11.04.2024

Stellantis Superstar

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Stellantis Superstar

Konzernchef Tavares machte den Autokonzern zum profitabelsten weltweit – mit enormen sozialen Kosten

von Alexis Moreau

Stellantis-CEO Carlos Tavares beim Monaco ePrix 2022 GERMAIN HAZARD/picture alliance/DPPI media
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Die BFM Awards sind die wichtigsten Preise der französischen Wirtschaftsmedien. Sie werden standesgemäß alljährlich im Théâtre des Champs-Élysées verliehen, einem Art-déco-Palast im vornehmen 8. Arron­disse­ment von Paris. Ausgezeichnet werden Manager und Unternehmen, die, so der Veranstalter, der Nachrichtensender BFM, „für das Beste der französischen Wirtschaft stehen“. Am 7. November 2019 ging der Preis für den „Manager des Jahres“ an Carlos Tavares, der damals Vorstandsvorsitzender des Automobilkonzerns PSA war.

„Ich fühle mich natürlich geehrt, hier bei Ihnen zu sein, aber ich bin auch beschämt“, sagte Tavares in seiner Dankesrede vor den 2000 Gästen im Théâtre des Champs-Élysées. Beschämt, „weil diejenigen, die hier sein sollten, um diesen Preis entgegenzunehmen, die Mitarbeiter der PSA-Gruppe sind“. Und lobte in höchsten Tönen „ihre Hingabe an das Unternehmen“, die beispielhaft sei. Und ein Lob für die Gewerkschaften, höchst ungewöhnlich aus seinem Mund, hatte er auch übrig.

Die Wirtschaftspresse in Frankreich liebt Tavares. Für sie gilt er als Retter maroder Unternehmen, als jemand, der „die Zukunft gestaltet“ (Les Échos, 1. November 2019), der „Samurai der Industrie“ (Le Monde, 15. Februar 2023), ein „Phänomen“ (Chal­lenges, 22. Februar 2023). An jenem Tag im November 2019 übernahm der Chef von BFM, Alain Weill, höchstselbst die Laudatio auf Tavares: „Große Unternehmer – Bill Gates, Steve Jobs, Jean-Claude Decaux in Frankreich – haben ihre Welt und ihr Universum verändert. Auch Sie sind ein großartiges Beispiel dafür, wie wichtig Unternehmer sind!“

Der 1958 in Portugal geborene polyglotte Ingenieur Tavares übernahm im März 2014 die Leitung von PSA Peugeot Citroën. Der Konzern, der ab 2016 nur noch als PSA firmierte, fusionierte 2021 mit Fiat Chrysler Automobiles und heißt seither Stellantis. Das neue Unternehmen ist ein Imperium mit rund 15 Marken, darunter Peugeot, ­Fiat, Jeep, Alfa Romeo und Opel. Heute ist Stellantis der profitabelste Autohersteller der Welt. Seine Gewinnspanne von fast 13 Prozent ist annähernd doppelt so hoch wie beim Konkurrenten Volkswagen. Im Jahr 2023 konnte der Konzern seinen Gewinn um 11 Prozent steigern.

Allerdings lassen sich die blühenden Geschäfte von Stellantis nicht allein durch die Managementkünste des „Samurai“ erklären. Der Konzern profitierte in jüngerer Zeit genau wie seine Konkurrenten von einer Reihe günstiger Umstände: Erstens waren die Hersteller vor den schlimmen Auswirkungen des wirtschaftlichen Stillstands während der Coronapandemie geschützt, denn sie wurden großzügig mit öffentlichen Geldern in Form von garantierten Krediten und Kurzarbeiterregelungen bedacht.

Zweitens war die Knappheit an Halbleitern aus Asien, die einen Teil der Wirtschaft gegen Ende der Pandemie lähmte, für die Automobilriesen sogar von Vorteil. Ihre Produktion wurde dadurch zwar erheblich verlangsamt, aber sie nutzten das reduzierte Angebot an Fahrzeugen einfach für eine Erhöhung der Verkaufspreise, ohne Angst vor der Konkurrenz haben zu müssen, da alle Autohersteller im selben Boot saßen.

Zudem konzentrierten die Autoriesen ihre Produktion auf die teuersten Fahrzeuge. Dadurch verdoppelte sich die Gewinnmarge von Stellantis 2021 gegenüber dem Vorjahr auf 18 Mil­liar­den Euro. Davon entfielen 8,5 Mil­liar­den auf höhere Verkaufspreise und 3,3 Mil­liar­den auf den größeren Anteil an Pkws mit höherer Marge.1 Die meisten Autohersteller konnten auf diese Weise ihren Kopf aus der Schlinge ziehen – zum Nachteil der Verbraucher. Und Stellantis ist dabei noch erfolgreicher gewesen als die Konkurrenz.

Aber es gibt auch eine Kehrseite des Tavares zugeschriebenen Erfolgs, von der die meisten Medien offenbar nichts wissen wollen. Wenn es Kritik gibt, dann höchstens wegen seiner astronomischen Vergütung: Der Mann verdient bis zu 23,5 Millionen Euro im Jahr (je nach Höhe des erfolgsabhängigen Anteils), was ihn zum bestbezahlten Konzernchef Frankreichs macht. Solche Beträge sorgen regelmäßig für Kontroversen auf den Hauptversammlungen.

Krafttraining um  5 Uhr morgens

Diese Sorte Kritik, so berechtigt sie auch ist, lässt jedoch die sozialen Kosten dieses Reichtums völlig unberücksichtigt. Um die Rentabilität des Konzerns zu steigern – und damit auch seine eigenen erfolgsabhängigen Bezüge –, verordnete Tavares dem Unternehmen eine Schocktherapie, die auf drei Grundsätzen basiert: erstens die Senkung der Fixkosten, um schneller die Rentabilitätsschwelle zu erreichen, zweitens den internationalen Wettbewerb um niedrige Arbeitslöhne und drittens die Drohung mit dem Abbau von Arbeitsplätzen, um staatliche Subventionen in der ganzen Welt abzugreifen. Stellantis ist beileibe nicht der einzige Automobilkonzern, der diese Strategie umsetzt, aber Tavares legt dabei einen beispiellosen Eifer an den Tag.

Aus den Jahresberichten des Konzerns geht hervor, dass in nur zwei Jahren mehr als 26 500 Arbeitsplätze gestrichen wurden und die Gesamtzahl der Beschäftigten bis Ende 2022 auf etwa 270 000 sank. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Beschäftigten bei Konkurrenten wie Toyota oder Volkswagen hingegen gestiegen. Nun hängt ein Teil von Tavares’ Vergütung direkt von den durch Fusionen und Übernahmen erzielten „Synergien“ – oder Einsparungen – ab. 2022 brachte ihm das Erreichen dieser Ziele rund 2,2 Millionen Euro ein.2

„Alle großen Hersteller haben ihre Verkaufspreise erhöht, aber nur wenige von ihnen haben ihre Belegschaft in so schwindelerregendem Tempo abgebaut“, sagt Jean-Pierre Mercier vom Gewerkschaftsverband SUD (Solidaires, Unitaires, Démocratiques). Außerdem sei der Konzern dank seiner Größe in einer starken Position. „Niemand kann es sich leisten, nein zu Stellantis zu sagen. Der Konzern entscheidet über Leben und Tod seiner Subunternehmer und Zulieferer.“ Von denen beschweren sich manche offen über den Kostendruck, den der Konzern an sie weitergibt und der ihr Überleben gefährdet.3

Die Verkleinerung der Belegschaft und die Intensivierung der Arbeit erhöht zudem die Belastung der Beschäftigten bei Stellantis. Tavares treibt dabei eine seit Jahren laufende Entwicklung auf die Spitze: „Die Ruhezeiten wurden auf ein Minimum reduziert“, erklärt Mercier. „Das Gleiche gilt für die Wegzeiten. Wenn man früher am Fließband arbeitete, machte man zum Beispiel zwei Schritte, um einen Türgriff zu holen, drei für einen Fensterheber und so weiter.“

Heute würden alle nötigen Teile direkt um den Arbeiter herum arrangiert, um die solcherart „verlorene“ Zeit zu verringern. „Das Problem ist, dass diese Wegzeit immer auch eine Erholungszeit war, in der man ein paar Worte mit den Kollegen wechseln konnte. Durch die Intensivierung der Arbeit haben wir das zerstört.“

Topmanager sind typischerweise auf die Pflege ihres Images bedacht. Bernard Arnault, Vorstandschef des Luxusgüterkonzerns LVMH und Liebhaber klassischer Musik, lässt keine Gelegenheit aus, vor begeisterten Jour­na­lis­t:in­nen ein paar Takte auf dem Klavier zu spielen. François Pinault, Eigentümer diverser Handels- und Modeketten, ist ein großer Kunstsammler und lässt sich gern vor seinen Gemälden fotografieren.

Der Chef von Stellantis pflegt hingegen das asketische Image eines Mönchs und Soldaten der Wettbewerbsfähigkeit. Seine Leistungsbesessenheit bestimmt alle Facetten seines Lebens. Ob er nun um 5 Uhr morgens sein tägliches Krafttraining absolviert oder bei der Rallye Monte Carlo einen Rennwagen steuert, er verkörpert stets eine Kultur des Gewinnens.

Tavares hat sie zu seinem Markenzeichen gemacht. „Wir bei PSA sind zu Leistungsfanatikern geworden“, sagte er einmal.4 Seine ökonomischen Überzeugungen beschrieb er so: „Bis 2030 werden wir eine extrem chaotische Zeit voller Risiken und Chancen erleben, ein darwinistisches Zeitalter. Um in diesem Umfeld zu überleben, müssen wir in der Lage sein, uns zu verändern, und die Angst vor Veränderungen ablegen.“

Hinter dem Verweis auf Charles Darwin verbirgt sich eine kaum verhüllte Drohung: Diejenigen im Konzern, die ihre „Angst vor Veränderung“ nicht überwinden, könnten auf der Strecke bleiben. „Von seinen engsten Mitarbeitern fordert Tavares ein Höllentempo“, erzählt ein Kenner des Konzerns. „Ein Großteil der Leute um ihn herum ist gegangen, aus Angst, dass ihre Ehe den Druck nicht übersteht, darunter auch der Finanzvorstand. Im Alltag duldet Carlos Tavares keine Kritik. Jede Infragestellung seiner Sicht der Dinge kann zu einem Rauswurf führen.“

Darwinistische Managementstrategie

Das „darwinistische“ Management des Vorstandschefs hat auch eine stärkere Konkurrenz zwischen den einzelnen Standorten zur Folge. Sie müssen sich an den niedrigsten Sozialstandards orien­tieren, da ihnen sonst Aufträge entzogen werden.

„Mit der zunehmenden Nutzung gemeinsamer Plattformen (die Grundstruktur eines Fahrzeugs) ist es sehr einfach geworden, die Produktion der verschiedenen Modelle von einem Standort zum anderen zu verlagern“, sagt Benoît Vernier von der Gewerkschaft CFDT. „Die Beschäftigten wissen, dass sie in Konkurrenz zueinander stehen, nach der unausgesprochenen Logik: ‚Heute seid ihr in der Lage, dieses Modell zu diesem Preis produzieren, aber vergesst nie, dass 500 Kilometer von hier entfernt ein anderes Werk des Konzerns es billiger machen könnte.‘ “

Ab 2035 ist der Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotoren in der Europäischen Union verboten. Die französische Regierung hatte gehofft, dass der Übergang zu Elektroautos dazu führen würde, dass die Hersteller wenigstens einen Teil ihrer ins Ausland verlagerten Produktion wieder zurückholen. Zumindest im Fall von Stellantis sieht es damit aber schlecht aus. Die einzigen Elek­tro­fahrzeuge, die der Konzern in Frankreich bauen lässt, sind der DS3 Crossback und der Opel Mokka, die in der Regel über 40 000 Euro kosten und von denen nur ein paar tausend Stück verkauft werden.

Kleinere Modelle wie der Peugeot 208 werden in Spanien hergestellt, wo die Löhne fast 30 Prozent unter dem französischen Durchschnitt liegen. „Ein Elektroauto für weniger als 20 000 Euro, das in den nächsten drei bis fünf Jahren in Frankreich produziert wird, daran glaube ich nicht“, so Tavares.5

Bei Stellantis gebe es zwei Hauptfaktoren, die bestimmen, welches Modell an welchen Standort vergeben wird, meint der Ökonom und Automobilexperte Bernard Jullien: „Wie viel Flexibilität der Arbeitszeiten (je nach Auftragslage) die Gewerkschaften mitmachen; und die Höhe der staatlichen Beihilfen.“

Den konzerninternen Wettbewerb hat der Stellantis-Chef längst international ausgeweitet: Als die britische Regierung im Januar 2021 verkündete, ab 2030 keine Verbrenner mehr zuzulassen, drohte Tavares mit der Schließung des Werks in Ellesmere Port im Nordwesten Englands. 1100 Beschäftigte mussten um ihren Job bangen. Nach monatelangem Tauziehen willigte der Konzern ein, den Standort mit Investitionen in Höhe von 100 Millionen Pfund (111 Millionen Euro) zu sichern – aber erst, nachdem die Regierung ihrerseits 30 Millionen Pfund zugesagt hatte.

Auch die Errichtung riesiger Batteriefabriken (Gigafactories) auf euro­päi­schem Boden, die die Industrie unabhängiger vom Weltmarkt machen soll, hat einen erbitterten Wettbewerb zwischen den Staaten ausgelöst. Stellantis eröffnete seine erste Akkufabrik im Mai 2023 im französischen Douvrin. Weitere Anlagen entstehen in Kaiserslautern und im süditalienischen Termoli. Eine vierte Fabrik plant Stellantis im spanischen Saragossa, aber nur wenn die spanische Regierung dafür Geld lockermacht: 200 Millionen Euro an staatlichen Zuschüssen fordert Tavares.

„Die Botschaft, die der Stellantis-Chef an jede Regierung sendet, ist sehr einfach“, analysiert Jullien. „Man könnte sie wie folgt zusammenfassen: ‚Sie haben zugelassen, dass die EU uns eine Elektrifizierung aufzwingt, die wir nicht wollten, und daher haben wir nun Anspruch auf finanzielle Entschädigung. Wenn Sie uns diese nicht gewähren, werden es andere tun, anderswo in Europa.‘ “ Im „darwinistischen“ Zeitalter ist der Konzernchef also bereit, Risiken einzugehen – aber nur, wenn die Staaten sie absichern.

1 „Auto: marges records pour les constructeurs en 2021!“, Syndex.fr, 27. Juni 2022.

2 Eigene Schätzung anhand des Jahresberichts 2022 von Stellantis, Seite 179: 30 Prozent des als kurzfristig bezeichneten variablen Anteils hängen von Synergieeffekten ab.

3 „Les sous-traitants de la filière automobile au bord du gouffre économique“, letrois.info, 31. März 2022.

4 „Carlos Tavares:,Chez PSA, nous sommes devenus des psychopathes de la performance’“, Le Monde, 28. September 2018.

5 Julien Bonnet, „Stellantis promet six nouvelles voi­tures électriques made in France mais pas encore abordables“, BFM Business, 17. Oktober 2022.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Alexis Moreau ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Alexis Moreau