11.04.2024

Russische Obsession

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Russische Obsession

Moskau hat nie akzeptiert, dass die Nato-Osterweiterung keine Bedrohung seiner Sicherheit darstellt

von Hélène Richard

Zwei Jahre Krieg: von der Leyen zu Besuch in Kyjiw, 24. Februar 2024 BENOIT DOPPAGNE/picture alliance/dpa/Belga
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Der Krieg läuft nicht gut für die Ukraine und ihre Verbündeten. Obwohl das Land bis Februar 2024 Militär- und Wirtschaftshilfe in Höhe von 160 Milliarden Euro erhalten hat,1 ist die ukrainische Armee in großen Schwierigkeiten. Nach ihrer gescheiterten Gegenoffensive vom Sommer 2023 musste sie die Stadt Awdijiwka im Donbass aufgeben; seitdem erzielen die russischen Truppen weitere Geländegewinne.

Die technologische Überlegenheit der westlichen Waffen kommt nicht entscheidend zur Geltung, denn es fehlt an Munition: Die US-Militärhilfe wird im Kongress blockiert, womöglich auf Dauer. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump tönt, er könne den Konflikt „innerhalb von 24 Stunden“ beilegen, und droht, der Ukraine – laut Viktor Orbán – im Falle seiner Wahl „keinen einzigen Penny“ mehr zu geben.

Dementsprechend sieht es in Sachen „Feuerkraft“ für die Ukraine schlecht aus. Schätzungen zufolge kommen auf jede abgefeuerte ukrainische Granate fünf bis zehn russische Geschosse.2 Das demografische Gefälle macht sich ebenfalls bemerkbar. Am 1. November 2023 äußerte der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Waleri Saluschnyj, in einem Interview mit dem Economist die Sorge, sein Land könne irgendwann „einfach nicht mehr genug Leute haben, die kämpfen können“.

Diese schwierige Lage hätte Europa zum Überdenken seiner Strategie bewegen können. Doch Ende Februar nahm der französische Präsident Emma­nuel Macron die schlechten Nachrichten von der ukrainischen Front und aus Washington zum Anlass, die Diskussion auf eine neue Ebene zu heben: Am 26. Februar sprach er erstmals von der Möglichkeit, „Bodentruppen“ zu entsenden.

Mehrere EU-Amtskollegen reagierten empört. In der Tat beschwor Ma­cron eine Konstellation, die es seit den Anfängen des Atomzeitalters noch nie gegeben hat. In Vietnam kämpften die US-Soldaten mit einem Gegner, der von der Sowjetunion mit Waffen beliefert wurde; in Afghanistan kämpften die sowjetischen Truppen gegen die von Washington unterstützten Taliban. Doch eine direkte Konfrontation zwischen den Armeen zweier Atommächte gab es noch nie – auch nicht auf dem Territorium eines dritten Landes.

Die bellizistische Rhetorik zeugt von wachsender Nervosität. Die durch den Bumerang-Effekt ihrer Russland-Sanktionen bereits geschwächten Europäer fühlen sich verpflichtet, die US-Militärhilfe zu kompensieren.

Das Gerede von der sicheren Niederlage des Gegners zieht nicht mehr. Heute kann man einer erschöpften Öffentlichkeit nicht mehr so leicht vermitteln, dass das Engagement immer weitergehen muss. In der aktuellen Argumentation ist Russland nicht mehr ein Land, dessen Armee in den ukrainischen Sümpfen feststeckt. Heute muss Macron eine „existenzielle Bedrohung“ beschwören und behaupten, der „unaufhaltsame“ Expansionsdrang Russlands stelle eine direkte Bedrohung französischer Interessen dar.3

Stalins Vorschlag zur deutschen Wiedervereinigung

Wie zu Zeiten des Kalten Kriegs wird behauptet, Russland wolle dem übrigen Europa seine Staatsform aufzwingen, und dazu rekrutiere es sogar Verbündete im Westen. Das Motiv des „inneren Feinds“ strapazierte auch Frankreichs Regierungschef Gabriel Attal am 26. Februar vor der Nationalversammlung, als er so weit ging, die Abgeordneten des Rassemblement National mit Besatzungstruppen zu vergleichen.

Die russische Bedrohung wird bewusst übertrieben. Der französische Außenminister Stéphane Séjourné zog die Parallele zu Nazideutschland und zur Annexion des Sudetenlands im September 1938, die Hitler mit dem Schutz der dort lebenden deutschen Minderheit begründete.4 Diese Parallele wird in der öffentlichen Debatte immer wieder gezogen. Dabei strebt Russland keineswegs einen „Lebensraum im Westen“ an; vielmehr hat der russische Expansionsdrang sich historisch immer dann geregt, wenn man die eigene Sicherheit als bedroht empfand.5

Das war aus Moskauer Sicht auch nach 1945 der Fall. Eingedenk der 26 Millionen russischen Toten des Zweiten Weltkriegs vertraute die Sowjet­union auf ein dreifaches „Glacis“ gegen eine erneute Aggression aus dem Westen. Sie besetzte halb Deutschland, installierte kommunistische Regime auf den Bajonetten der Roten Armee und erzwang die Sowjetisierung von Staaten wie Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und der drei baltischen Länder.

Moskaus größte Sorge war damals das Wiedererstehen einer deutschen Militärmacht. Nach dem Krieg entwickelte der Kreml eine Doktrin, die den Rückzug seiner Truppen von Sicherheitsgarantien abhängig machte. Die 1952 von Stalin übermittelte „Note“ offerierte eine Wiedervereinigung Deutschlands unter drei Bedingungen: Erstens sollten keine ausländischen Truppen auf deutschem Gebiet bleiben; zweitens durfte Deutschland keinem militärischen Bündnis angehören, und drittens musste es für immer auf Atomwaffen verzichten.6

Die Westmächte lehnten Stalins Angebot ab, weil sie die Anfälligkeit eines neutralen Deutschland für sowjetische Einflüsse fürchteten. Als die Bundesrepublik dann im Mai 1955 der Nato beitrat, war dies für Moskau der Beweis dafür, dass die Westmächte die Wiederbewaffnung Deutschlands wollten, um im Kalten Krieg die Oberhand zu gewinnen.

Die Weigerung der BRD, die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Deutschland und Polen anzuerkennen, bestätigte die sowjetischen Befürchtungen und bestärkte Moskau in seinem Entschluss, an dem „Glacis“ und den „Realitäten von 1945“ festzuhalten.

Damit war der territoriale Status quo der Nachkriegszeit auf Dauer eingefroren. 30 Jahre später war der letzte sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow – auch angesichts massiver wirtschaftlicher Probleme – zu einem bedeutenden strategischen Rückzug bereit. Er akzeptierte die Wiedervereinigung Deutschlands und den Nato-Beitritt des vereinigten Landes gegen die mündliche Zusage, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine ausländischen Truppen stationiert werden.7

Die in rasantem Tempo vollzogene Lösung der „deutschen Frage“ beschleunigte die Auflösung des Warschauer Pakts, auf die der Zerfall der Sowjetunion folgte. Damit büßte Moskau binnen drei Jahren sein „Glacis“ ein und „verlor“ 17 Prozent des eigenen Staatsgebiets. Die konservative russische Elite und besonders das Militär mussten verbittert mitansehen, dass auf einmal 25 Millionen (ethnische) Russen außerhalb der Grenzen der neuen Russischen Föderation lebten.

Die liberalen Kräfte, die mit Boris Jelzin in den Kreml einzogen, glaubten damals an eine echte Partnerschaft mit dem Westen und hofften, man werde Russland gleichberechtigt in den Kreis der europäischen Nationen aufnehmen. Was danach kam, ist bekannt: Das atlantische Bündnis blieb bestehen und expandierte bis an die russische Grenze.

In Moskau hat man den Gedanken, die Erweiterung der Nato würde nicht zwangsläufig die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigen, niemals akzeptiert.5 Daran änderten auch die vom Westen angebotenen Trostpreise nichts: die Aufnahme in die G7 (1997) und die Gründung eines Nato-Russland-Rats (2002).

In Paris und Berlin versuchte man lange Zeit, die Pläne Washingtons zur Einhegung Russlands zu entschärfen. Die französische Diplomatie war an der Formulierung der berühmten Nato-Russland-Grundakte beteiligt, die im Mai 1997 in Paris unterzeichnet wurde. Sie enthielt die Vereinbarung, auf dem Gebiet der neuen Nato-Mitglieder keine Atomwaffen zu stationieren und die dauerhafte Präsenz ausländischer Militärkontingente zu begrenzen.

Trotz solcher beschwichtigenden Signale nahmen die sicherheitspolitischen Spannungen an den Grenzen Europas weiter zu. Die Expansion des atlantischen Bündnisses in Richtung Polen und der baltischen Staaten beantwortete Russland mit Angriffen gegen andere Nachbarstaaten, die es als „präventive“ Militärinterventionen deklarierte: zuerst 2008 in Georgien und dann 2014 in der Ukraine.

In beiden Fällen waren die Europäer als Emissäre gefragt, die Schlimmeres verhindern sollten: Präsident Nicolas Sarkozy will in der Georgien-Krise Putin davon abgehalten haben, bis Tiflis zu marschieren. François Hollande und Angela Merkel waren die Paten des Minsker Abkommens vom Februar 2015, das nach der Annexion der Krim den russisch-ukrainischen Konflikt beilegen sollte.

Es ist zu vermuten, dass ein Großteil der Forderungen, die Moskau bis zum Angriff auf die Ukraine formuliert hatte, von den sowjetischen Vorschlägen zur deutschen Wiedervereinigung inspiriert war. Diese Forderungen lagen auch noch bei den Verhandlungen im März 2022 auf dem Tisch, die zunächst in Belarus und später in Istanbul stattfanden.

Dabei zeigte sich Kyjiw nach Aussagen des russischen Außenministers Lawrow bereit, „die Ukraine für neutral, blockfrei und atomwaffenfrei zu erklären“. Überwacht werden sollte die Neutralität des Landes durch die „Garantiemächte“ USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland, die allerdings nur gemeinsam tätig werden könnten.

Allerdings war der Abstand zwischen beiden Parteien damals noch sehr groß.8 Die Ukraine erwartete „automatische“ Sicherheitsgarantien der westlichen Garantiemächte; Russland wollte sich mit dem Status des „Garantiestaats“ durchschlagende Vetorechte sichern.

Als Anfang April 2022 die Massaker der russischen Armee in Butscha bekannt wurden, gingen die Gespräche dennoch weiter. Beendet wurden sie erst, als der Westen Kyjiw massive Waffenlieferungen zusicherte. Die Ukrai­ne verließ den Verhandlungstisch in der Gewissheit, bei der Rückkehr stärkere Karten zu haben.

Wie es heute aussieht, kann die Wette, die der Westen damit einging, zulasten sowohl der Ukrainer als auch der europäische Sicherheit ausgehen. Russland ist wie eine klassische Besatzungsmacht darauf aus, weitere ukrai­nische Territorien zu vereinnahmen. Doch damit gefährdet es seine eigene Sicherheit noch stärker, denn die Ukrai­ne bezieht weitere Militärhilfen und zugleich wird die russische Grenze zur Nato immer länger.

Mit der offiziellen Annexion ukrainischer Gebiete hat Moskau den Einsatz noch erhöht. Die Lage ist verfahrener denn je. Verhandlungen nach der Formel „Sicherheit“ gegen „Truppenrückzug“ sind kein Thema mehr. Heute strebt der Kreml die Kapitula­tion Kyjiws an, um der Ukraine neue territoriale Zugeständnisse zu diktieren.

Auf europäischer Seite haben die gemeinsam vereinbarten Investitionen den Willen zur Eskalation verstärkt und nicht die Bereitschaft zu Verhandlungen, wie man im Kreml gedacht hat. Paris und Berlin sind sich trotz ihrer Rivalität in dem Wunsch einig, wenn nötig für die ausfallende US-Unterstützung einzuspringen. Das demonstrieren sie mit der Unterzeichnung langfristiger bilateraler Sicherheitsabkommen wie auch mit den beschlossenen EU-Finanzhilfen für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro.

Die EU hat sich schon jetzt die Kosten für die Sanktionen und für die Stützung des ukrainischen Staatshaushalts aufgebürdet. Um auch noch die US-Militärhilfe für das Jahr 2024 vollständig zu ersetzen, müsste sie Umfang wie Tempo der Waffenlieferungen verdoppeln.

Die große Frage ist, ob diese kostspieligen Verpflichtungen gegenüber der europäischen Öffentlichkeit noch glaubwürdig zu vermitteln sind, falls Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnt – und schon 2025 versuchen könnte, die USA aus dem Ukrainekrieg auszuklinken.

Eine größere Kräfteverschiebung in diesem Krieg würde allerdings die Gefahr einer militärischen Ausweitung erhöhen. Falls die Ukraine den Krieg verliert, würden die Spannungen entlang der Grenze zwischen Russland und der Nato dramatisch zunehmen. Ein russisches Debakel wiederum würde das Risiko einer nuklearen Konfrontation erhöhen.9

1958 ging in Europa die Angst vor einem Atomkrieg um. Als die Katastrophe damals mit knapper Not abgewendet war, begann die erste Runde von Abrüstungsgesprächen. Vielleicht sollten wir uns heute wieder auf die Lehren des Kalten Kriegs besinnen.

1 „Ukraine Support Tracker: 15th release“, Erfassungs­zeitraum bis 15. Januar 2024, Kiel Institut für Weltwirtschaft.

2 Jack Watling, „Ukraine Must Prepare for a Hard Winter“, Royal United Service Institute, 19. Oktober 2023.

3 Rede des französischen Präsidenten am 5. März 2024 bei seinem Besuch in Prag.

4 La Tribune du dimanche, Paris, 10. März 2024.

5 Siehe Isabelle Facon, „La menace militaire russe: une évaluation“, in: Les Champs de mars, Nr. 29, Paris 2017.

6 Walter Schütze, „De la ‚note Staline‘ à la conférence ‚2 + 4‘. La réunification en perspective“, In: Politique étrangère, Nr. 1, Paris 1991.

7 Siehe Andreas Zumach, „Putins Krieg, Russlands Krise“, LMd, März 2022; sowie Tony Wood, „Russlands gefährliche Schwäche“, LMd, Mai 2017.

8 Der bislang detaillierteste Bericht über die Verhandlungen vom März 2022 erschien im Wall Street Journal. Siehe dazu: Olena Roshchina, „WSJ analyses Putin’s demands for peace from 2022: turn Ukraine into neutral state“, Ukrainska Pravda, 1. März 2024.

9 David E. Sanger, „Biden’s Armageddon Moment: When Nuclear Detonation Seemed Possible in Ukraine“, The New York Times, 9. März 2024.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Hélène Richard