11.04.2024

Im Namen Gottes

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Im Namen Gottes

Religiöse Propaganda im Krieg gegen Gaza

von Marius Schattner

Israelische Soldaten im Gazastreifen, 1. Januar 2024 IDF/picture alliance/xinhua
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Gemeinsam werden wir siegen!“, lautet der zentrale israelische Slogan im Gaza­krieg. Die rechte Regierung fügt stets hinzu „mit Gottes Hilfe“ und verleiht damit dem Konflikt mit der islamistischen Hamas eine religiöse Dimension.

Benjamin Netanjahu zitierte bei einer Pressekonferenz am 28. Oktober 2023 und in einem Brief an die Soldaten vom 3. November 2023 aus der Hebräischen Bibel (auch Tanach genannt): „Gedenke, was Amalek dir angetan hat“ (Deuteronomium 25:17, siehe den neben­stehen­den Kasten). Bemerkenswert ist dabei, dass der israelische Premierminister seine Religion gar nicht praktiziert. Und doch muss sich Israel unter anderem wegen dieser Aussage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen den Vorwurf Südafrikas wehren, in Gaza einen Völkermord zu begehen.1

Dass Netanjahu im Konflikt mit der Hamas auf religiöse Motive zurückgreift, ist nicht nur eine Reaktion auf die Gräueltaten, die die islamistische Organisation am 7. Oktober begangen hat. Denn in Israel gibt es solche Rhetorik schon seit einigen Jahren, wenn auch auf diskretere Art.

Die israelische NGO Breaking the Silence hat die Aussage eines Offiziers der Golani-Infanteriebrigade dokumentiert, der zufolge der Oberrabbiner der Armee, Avichai Rontzki, die Soldaten der „Armee Gottes“ während der Operation „Cast Lead“ (2008–2009) aufgefordert hat, kein Erbarmen gegenüber dem Feind zu zeigen – und das unter Verweis auf die Eroberung Kanaans, des Gelobten Landes, durch die Is­rae­li­ten.

Und General Ofer Winter, Kommandeur der Givati-Brigade, erklärte während der Operation „Protective Edge“ im Sommer 2014: „Die Geschichte hat uns als Speerspitze im Kampf gegen den terroristischen Feind in Gaza auserwählt, der den Gott der Kriege Israels beschimpft und verflucht.“2

Damals waren solche Äußerungen hochrangiger Militärs noch ein Skandal; heute wirken sie kaum noch schockierend. Die Leute haben sich an den nationalistisch-religiösen Diskurs gewöhnt. Er wird nicht nur von rechtsextremen Ministern gepflegt – etwa von Itamar Ben-Gvir, dem Minister für nationale Sicherheit, oder von Finanzminister Bezalel Smotrich – sowie von Abgeordneten der Likud-Partei Netanjahus, sondern auch in der Armee. Und hier vor allem bei den unteren Offiziersgraden, die häufig ihre Vorbereitung auf den Militärdienst an religiösen mechinot absolviert haben.

Im Internet sind zwei einschlägige Fälle dokumentiert: In einem Video vom November 2023 forderte Amichai Friedman, Rabbiner am Ausbildungszentrum der Nahal-Brigade, der Krieg müsse den Wiederaufbau des Siedlungsblocks Gush Katif ermöglichen, der 2005 bei Israels Abzug aus dem Gazastreifen aufgegeben wurde. Und dann erklärte der Rabbiner im Rang eines Hauptmanns unter dem Beifall seiner Soldaten: „Dieses Land ist unser Land, einschließlich Gazas, einschließlich Libanons – es ist das Gelobte Land.“

Wegen dieser Ansprache wurde Friedman von der militärischen Führung gerügt und für 30 Tage suspendiert, doch später bekam er einen anderen Rabbinerposten im selben Regiment.

Vom Dezember 2023 stammt die Videoaufzeichnung einer Zeremonie nach der Verwüstung der Stadt Beit Hanun im Nordosten des Gazastreifens. Dabei forderte der Kommandant Yair Ben David, Reserveoffizier des Bataillons 9208, nicht nur die Zerschlagung der Hamas, die das offizielle Ziel dieser Militäroperation war, sondern auch die Vernichtung von Gaza-Stadt.

Dabei zog Ben David eine Parallele zwischen der Zerstörung von Beit Hanun und der schrecklichen Rache, die Levi und Simeon, die Söhne des Patriarchen Jakob, an den Einwohnern von Sichem (heute Nablus) übten, nachdem der Sohn des Stadtvorstehers ihre Schwester Dina vergewaltigt hatte.

Laut dem Alten Testament machten die beiden Brüder alle Männer der Stadt mit dem Schwert nieder (Genesis 34), obwohl sie gelobt hatten, deren Leben zu verschonen. Dazu kommentierte der Offizier: „Simeon und Levi hatten verstanden, dass Ehre im Nahen Osten über alles geht. Sie taten in Sichem das, was wir in Beit Hanun getan haben.“ Aber die Aufgabe sei noch nicht vollendet: „Ganz Gaza muss das Schicksal von Beit Hanun erleiden. Mit Gottes Hilfe werde es „Sichem und jeder Stadt, die sich gegen Israel erhebt, wie Beit Hanun ergehen“.

Ben David ließ jedoch das Ende der Geschichte weg. Laut Bibel verfluchte Jakob auf seinem Sterbebett den Zorn, der seine beiden Söhne ergriffen hatte, und stellte klar: „Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören“ (Genesis 49:6).

Ein Teil der Öffentlichkeit befürchtete, das Video könne den Vorwurf der „Anstiftung zum Völkermord“ untermauern und das internationale Ansehen Israels noch weiter beschädigen. Die Empörung galt aber auch dem Inhalt des Videos. So hieß es in einem Kommentar in der großen Tageszeitung Jediot Acharonot: „Mordet, plündert, zerstört: In dieser Weise wird den Soldaten die Bibel und die jüdische Tradition eingetrichtert. Sie werden sowohl über den Auftrag der Armee als auch über die biblischen Erzählungen belogen“ (22. Dezember 2023).

Die Ultranationalisten machen keinen Unterschied zwischen der Hamas und der palästinensischen Bevölkerung, die beschuldigt wird, die Islamisten zu unterstützen. Und diese todbringende Vermischung erfolgt im Namen einer angeblich moralischen Vision, wie sie zum Beispiel der Rabbiner Oury Cherki verkündet: „Krieg ist kein Prozess. Man tötet einen Feind nicht, weil er schuldig ist, und man verschont ihn nicht, weil er unschuldig ist. Es geht um die Konfrontation eines Kollektivs gegen ein anderes, einer Nation gegen die andere“, erklärte der charismatische, aus Algerien stammende Rabbiner.

Dabei darf die Parallele zu den Nazis nicht fehlen. Wie diese seien die Palästinenser in Gaza auf die Vernichtung des Volkes Israel aus, stellten sich also auf „die Seite des Bösen“. Damit haben sie, verkündet Cherki, das Recht auf Zugehörigkeit zur „Völkergemeinschaft“ verloren. Deshalb sei das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza „vollkommen ethisch“ – die Forderung, Zivilisten um jeden Preis zu schonen, dagegen unethisch.3

Am 28. Januar startete die extreme Rechte in Jerusalem eine Kampagne für die Wiederaufnahme des Siedlungsbaus im Gazastreifen und für einen „Bevölkerungstransfer“ nach Ägypten oder in irgendein anderes Land. Gefordert wird also nichts anderes als Massenvertreibung und ethnische Säuberung. Damit sind die sprachlichen Tabus, die zu Kriegsbeginn noch galten, endgültig eingerissen.

Die Eroberung Kanaans als Vorbild

Netanjahus Koalitionspartner sind die ultraorthodoxen Gruppen, die 12 Prozent der jüdischen Bevölkerung Is­raels hinter sich haben, die sephardisch geprägte Schas-Partei und die aschkenasische Partei Vereinigtes Thora-Judentum. Sie haben kein Interesse am Wiederaufbau von Siedlungen in Gaza, deren Aufgabe sie 2005 stillschweigend akzeptiert hatten. Ihre Rabbiner misstrauen den messianischen Tendenzen der Ultranationalisten. Sie verurteilen sie aber auch nicht offen, weil die ex­treme Rechte auch in ihren Gemeinden immer mehr an Boden gewinnt.

Mehrere Umfragen deuten darauf hin, dass die derzeitige Koalition im Falle einer vorgezogenen Parlamentswahl nicht weiter bestehen könnte. Deshalb will Netanjahu, der stark an Popularität verloren hat, Neuwahlen um jeden Preis verhindern. Die Kräfte am äußersten rechten Rand würden derzeit nur etwa 15 von 120 Sitzen in der Knesset erringen. Sie würden einer künftigen Regierung nicht mehr angehören, die zwar weiterhin eine Koali­tion der Rechten wäre, aber doch weniger radikal als die aktuelle Regierung.

Gleichwohl findet das Gedankengut der israelischen Rechtsextremisten verstärkte Resonanz in einer Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten an die „Entmenschlichung“ der Palästinenser gewöhnt, wie Yagil Levy schreibt.4

Vor diesem Hintergrund interpretiert der Soziologe auch die religiöse Dimen­sion des Gazakriegs. Sie soll zum einen den Durst nach Vergeltung legitimieren, zum anderen die Mission der Soldaten mit einem „höheren Sinn“ versehen. Der „Rachediskurs“, so Levy, „hat seit Kriegsausbruch in der Armee die Oberhand gewonnen“, zuvor sei er die Ausnahme gewesen.

Das hat verheerende Folgen für die militärischen Operationen, sagt der Soziologe. Er verweist darauf, dass die Militärführung zu Beginn der israelischen Offensive lediglich ein Plünderungsverbot für die Truppe ausgesprochen hat. Erst nach der irrtümlichen Tötung dreier israelischer Geiseln durch „friendly fire“ verfügte Generalstabschef Herzi Halevi am 16. Dezember 2023 ein „Verbot, auf Menschen zu schießen, die eine weiße Flagge schwenken und sich ergeben möchten“.

Und erst einen Monat nachdem Israel vom IGH angewiesen wurde, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um genozidale Akte zu verhindern, erließ der Generalstabschef die Anweisung, „keine unnötige Gewalt anzuwenden sowie zwischen Terroristen und Zivilisten zu unterscheiden“. Gleichzeitig verkündete er, die israelische Armee lasse sich, anders als die Hamas, von humanen Werten leiten und begehe keine Tötungen, keine Racheaktionen und keinen Völkermord.5

„Die instinktive Reaktion der Rache ist nicht hilfreich. Im Gegenteil – sie kann uns von innen heraus zerstören, selbst wenn wir auf dem Schlachtfeld gewinnen“, erklärte der Jerusalemer Rabbiner Daniel Epstein im Januar. In talmudischer Tradition warnte der Philosoph vor messianischem Fieber und den daraus resultierenden Verirrungen. Es gebe keinen „einfachen Ausweg, der uns die harten Wahrheiten und die Fragen ersparen würde, die der 7. Oktober aufgeworfen hat. Diese Tragödie macht uns nach wie vor fassungslos.“

1 Siehe Anne-Cécile Robert, „Südafrika klagt an“, LMd, Februar 2024.

2 Zitiert nach René Backmann, „L’armée israélienne en danger de ‚théocratisation‘?“, in: Confluences Méditerranée, Nr. 122, Paris 2022.

3 Interview mit Oury Cherki, „Analyse Profonde de la Crise Israël-Gaza“, Mosaïque, 26. Oktober 2023.

4 Yagil Levy, „Die Entstehung des Rachediskurses“ (auf Hebräisch), telem.berl.org.il, 20. Dezember 2023.

5 Tagesbefehl Nr. 4 vom 20. Februar 2024.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Marius Schattner ist Journalist.

Gesichter Amaleks

Im jüdischen Kontext hat der Begriff „Amalek“ eine unheilvolle Konnotation. Er steht für den archetypischen Feind Israels, den es zu vernichten gilt, der aber immer wieder von Neuem ersteht. Amalek war ursprünglich die Bezeichnung für das Volk der Amalekiter, gewann im Laufe der Jahrhunderte aber eine symbolische Bedeutung, die letztlich alles Böse dieser Erde meint.

Die Hebräische Bibel erzählt, wie die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten im Sinai von diesem nach Amalek benannten Volk überfallen werden. Daraufhin gebietet Gott den Israeliten, diese Amalekiter gnadenlos zu bekämpfen, weil sie sich mit ihrem heimtückischen Angriff „gegen seinen Thron“ erhoben haben. Zudem soll sein Volk die Erinnerung an Amalek so lange bewahren, bis diese durch die Eroberung des Gelobten Landes ausgelöscht wird (Exodus 17:14, Deuteronomium 25:19).

Von allen biblischen Flüchen ist dies der unerbittlichste. Und er mündet in den ausdrücklichen Befehl Gottes an König Saul, einen Vernichtungskrieg (Samuel 15:18) zu führen: „So zieh nun hin und schlag Amalek. Und vollstrecke den Bann an allem, was es hat; verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“ (Samuel 15:3). Saul tut wie geheißen, doch er verschont Agag, den König der Amalekiter. Das wird ihm nicht verziehen.

Amalek kommt auch im Buch Ester vor, in dem Haman, ein Nachkomme Agags, die Vernichtung der Juden im persischen Reich plant. Esters Fürsprache bei ihrem Mann, dem Perserkönig Ahasveros, verhindert das Massaker. Beim Purimfest, das diese wundersame Rettung feiert, werden in der Synagoge die gegen Amalek gerichteten Passagen aus der Thora vorgelesen.

Doch hat es Amalek tatsächlich gegeben? Die Bibel ist der einzige Text, der diesen Erbfeind des jüdischen Volkes erwähnt. Seine Existenz ist weder durch die historische Forschung noch durch archäologische Ausgrabungen belegt. Ob Mythos oder historische Figur: Amalek hat seit jeher eine eminente religiöse Bedeutung.

Die Weisen des Talmuds haben die Schriften in weniger gewalttätigem Sinne interpretiert. Sie hielten es für unmöglich, diesen gefährlichen Gegner in dem Völkergemisch zu identifizieren, das nach der Zerstörung des Königreichs Israel im 8. vorchristlichen Jahrhundert entstanden ist. In dieser Sicht beinhaltet das Gebot (Mizwa) „Gedenke, was Amalek dir angetan hat“ keinesfalls mehr einen realen Vernichtungsauftrag.

Einige rabbinische Quellen sehen Amalek an der Unterdrückung jüdischer Aufstände durch das Römische Reich beteiligt. Andere bezogen den Begriff auch auf das Christentum. Im 20. Jahrhundert schließlich wurde der Natio­nalsozialismus als ein neues Amalek interpretiert.

Für führende jüdische Gelehrte des 19. Jahrhunderts stand Amalek für den Kult der Stärke, also die „Verherrlichung des Schwertes“, die nach dem Willen Gottes zu überwinden sei. Das lehrte zum Beispiel der deutsche Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) – eine wichtige Figur der neuen Orthodoxie, die sich den jüdischen Traditionen und den Ideen der Aufklärung gleichermaßen verpflichtet fühlte.

Eine solche Interpretation des Begriffs liegt Benjamin Netanjahu erkennbar fern. Er hält vielmehr an Einstellungen fest, vor denen der Wissenschaftler Emmanuel Bloch bereits 2015 gewarnt hat: „Wenn wir, wie die Generationen vor uns, Wege aus der Falle religiös motivierter Gewalt finden wollen, müssen wir uns immer wieder an die Leitplanken halten, die unsere Tradition im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat.“⇥M. S.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Marius Schattner