Der deutsche Mythos
von Conrad Kunze
Kein Land pflegt einen so starken Kult um das Auto wie Deutschland. Rasen auf der Autobahn – etwa mit 400 Stundenkilometern wie demnächst im Tesla Roadster – ist das deutsche Äquivalent zum Waffenwahn in den USA.
Deutschland ist eines der wenigen Länder der Welt mit Autobahnen ohne Tempolimit. Und das gilt seit der Nazizeit – damals wurden sogar sämtliche Tempolimits auf allen Straßen – auch innerhalb geschlossener Ortschaften – aufgehoben. Die am 28. Mai 1934 von der Hitlerregierung beschlossene neue autofreundliche Gesetzgebung sollte „von einem großzügigen Geist geprägt sein“, kommentierte damals Verkehrsminister Paul von Eltz-Rübenach, der ironischerweise zuvor viele Jahre bei der Eisenbahn gearbeitet hatte. Seine berufliche Karriere startete der gelernte Maschinenbauer 1903 bei der Eisenbahndirektion Münster.
Hitler war ein erklärter Autofreund („Meine Liebe gehört dem Automobil“). Bereits am 11. Februar 1933 hatte der neue Reichskanzler bei seinem Auftritt auf der internationalen Auto- und Motorradmesse IAMA (heute IAA) in Berlin die „kleinlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen“ der Weimarer Republik gerügt.1
Bei dieser Gelegenheit versprach er außerdem, den Motorsport erstmals mit staatlichen Geldern zu unterstützen, und kündigte „die Durchführung eines großzügigen Straßenbauplanes“ an – womit nur der HaFraBa-Autobahnplan (das Akronym für Hansestädte–Frankfurt–Basel) gemeint sein konnte, den es tatsächlich schon seit 1926 gab.
Die IAMA von 1933 markierte eine dauerhafte Verschiebung der Prioritäten zugunsten der, so Hitler, „heute wohl wichtigsten Industrie: Die Herren der deutschen Automobilindustrie waren über diese Auszeichnung sehr erfreut.“ Doch es stieg auch die Anzahl der Verkehrstoten: 8000 waren es im Jahr 1938, bei nur 2 Prozent Autobesitzern.
Heute erscheint es ganz selbstverständlich, dass mit der Volkswagen-Gruppe, BMW und Mercedes drei der größten Autobauer der Welt, die über 1 Million Menschen beschäftigen, ihren Sitz in Deutschland haben. Dagegen waren 1933, als die Nazis an die Macht kamen, deutsche Autohersteller mit insgesamt rund 30 000 Angestellten noch unbedeutend. Die technologisch überlegenen Firmen – Ford und General Motors – hatten, etwa mit der Marke Opel, zwar Dependancen in Deutschland, waren aber hauptsächlich in den USA tätig.
Das änderte sich schlagartig mit dem Machtantritt der NSDAP. Die Autoindustrie wurde so üppig subventioniert, dass die „Silberpfeile“ von Auto Union und Daimler schon drei Jahre später fast jeden Grand Prix gewannen und Geschwindigkeitsrekorde von über 400 Stundenkilometern aufstellten. Diese Leistungen w urden für die Propaganda weidlich ausgeschlachtet. Doch sie waren auch Teil der versteckten Aufrüstung: Daimlers Rennwagenmotor DB 601 wurde später in Kampfflugzeugen verbaut.
Zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme sah es für viele deutsche Industrielle nicht rosig aus. Für Günther Quandt (Afa-Batterien Hannover, Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, DWM) jedoch sollte sich die Heirat seiner Ex-Frau Magda mit Joseph Goebbels sowie üppige Wahlkampfspenden für die NSDAP noch auszahlen. Daimler-Benz, wo Quandt im Aufsichtsrat saß, wurde die Nummer eins der deutschen Autoindustrie; Hitler paradierte bekanntlich nur im Mercedes Cabriolet. Heute ist die Familie Quandt/Klatten, die nach dem Krieg bei BMW einstieg, Deutschlands reichste Oligarchenfamilie.
Die Nazis und das Tempolimit
Da 1933 der Anteil der Autobesitzer noch verschwindend gering war, wandte sich Hitler mit seinem Autobahnversprechen auch erst an die „Öffentlichkeit“ (tatsächlich handelte es sich um eine elitäre Gruppe), als er bereits Kanzler war. Mit dem Spatenstich auf der ersten Baustelle bei Frankfurt begann im September 1933 die Zeit der pompösen Autobahn-Zeremonien.
Als die Zahlen der Verkehrstoten in die Höhe schossen, appellierte der Chef der Polizei und Reichsführer SS, Heinrich Himmler, an die Autofahrer, sich „ritterlich“ zu verhalten. Und die damals schon existierende Zeitschrift Motor und Sport machte eine ganze Serie zu dem Thema: „vom Verkehrssünder zum Motorritter“.
Während des Kriegs wurden wegen Benzinknappheit vorübergehend Tempolimits verhängt; als sie nach dem Krieg beibehalten beziehungsweise wieder eingeführt werden sollten, agitierte der ADAC mit dem kaum abgewandelten Motto „Kavalier am Steuer“ erfolgreich dagegen. Bis 1957 gab es selbst innerorts kein Tempolimit, auf Landstraßen wurde es erst 1972 eingeführt und auf etwa 70 Prozent der Autobahnen gibt es bis heute keine Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Doch es funktionierten weder die Appelle an Kavalier und Ritter, noch schmälerte der elitäre Charakter des Autos die Begeisterung für die Raserei: „Der Nazismus hat alle Sportarten gepflegt, aber das einprägsamste und häufigste Bild des Heldentums liefert in der Mitte der dreißiger Jahre der Autorennfahrer“, schreibt der Dresdner Romanist Viktor Klemperer, der die Nazizeit in sogenannten Judenhäusern überlebt hat.2
„Nach seinem Todessturz (mit über 400 km/h bei einem Rekordversuch) steht Bernd Rosemeyer eine Zeitlang fast gleichwertig mit Horst Wessel vor den Augen der Volksphantasie, und die Sieger im internationalen Autorennen sind die meistphotographierten Tageshelden“, notiert Klemperer. Bezeichnend für beide „Heldenverkörperungen – den in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten und den Rennfahrern“ sei „der starre Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungswille ausdrücken. An die Stelle des Rennkampfwagens tritt von 1939 an der Tank, an die Stelle des Rennfahrers der Panzerfahrer.“
Hitlers großes Vorbild war auch hier der italienische Diktator Benito Mussolini. 1924 wurde bei Mailand die weltweit erste nur für Autos bestimmte Straße eingeweiht: Die Autostrada war trotz Maut ein dauerhaftes Verlustgeschäft bei einer Autobesitzerquote von 0,002 Prozent: Auf 500 Italiener kam ein Auto.
Die Anfänge des automobilen Faschismus gehen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Der Futurist Fillipo Marinetti schrieb 1909 in einem seiner schwülstigen Manifeste, die den Stil Nietzsches zu kopieren versuchten: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes. Wir wollen gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen.“
Und in einem anderen Manifest des späteren Wegbegleiters Mussolinis heißt es: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.“3
Die deutschen Nazis haben zwar die italienischen Faschisten kopiert, doch ihre Propaganda, die sie in den Kino-Wochenschauen und im Radio verbreiteten – mit einer Hörerschaft im zweistelligen Millionenbereich –, war wesentlich erfolgreicher. Zumal die Deutschen offensichtlich auch die Lüge vom „Friedenswerk“ glauben wollten, das angeblich Arbeit für „Millionen“ bedeute. Die meisten Historiker:innen schätzen dagegen den saisonal bedingten Höchststand der Beschäftigung auf 125 000 Arbeiter.
Mit dem Bau der Autobahn wurde die Nazi-Volksgemeinschaft als klassenlose egalitäre arische Gesellschaft inszeniert, als eine „schaffende Arbeit“ ohne „raffendes“ jüdisches Kapital. Gelogen war daran alles, selbst jüdische Baufirmen bauten anfangs mit und später jüdische Zwangsarbeiter:innen. Der Tageslohn lag knapp über dem Arbeitslosengeld, weshalb auch sarkastisch über die „Hunger- und Elendsbahn“ gespottet wurde.
Die Propaganda triumphierte jedoch über die Realität – im NS-Staat und danach. Seit den 1950er Jahren wurden Autobahnen im Westen und in den 1970ern auch im Osten gebaut – als in beiden Republiken noch von Kriegsschäden gezeichnete Gebäude zum Stadtbild gehörten. Bis heute werden Autobahnen ohne seriöse wirtschaftliche Prognosen gebaut, eine Ex-Post-Evaluation der zahlreichen Fehlplanungen existiert nicht.
In der Nazizeit war die Autobahn ein Aufbauprogramm für die männliche (deutsche) Ehre. Das betonte Hitler in jeder Autobahnrede. In diesem Punkt trifft auch die Behauptung zu, dass die Autobahn nur der Kriegsvorbereitung gedient hat. Faktisch hat die Autobahn der Kriegswirtschaft zwar geschadet (die Panzer rollten auf Güterzügen durchs Reich), aber zur psychologischen Vorbereitung war sie nützlich.
Der Mythos Autobahn ist ein Produkt der Propaganda. Viktor Klemperer notierte: „Das dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus seinen Autobahnen und Massengräbern.“
Für die Nazis und ihre Anhängerschaft hingegen war die Autobahn ein Wunderhorn, in dem für alle etwas steckte: wirtschaftlicher Aufstieg, Weltrekorde, Ende der Arbeitslosigkeit, Volkswagen, Heldenmänner, „schaffende Arbeit“ und Friedenswerk. Das alles schwingt noch heute im öffentlichen Resonanzraum mit, wenn mal wieder über ein Tempolimit diskutiert wird; denn es ist zusammen mit dem Namen Autobahn, ihren Piktogrammen und dem ersten Schnellstraßennetz von 3506 Kilometern ein manifestes Erbe des Nationalsozialismus, seine größte erhaltene Architektur.
Die Mythen sind nach wie vor wirksam. Sonst würde der Bau einer weiteren Autobahn nicht als Allheilmittel in Wirtschaftskrisen gelten, wie etwa in der Lausitz nach dem Ende des Braunkohletagebaus. Sonst würden nicht vor allem Männer ihr Vorrecht aufs Rasen und die linke Spur mit Zähnen und Klauen verteidigen. Es ist höchste Zeit für eine Entnazifizierung des Mythos Autobahn. ⇥Conrad Kunze
2 Viktor Klemperer, „LTI – Lingua Tertii Imperii“, Halle (Max Niemeyer Verlag) 1957, S. 10.
3 Siehe das Gründungsmanifest der Futuristen in Le Figaro, Paris 1909.
Conrad Kunze ist Umweltschützer und Autor von „Deutschland als Autobahn – eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus“, Bielefeld (Transcript Verlag) 2022.
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