11.04.2024

Der Indien-Hype

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Der Indien-Hype

Der Westen hofiert das Land als geopolitisches Gegengewicht zu China

von Renaud Lambert

Xi zu Besuch bei Modi, Mamallapuram, 2019 picture alliance/ap
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Stellen wir uns vor, in Washington findet man heraus, dass Peking die Ermordung chinesischer Regierungsgegner auf US-Territorium plant. Können wir annehmen, dass dies lediglich eine leichte diplomatische Verstimmung zur Folge hätte?

Doch genau so ist es im Fall In­dien gelaufen: Im November 2023 deckte das US-Justizministerium eine Operation des indischen Geheimdienstes auf, mit der oppositionelle Sikhs in den USA und Kanada liquidiert werden sollten.

Die einzige Reaktion von Präsident Joe Biden: Er lehnte die Einladung des indischen Premierministers Narendra Modi ab, gemeinsam den indischen Nationalfeiertag am 26. Januar zu begehen. Einen Grund nannte Biden nicht. Die Einladung aus Neu-Delhi wurde innerhalb der Staaten der freien Welt nach unten durchgereicht und landete auf dem Schreibtisch des französischen Präsidenten. Emmanuel Macron nahm dankend an und versicherte seinem Gastgeber, die Verärgerung im Westen werde nicht lange andauern.

Die „regelbasierte“ internationale Ordnung, auf die sich der Westen gern beruft, wird also sehr flexibel gehandhabt. Bestimmten Ländern wird eine Art Freifahrtschein gewährt, von dem andere nur träumen können.

Indien hat aus Sicht des Westens einen gewaltigen geopolitischen Vorteil: Es ist nicht China. Die US-Regierung ist auf Indien angewiesen – als wirtschaftliches und diplomatisches Gegengewicht zu China. Dafür haben die übrigen westlichen Länder großes Verständnis.

Es ist freilich noch nicht so lange her, dass die USA und die EU dem heutigen Regierungschef Modi die Einreise verweigerten, weil dieser als Chief Minister von Gujarat für das antimuslimische Pogrom im Frühjahr 2002 verantwortlich war.1 Modi hatte damals die Polizei davon abgehalten, die gewalttätigen Ausschreitungen von Hindu-Na­tio­na­listen gegen Muslime zu unterbinden (siehe den Text von Christophe Jaffrelot auf Seite 8/9).

Damals wurde die politische Leitlinie offenbar, an die sich Modi in seiner gesamten weiteren Karriere unbeirrt gehalten hat. Es ist die Linie der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), des „Nationalen Freiwilligenkorps“. Die militante Kaderorganisation gilt als Flaggschiff des Hindu-Nationalismus.2

Mit dem Wahlsieg seiner Bharatiya Janata Party (BJP) gelangte Modi 2014 an die Spitze der Regierung und hat seitdem alle Macht in seinen Händen konzentriert. Er hat Darwin aus den Schulbüchern getilgt und große NGOs wie Amnesty International, Greenpeace und Oxfam des Landes verwiesen. Der Personenkult, der um den indischen Premier entstanden ist, würde den gesamten Westen aufschrecken, wenn es sich um den chinesischen Staatschef Xi Jinping handeln würde.

Modi hat zum Beispiel eine eigene Smartphone-App namens NaMo. Darauf findet man auch ein Gewinnspiel, bei dem man Punkte bekommt, wenn man die Handlungen des Premierministers billigt.3 Modi verpasst Richtern, Intellektuellen und Whistleblowern einen Maulkorb und geht gegen alles vor, was irgendwie nach Opposition aussieht. Vor allem aber verfolgt er seine Politik der Ausgrenzung gegenüber den indischen Muslimen.

Modi hat sich also nicht verändert, wohl aber der Westen. Das zeigt sich auch an der wachsenden Zahl der „Indien-Versteher“ in den Mainstream-Medien. So verkündet etwa der Journalist und Autor Franz-Olivier Giesbert, In­dien sei „nicht nur die größte De­mo­kra­tie, sondern die Mutter der De­mo­kra­tien“. Und verbreitet damit einen Spruch, der von Modi selbst stammt.4

Gisbert behauptet weiter, unter Modis „Herrschaft“ habe „der Hinduismus wieder an Farbe und Stolz gewonnen“. Das sei auch der Grund für eine „hinduphobe Hysterie in europäischen oder amerikanischen intellektuellen Kreisen“, die er auf ein zu großes Verständnis für den Islam als „die Religion der angeblichen Opfer“ zurückführt. Dabei würden „Muslime in Indien besser behandelt als die Hindu-Minderheit in Pakistan“, behauptet Giesbert.

Das allerdings ist objektiv falsch, wie der Politikwissenschaftler Laurent Gayer erläutert: „Die Lage der Hindus in Pakistan ist prekär. Sie werden jedoch nicht massenhaft gelyncht und inhaftiert und ihre Häuser werden nicht mit Bulldozern zerstört.“

Das alles spielt aber keine Rolle. Denn schließlich ist Indien nicht China. Im Westen ist der einstige Paria heute allenthalben willkommen: Im Juni 2023 genoss Modi die selten gewährte Ehre, eine Rede vor dem US-Kongress halten zu dürfen.

Einen Monat später war Indiens Regierungschef in Paris auf Einladung Macrons bei der traditionellen Parade am 14. Juli zugegen. Am Abend gab es zu seinen Ehren ein offizielles Bankett im Louvre, bei dem Modi das Großkreuz der Ehrenlegion verliehen wurde. Die versagte Einreiseerlaubnis von 2002 ist vergessen.

Dabei ist Indien für den Westen keinesfalls ein zuverlässiger Verbündeter. Zwar hat sich das Land seit dem Ende der UdSSR an die USA angenähert und ist am Quadrilateralen Sicherheitsdialog beteiligt, einem informellen sicherheitspolitischen Format, das noch die USA, Australien und Japan einschließt. Und gemeinsam mit Tokio hat Neu-Delhi 2017 die Schaffung eines „Wachstumskorridors Asien–Afrika“ angekündigt, der Indien mit Ostafrika verbinden soll. Das Projekt namens „Straße der Freiheit“ soll Chinas Neuer Seidenstraße Konkurrenz machen. Kein Wunder also, dass Peking der Regierung in Neu-Delhi „nicht ohne Grund böswillige Absichten“ unterstellt, meint der Sinologe Emmanuel Lincot.5

Doch auf der anderen Seite ist Indien auch Gründungsmitglied der Brics-Staaten (anfangs Brasilien, Russland, Indien, China, später auch Südafrika) und ist der Schanghai-Gruppe beigetreten. Beide Foren stehen für das Bemühen der sogenannten Schwellenländer – insbesondere Chinas und Russlands –, die von den USA dominierte internationale Ordnung aufzumischen.

Die indische Regierung hat auch die russische Invasion in der Ukraine nicht verurteilt, zudem unterläuft sie die vom Westen gegen Moskau verhängten Sanktionen. Das Land nutzt sogar noch die durch die Sanktionen verursachte Verbilligung des russische Öls aus: Es kauft große Mengen davon auf, um es teurer weiterzuverkaufen, nicht zuletzt an europäische Länder.

Nachdem Russland schon seit langer Zeit Indiens größter Waffenlieferant ist, wird es nun auch zum wichtigsten Öllieferanten. Die Erdölexporte nach Indien machen inzwischen 15 Prozent der russischen Haushaltseinnahmen aus. Als der indische Außenminister Jaishankar am 17. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz von seinen westlichen „Partnern“ deswegen kritisiert wurde, antwortete er bloß: „Wenn ich klug genug bin, mehrere Karten im Ärmel zu haben, solltet ihr mich bewundern, statt mich zu kritisieren.“6 Von Maßnahmen gegen Delhi ist dennoch nicht die Rede. Denn: Indien ist nicht China.

Jaishankar hat in einem 2020 erschienenen Buch seine Form der Außenpolitik als „multiple Ausrichtung“ definiert, die es Indien erlaube, „seine eigenen Werte und Überzeugungen“ zu ver­tei­di­gen.7 Doch es sind zwei andere Faktoren, die den diplomatischen Slalom eher erklären: zum einen die üppigen Gewinne, die Neu-Delhis Außenpolitik der indischen Privatwirtschaft beschert, zum anderen der wachsende Einfluss Indiens auf der internationalen Bühne.

Auf dieser Bühne versucht sich Modi an einem schwierigen Spagat: Er will China Konkurrenz machen, zugleich aber gemeinsam mit Peking daran arbeiten, ein neues Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd zu schaffen. Es gibt jedoch ein Thema, bei dem die indische Regierung keine Kompromisse macht: Ihre Unterstützung für Israel ist unerschütterlich.

Das zeigte sich auch am 27. Oktober 2023 bei der Abstimmung über die Resolution der UN-Generalversammlung, die einen humanitären Waffenstillstand in Gaza forderte. Indien enthielt sich. Die Begründung von Außenminister Jaishankar lautete: „Auch wir sind Opfer des Terrorismus.“8

Einen Monat später weigerte sich Indien bei einem Dringlichkeitstreffen der Brics-Staaten als einziges Land, die israelische Regierung für ihr Vorgehen in Gaza zu verurteilen – ein klarer Bruch mit der langen indischen Tradition, die Palästinenser zu unterstützen.

Indien und Israel pflegen seit Aufnahme ihrer diplomatische Beziehungen im Jahr 1992 eine enge strategische Partnerschaft, basierend auf dem gemeinsamen Kampf gegen den „islamischen Terrorismus“. Seit Mitte der 2000er Jahre ist Indien auch der wichtigste Kunde der israelischen Rüstungsindustrie. Während der Ära Modi hat sich das Bündnis noch weiter gefestigt. Heute bietet Israel indischen Polizeikräften eine Spezialausbildung in Terrorismusbekämpfung, und Neu-Delhi bezieht und nutzt die israelische Spio­nage­software Pegasus. Seit Neuestem gibt es auch eine Vereinbarung über die Beschäftigung indischer Arbeitskräfte, um die Palästinenser zu ersetzen, die Israels Regierung nicht mehr haben will.

Dieses Bündnis hat jedoch auch tiefere Wurzeln. Modis politisches Projekt zielt auf eine Art „ethnische Demokratie“9 , die der vom israelischen Regierungschef Netanjahu angestrebten durchaus ähnelt. Sein erklärtes Ziel ist es, den Kampf gegen das Kastenwesen zu beenden, der in den 1980er Jahren aufkam und nach 1990 zum innenpolitischen Thema wurde. Damals nahm die nationalistische Hindu-Bewegung ihren Anfang, die „die Kastenidentitäten im Interesse der Einheit des Hin­duis­mus überformen“ wollte, schreibt der Indologe Christophe Jaffrelot. Ihr Ziel ist es also, soziale Gegensätze durch die Verschärfung weitgehend erfundener ethnischer und religiöser Spaltungen zu beseitigen.

Für diese konservative Revolution zum Schutz der brahmanischen Ordnung diente die israelische Politik in mancherlei Hinsicht als Vorbild. „Für die diskriminierenden Staatsbürgerschaftsgesetze, den Versuch, das Verhältnis zwischen Hindu- und Muslim-Bevölkerung zu manipulieren, und die ‚Bulldozer-Justiz‘ (Abriss von Häusern verurteilter Krimineller), für all das gibt es Präzedenzfälle in Israel“, meint der kommunistische Aktivist Akash Bhattacharya.10

Jede andere Regierung, die eine solche Politik betreibt, würde bei den westlichen Regierungen auf Ablehnung stoßen. Nur Indien nicht.

Zu Recht, meint der bereits zitierte Franz-Olivier Giesbert. Für den Modi-Fan rührt jegliche Kritik an Indien letztendlich nur von „Wahnvorstellungen, von denen die Propagandisten des Links-Islamismus an den Universitäten und die von ihnen kontrollierten Medien heimgesucht werden“. Indien ist eben nicht China.

1 2014 lud US-Präsident Barak Obama Modi erstmals wieder nach Washington ein, nachdem dessen BJP die Wahlen gewonnen hatte.

2 Siehe Ingrid Therwath, „Die Hindu-Internationale“, LMd, Februar 2023.

3 Sophie Landrin und Guillaume Delacroix, „Dans la tête de Narendra Modi“, Arles (Solin/Actes Sud) 2024.

4 Franz-Olivier Giesbert, „Narendra Modi, l’homme qui ‚modifie‘ l’Inde“, La Revue des deux mondes, November 2023. (Alle Zitate von Giesbert sind daraus entnommen.)

5 Emmanuel Lincot, „Indien/China: Le match du siècle“, La Revue des deux mondes, November 2023.

6 „Entre New Delhi et Moscou, une alliance scellée par le pétrole“, Le Figaro, 23. Februar 2024.

7 Subrahmanyam Jaishankar, „The India Way. Strategies for an Uncertain World“, London (HarperCollins) 2020.

8 „Narendra Modi has shifted India from the Palestinians to Israel“, The Economist, 2. November 2023.

9 Christophe Jaffrelot, „L’Inde de Modi. National-populisme et démocratie ethnique“, Paris (Fayard) 2019.

10 Akash Bhattacharya, „A disastrous friendship: The dangerous political economy of India‘s support for Israel“, Liberation, 18. Januar 2024.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Renaud Lambert