißer sich zu einer schwer bewaffneten posse (Bande) zusammenrotteten und Jagd auf Schwarze machten, die eines Verbrechens verdächtigt wurden.

Nach Ende des Bürgerkriegs entstanden in den Südstaaten allerorten Bürgerwehren (Vigilanten) und andere Weiße Milizen. Die berüchtigtste und am besten organisierte Gruppe war der Ku-Klux-Klan, dazu kamen die White League und die Knights of the White Camelia (Ritter der weißen Kamelie).11

Im ersten Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg kämpfte der Klan gegen eine angebliche „Afrikanisierung“ der Gesellschaft durch „Bastardisierung“ der Bevölkerung.12 Seine Mitglieder betrachteten sich als Diener von Recht und Gesetz, die eine steigende Welle Schwarzer Kriminalität eindämmen und jede politische Betätigung von Afroamerikanern und Republikanern (deren Partei für das Ende der Sklaverei verantwortlich war) verhindern wollten. Die US-Bundesregierung verordnete 1871 die Auflösung des Geheimbunds.

1915 gründete sich der Klan neu, und seine Zellen breiteten sich bis 1926 im gesamten Land aus. Das Gründungsmotto lautete „Einhundert Prozent Amerikanisch“: Es ging darum, das „Land des Weißen Mannes“ zurückzuerobern, den Protestantismus zu stärken und erneut ein strenges Patriarchat einzuführen. Die Mitglieder des zweiten Ku-Klux-Klans ritten und marschierten in bewaffneten Banden durchs Land, gekleidet in weiße Roben mit Kapuzen, und stellten als Markenzeichen brennende Kreuze auf; ihre Kostüme und Rituale waren von D. W. Griffiths rassistischem Stummfilm-Epos „Die Geburt einer Nation“ aus dem Jahr 1915 inspiriert. Ihre Drohungen und Angriffe zielten jedoch nicht allein auf Afroamerikaner:innen, sondern auch auf Menschen jüdischen und katholischen Glaubens, ebenso wie auf Einwanderer und Frauen, die sich nicht den gängigen Geschlechternormen fügen wollten. Mit ihren Gewalttaten, Erschießungen, Plünderungen und Brandstiftungen auf Bauernhöfen von Schwarzen Familien, überzogen diese selbsternannten Vorkämpfern eines „Rassenkrieges“ das Land mit Terror.

Das schlimmste Pogrom von Weißen gegen Schwarze fand 1921 in Tulsa (Oklahoma) statt und wurde unter dem Namen „Black Wall Street Massacre“ bekannt. In weniger als 24 Stunden wurden im Viertel Greenwood mehrere hundert Schwarze Bür­ge­rin­nen und Bürger ermordet – die genaue Zahl ist bis heute umstritten – und über tausend verletzt. Bei dem Angriff gingen 35 Häuserblocks in Flammen auf, etwa 1300 Wohnungen und dutzende Geschäfte wurden zerstört.13 Zudem wurden 6000 Schwarze Bür­ge­r:in­nen von den Behörden verhaftet.

Auslöser des Pogroms war der versuchte Lynchmord an einem jungen Schwarzen Schuhputzer, der beschuldigt wurde, ein Weißes Liftgirl belästigt zu haben. Bewaffnete Schwarze waren dazwischengegangen, woraufhin sich ein Mob von Weißen zusammenrottete, unterstützt und bewaffnet von Polizei und Nationalgarde. Die Behörden vor Ort riefen aktiv zu Mord, Plünderung und Brandstiftung auf und ernannten hunderte Weiße Bürger zu Hilfspolizisten, indem sie ihnen Abzeichen, Waffen und Munition aushändigten.

Das auslösende Moment dieses rassistischen Massakers hatte mit der sexuellen Etikette zwischen Schwarzen und Weißen zu tun. Doch dem Pogrom zugrunde lag auch der Wunsch der Industrie- und Eisenbahnbetriebe der Stadt, sich die wertvollen Grundstücke im zentrumsnahen Greenwood zu sichern; die Verbitterung Weißer angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs der Schwarzen in Tulsa; und die Vorstellung, man müsse die stolzen und wohlhabenden Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen auf ihren Platz verweisen. Die bis dahin beispiellose Zerstörungswut sollte eine Botschaft übermitteln: Ganz gleich, wie erfolgreich die Schwarzen in Wirtschaft und Gesellschaft auch sein mochten, sie würden eine niedere Kaste bleiben, deren Rechte in jedem Augenblick außer Kraft gesetzt werden konnten.

Souvenirs vom Galgenbaum

Das markanteste Symbol der Gewalt während der Jim-Crow-Ära bleibt in jedem Fall der Lynchmord als öffentliches Spektakel. Zwar machten diese Fälle, in denen das Opfer vor einer begeisterten Menge gefoltert, ermordet und anschließend die Leiche geschändet wurde, weniger als 10 Prozent aller dokumentierten Lynchmorde aus. Ihre Wirkung war aber immens. Sie sendeten ein Signal absoluter rassistischer Macht aus und verbreiteten Angst und Schrecken. Es wurden Zeitungsartikel und Fotografien veröffentlicht und eigens zu diesem Anlass Souvenirs und Postkarten hergestellt.14

Die Inszenierungen der Selbstjustiz folgten einem detailliertem Skript. Der Schwarze Angeklagte wurde entweder gefangen oder aus dem Gefängnis oder dem Gerichtssaal entführt, häufig unter Mitwirkung des örtlichen Sheriffs. Dann wurde er von seinen angeblichen Weißen Opfern flüchtig identifiziert, misshandelt und dazu gezwungen, im Verlauf eines informellen Schauprozesses ein Geständnis abzulegen. Dann brachte man ihn im Triumphzug an einen Ort mit reli­giö­ser oder politischer Bedeutung, wie etwa einen Friedhof, eine Eiche in der Nähe des Stadt­zen­trums, eine Brücke oder eine Kreuzung, alles Symbole des Übergangs. Manchmal durfte die erwartungsfrohe Weiße Meute per Abstimmung über die Hinrichtungsmethode entscheiden: Scheiterhaufen, Erschießung, Bauchaufschlitzen, Ertränken, Erwürgen oder Erhängen. Manchmal wurde sogar eine Tribüne errichtet, damit die Menge besser zuschauen konnte.

Die zeremonielle Tötung wurde mehrere Tage vorher bekanntgegeben, es wurden Zeitungsannoncen veröffentlicht und Sonderzüge eingesetzt. Unternehmen gaben ihren Angestellten frei, damit sie dem Spektakel beiwohnen konnten. Schulen stellten ihren Stundenplan um. Viele Weiße reisten von weither per Auto an. Tausende Zuschauer:innen, darunter auch Familien mit Kindern, die sich über den freien Tag und ein Picknick freuten, wurden dann über Stunden mit den sadistischen Folterungen unterhalten: Die Folterer zogen ihrem Opfer die Haut vom Leib, hackten ihm Gliedmaßen ab, brandmarkten es mit glühenden Eisen, rissen Eingeweide heraus oder kastrierten es.

Nach der finalen Tötung durch Erhängen, Aufspießen oder Erschießen stürmten einige der Schaulustigen in wildem Durcheinander nach vorn, um kostbare Souvenirs, wie Körperteile des Hingeschlachteten (ein Finger, ein Zeh, Zähne, ein Stück Leber oder Herz), ein Stück Seil oder einen Ast des Galgenbaums, zu ergattern, das sie selbst behalten oder Angehörigen schenken wollten. Andere drängten sich, um sich vor dem Scheiterhaufen oder Galgen fotografieren zu lassen. Fliegende Druckereien erstellten Postkarten dieser Fotos. Was von dem nackten, verstümmelten und verbrannten Körper des Opfers noch übrig war, wurde anschließend mit einem Seil an einen Baum oder Strommast gehängt. Dort blieb es häufig über Wochen als blutiges Zeichen für die grausame Macht rassistischer Selbstjustiz hängen, während die örtlichen Zeitungen sich wortreich über die Karnevalsatmosphäre bei solchen „N****-Barbecues“ ausbreiteten.

Die rassistischen Gewaltorgien der Jim-Crow-Ära kannten keine Grenzen. Häufig wurden mehrere Tötungsarten miteinander kombiniert und manchmal henkte man auch mehrere Opfer am selben Baum auf, diese Zeremonie wurde „Necktie Party“ („Krawatten-Party“) genannt. In Kentucky brachte man 1911 einen Schwarzen, der wegen Schüssen auf einen Weißen verhaftet und verurteilt worden war, auf die Bühne der Oper von Livermore und band ihn dort fest. Dann richteten hundert Weiße „Rächer“ ihre Waffen auf ihn und durchsiebten seinen Körper mit Blei. Wer eine Eintrittskarte für den Rang besaß, durfte einen Schuss abgeben, wer im Parkett saß, hatte die Erlaubnis, ein ganzes Magazin abfeuern.15

Diese Feste des rassistischen Hasses waren gemeinschaftsstiftende Veranstaltungen, deren Hauptakteure arme Weiße Landbewohner aus den unteren Klassen („Peckerwoods“) waren. Aber auch die städtische Oberschicht („White Quality“) wohnte ihnen bei. Lange Zeit wurden diese Mordfeste stillschweigend von den Kirchen unterstützt und offen von staatlichen Ordnungskräften befördert, zumal die Behörden die Straflosigkeit aller Beteiligten sicherten. Tatsächlich sind auf etlichen Lynch-Fotografien, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Postkarten und Sammelkarten zirkulierten, Sheriffs, Richter und Polizeibeamte zu sehen. Und die Gerichtsmediziner verfügten über einen feststehenden Terminus, mit dem sie solche Lynchmorde in die rassistische Normalität des Südens einschreiben konnten: Das Opfer sei „in den Händen unbekannter Personen“ gestorben, lautete die gängige Formel auf dem Totenschein.

Zwangsenteignungen, ständige Einschüchterungen, Verbannungen, willkürliche Angriffe und Morde, verübt von Einzelpersonen und Milizen, die vollkommen straflos agieren konnten, widerrechtlicher Einsatz von Ordnungskräften, öffentliche Folter, Lynchmorde und Pogrome: Die ­Weißen waren entschlossen, die Schwarzen mit allen Mitteln unten zu halten und ihre Zu­stimmung oder gar ihr Einverständnis mit der Weißen Vorherrschaft zu erzwingen. Kaum verwunderlich, dass viele Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen das Leben als Freie im Neuen Süden als „noch schlimmer“ („worser“) empfanden als zur Zeit der Sklaverei.16

Weder in Südafrika von der Gründung der Republik 1910 bis zum Ende der Apartheid 1991 noch in Nazideutschland von den ersten antijüdischen Gesetzen 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939 noch in Indien von der Unabhängigkeit bis heute gegenüber den Dalits noch im Japan der Tokugawa von 1603 bis 1867 gegenüber der Minderheit der Burakumin hat sich in der modernen Geschichte ein Kasten-Regime zu Friedenszeiten derart auf körperlichen Zwang und mörderische Brutalität gestützt wie das Jim-Crow-Regime in den Südstaaten der USA.

1 V. O. Key, „Southern Politics in State and Nation“, New York (Knopf) 1983 (1. Ausgabe 1949).

2 Neil R. McMillen, „Dark Journey. Black Mississippians in the Age of Jim Crow“, Urbana (University of Illinois Press) 1990.

3 Michael J. Klarman, „From Jim Crow to Civil Rights. The Supreme Court and the Struggle for Racial Equality“, Oxford (Oxford University Press) 2006.

4 Leon F. Litwack, „Trouble in Mind. Black Southerners in the Age of Jim Crow“, New York (Knopf) 1998.

5 David M. Oshinsky, „Worse than Slavery. Parchman Farm and the Ordeal of Jim Crow Justice“, New York (Free Press) 1997.

6 Edward L. Ayers, „Vengeance and Justice. Crime and Punishment in the Nineteenth-Century American South“, Oxford (OUP) 1984.

7 Richard Wright, „Black Boy: Bericht einer Kindheit und Jugend“, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1978.

8 Orlando Patterson, „Rituals of Blood. Consequences of Slavery in Two American Centuries“, New York (Civitas Books) 1998.

9 Jennifer L. Ritterhouse, „Growing Up Jim Crow. How Black and White Southern Children Learned Race“, Chapel Hill (University of North Carolina Press) 2006.

10 Arthur F. Raper, „The Tragedy of Lynching“, Chapel Hill (UNC Press) 2017 (1. Ausgabe 1933).

11 Die White League war eine paramilitärische Organisation, die aus Enttäuschung über die militärische Niederlage der Südstaaten in den 1870er Jahren aktiv wurde und republikanische Politiker unter Druck setzte, die für das Wahlrecht von Schwarzen eintraten. Der Geheimbund Knights of the White Camelia wurde nach dem Bürgerkrieg gegründet und wollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken eine „Vermischung der Rassen“ verhindern.

12 Elaine Frantz Parsons, „Ku-Klux. The Birth of the Klan during Reconstruction“, Chapel Hill (UNC Press) 2015.

13 Der Angriff erfolgte nicht nur am Boden, sondern auch aus der Luft, mit Flugzeugen, die mit Terpentin gefüllte Bomben warfen.

14 Man findet eine lehrreiche Auswahl bei James Allen, „Without Sanctuary: Lynching Photography in America“, Santa Fe (Twin Palms) 1999.

15 Philip Dray, „At the Hands of Persons Unknown: The Lynching of Black America“, New York (Modern Library) 2007.

16 Neil R. McMillen, „Dark Journey“, siehe Anmerkung 2.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Loïc Wacquant ist Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Der vorliegende Text ist ein redigierter Auszug aus seinem Buch „Jim Crow, le terrorisme de caste en Amérique“, das am 19. April im Verlag Raisons d’Agir (Paris) erscheint. Der erste Teil des Auszugs erschien in der LMd-Märzausgabe.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Loïc Wacquant