Bauernfänger
Warum die extreme Rechte auf dem französischen Land offene Türen einrennt
von Philippe Baqué
Im Sommer 2023 geriet das beschauliche Dorf Montjoi (Region Midi-Pyrénées) durch ein Youtube-Video des rechtsextremen Influencers Ugo Gil Jimenez alias Papacito in die französischen Schlagzeilen. Auftraggeber des Videos war der Schweinezüchter Pierre-Guillaume Mercadal, der schon länger in einen Rechtsstreit mit Bürgermeister Christian Eurgal und einem Anwohner verwickelt war. In diesem Fall ging es um den Zufahrtsweg zu seinem Hof.
In Papacitos Videoclip machen schwerbewaffnete Vermummte Jagd auf einen als Marder Verkleideten, der Bürgermeister Eurgal darstellen soll. Der Marder wird gefangen, symbolisch vergewaltigt und anschließend hingerichtet. Binnen weniger Tage wurde das Video 500 000-mal aufgerufen. Bald musste Eurgal nach mehreren Morddrohungen unter Polizeischutz gestellt werden.
Mercadal selbst war bis dahin nicht als rechtsextremer Aktivist aufgefallen. Im Gegenteil: Er war in der linksalternativen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne Sprecher des Départements.
„Ich verlange nichts weiter, als dass man mich meinen Beruf ausüben lässt, und dafür brauche ich eine angemessene Zufahrt zu meinem Betrieb.“ Pierre-Guillaume Mercadal steht vor den Quadersteinen, die den Weg zu seinem Hof versperren. Seit 2017 züchtet der ehemalige Wachmann auf einem 30 Hektar großen Grundstück Biowollschweine. Die Probleme begannen, als sein reicher Nachbar aus England mit Rückendeckung des Bürgermeisters den gemeindeeigenen Zufahrtsweg sperren ließ, weil der sein Grundstück kreuzte. Die Gemeinde bot Mercadal einen alternativen Weg an. Doch der eigne sich nicht für Lkws und Landmaschinen, sagt der Schweinezüchter.
Nach der Sperrung begann ein zermürbender Kleinkrieg aus Drohungen, Klagen und einem Gerichtsprozess. Der Züchter wurde von der Confédération paysanne und der Umweltorganisation France Nature Environnement unterstützt. Am Ende entschied die Gemeindeverwaltung, den Weg zugunsten des Briten zu privatisieren. Mercadal sieht sich als Opfer eines feudalen Systems. „Papacito hatte ich über christliche Netzwerke kennengelernt. Ihn einzuschalten, war meine letzte Chance“, sagt er.
„Pierre-Guillaume Mercadal ist nicht mehr Sprecher der Confédération paysanne, aber nach wie vor Mitglied“, erklärt Nils Passedat, Landwirt, Gewerkschaftsmitglied und Bürgermeister von Lavaurette. Die 200-Seelen-Gemeinde liegt in dem gleichen Département (Tarn-et-Garonne) wie Montjoi. Er verurteile das „ekelhafte Video von Papacito“, aber als Landwirt unterstütze er Mercadal: „Der Bürgermeister von Montjoi hätte sich darum kümmern müssen, ihm den Zufahrtsweg zu sichern.“
Auch Hélène Massip, Mercadals Nachfolgerin in der Bauerngewerkschaft, reagiert verständnisvoll: „Das kann passieren, wenn jemand so verzweifelt ist, dass er nichts mehr zu verlieren hat.“ Laut Massip ist „die erdrückende, unmenschliche Bürokratie“ für den Vormarsch der extremen Rechten auf dem Land verantwortlich.
Mit ähnlichen Mitteln wie Papacito inszenieren die Influencer von „Virilosphère“ auf Youtube das ländliche Frankreich als Gegenentwurf zu den „von Feminismus, Antirassismus und Multikulturalismus verseuchten Städten“ – als eine Welt, die für intakte Traditionen, patriotische Werte und Verwurzelung steht. So ließ sich der Ex-Landesmeister im Bankdrücken, Baptiste Marchais, Anhänger des Rechtsaußen Eric Zemmour, dabei filmen, wie er riesige blutige Rinderkoteletts vertilgt und Loblieder auf das unverfälschte Landleben anstimmt. Das Video bekam 1,4 Millionen Klicks.
Durch den Einfluss von Alain de Benoist1 , dem theoretischen Kopf der französischen Neuen Rechten, spiele die Ruralität seit den 1980er Jahren eine wichtige Rolle in der identitären Bewegung, erklärt Stéphane François, Politikwissenschaftler an der Universität Mons (Belgien): „Sie sieht darin die Verkörperung des ewigen Frankreich. Der tief in der Heimat verwurzelte Bauer widersetzt sich der Globalisierung.“
Im September 2012 formierte sich die „Génération identitaire“, die auf dem Land „identitäre Verteidigungslinien“ aufbauen wollte (2021 wurde sie verboten). Anfang der 2010er Jahre entstand auch die Gruppe „La Desouchière“ – der Name ist dem Begriff „Urfranzose“ (Français de souche) entlehnt, die sich im Dorf Mouron-sur-Yonne (91 Einwohner:innen) niederließ. Und eine Gruppe von Sängerinnen namens Les Brigandes lebt sektenartig im etwas größeren La Salvetat-sur-Agout im Languedoc, wo sie ihre identitäre Propaganda betreibt.
Erdverbunden mit Pestiziden
„Die identitären Gemeinschaften in Frankreich orientieren sich an amerikanischen White Supremacists oder der völkischen Bewegung im Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts“, sagt Stéphane François. „Es sind Aktivistinnen und Aktivisten, die für den biologischen und regionalen Anbau sind, aber vom Land keine Ahnung haben.“ Damit unterscheiden sie sich vom rechtsextremen Rassemblement National (RN), vormals Front national (FN), der seine Basis auf dem Land hat und für Intensivlandwirtschaft mit Pestiziden und Kunstdünger eintritt.
Das war nicht immer so. Jahrzehntelang hatte die Landbevölkerung eine der beiden konservativen Parteien rechts der Mitte gewählt und es war dem FN schwergefallen, außerhalb der Städte Fuß zu fassen. Heute ist es umgekehrt: Fast ein Drittel der Landwirte stimmte 2022 in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für Marine Le Pen oder Éric Zemmour.2
Bei den darauffolgenden Parlamentswahlen im Juni wurde der RN in fast zehntausend meist ländlichen Gemeinden stärkste Kraft und eroberte 89 Sitze im Parlament. Die Partei setzt auf Angst vor Zuwanderung und das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, sie stellt sich auf die Seite der kleinen Eigenheimbesitzer und stigmatisiert die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Den Konkurrenzkampf um Beschäftigung in den deindustrialisierten ländlichen Regionen weiß sie zu nutzen.
Es ist nur folgerichtig, dass sich der RN im Januar 2024 auf die Seite der protestierenden Bauern schlug und einige ihrer Forderungen übernahm – vor allem deren Widerstand gegen die „Umweltpolitik der Verbote“ (écologie punitive). Als Fürsprecherin der Bauern kann die Partei von der wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land profitieren, die in den politischen Debatten ein Dauerthema ist.
Anfang Februar 2023 bekam Fabien Le Coïdic, Viehzüchter in Adainville im Pariser Umland, Post von seinen Nachbarn. Sie störten sich an den Kühen, die Le Coïdic auf einem erst kürzlich erworbenen Grundstück weiden ließ. Schließlich seien sie doch gerade wegen der guten Luft aufs Land gezogen. „Die Wiederaufnahme der Rinderwirtschaft“, schrieben sie in ihrem Beschwerdebrief, sei dagegen ein „Rückfall in jene belastende und unangenehme Form von Ländlichkeit, für die hier kein Platz mehr ist. Diese Art von Viehzucht ist rückständig und brutal.“
Nachdem das Verwaltungsgericht Versailles ihre Klage abgewiesen hat, drohen die Nachbarn nun mit weiteren juristischen Schritten. Fabien Le Coïdic wird von dem jungen Rechtsanwalt Timothée Dufour vertreten. Der meint: „Was wir hier erleben, ist eine Zwangsurbanisierung. Die aufs Land gezogenen Städter suchen ein heiles Wohnumfeld, aber sie sehen nicht ein, dass sie es mit den Landwirten teilen müssen.“
Laut Dufour, der vorwiegend Landwirte vertritt und dem konservativen Nationalen Bauernverband (FNSEA) nahesteht, kommt es in ländlichen Regionen jedes Jahr zu 600 bis 800 Nachbarschaftsklagen. An wie vielen Verfahren Landwirte beteiligt seien, wisse er allerdings nicht.
Laut André Torre vom Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Lebensmittelwesen und Umwelt (Inrae) entzünden sich ländliche Nachbarschaftskonflikte indes vor allem an Infrastruktur- und Energieprojekten oder an umstrittener Flächennutzung.3 Man streite sich auch eher über das Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln als über krähende Hähne, Kuhmist und Rinderpupse. Dennoch wurde im Dezember 2023 sogar ein Gesetz verabschiedet, das es Zuzüglern erschweren soll, gegen Landwirte zu klagen. Dufour hatte mit der FNSEA an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet.
Dufour betätigt sich außerdem publizistisch. So beklagte er in der Sonntagszeitung Journal du dimanche als Co-Autor eines Abgeordneten von Les Républicains, dass das Verbot des Umweltnetzwerks „Les Soulèvements de la Terre“, das erst 2021 gegründet worden war, vom Staatsrat wieder aufgehoben wurde – „zum Schaden der Landbevölkerung, der seit zehn Jahren immer mehr zugemutet wird“.4
Anstatt das produktivistische Landwirtschaftsmodell anzugreifen, das zum Verschwinden der bäuerlichen Welt führt, preisen die Verfechter des Ländlichen stattdessen antiquierte Traditionen wie Vogeljagd und Stierrennen. Am 11. Februar 2023 gingen 15 000 Menschen in Montpellier auf die Straße, um das traditionelle Stierrennen „Bouvine“ zu verteidigen.
Das jagende und Fleisch essende Frankreich
Auslöser war ein Artikel in Le Monde, in dem Umweltaktivisten und Mitglieder der Tierschutzpartei auf die archaischen und quälenden Praktiken hinweisen, mit denen die Tiere auf das Rennen vorbereitet werden – von einem Verbot der „Bouvine“ ist darin allerdings gar nicht die Rede.5
Organisiert wurde die Kundgebung vom Bürgermeister von Saint-Brès, Lauren Jaoul: „Unsere Traditionen werden von einer politischen Richtung angegriffen, der unsere Lebensweise nicht passt“, erklärt er. „Nicht nur der Stierkampf wird infrage gestellt, auch die Tour de France und Weihnachtsbäume im öffentlichen Raum. Eine ganze Volkskultur wird demontiert.“
Joul tritt bei der Europawahl im Juni zusammen mit Willy Schraen, dem Vorsitzenden des französischen Jägerverbands, für die „Alliance rurale“ an, die von Leuten aus dem Umfeld von Emmanuel Macron gegründet wurde, um den RN zu schwächen. „Das Frankreich, das wir lieben, ist das jagende, fischende, Fleisch essende und grillende Frankreich“, betont der Jäger. „Das Frankreich, dessen Werte auf ganzer Linie bedroht sind. Je intensiver die Technokraten sich mit unserem Leben befassen, umso weniger Grund zur Freude haben wir. Die Menschen auf dem Land wollen einfach nur in Ruhe gelassen werden!“
Der Historiker Pierre Cornu macht für die politische Instrumentalisierung des Ländlichen die gegenwärtige ökologische und ökonomische Systemkrise verantwortlich: „Die Verherrlichung des Ländlichen, der Erde und der Bauernschaft taucht als Figur der politischen Debatte immer wieder auf. Erdverbundenheit ist ein Wert, der von konservativen Bewegungen gern ins Spiel gebracht wird, um den Liberalismus, die urbane Moderne, neue Lebensweisen und moralische Freizügigkeit als Verfallssymptome anzuprangern.“
„Nur die Wölfe und die Bauern wissen, was Sache ist.“ Mit diesen Worten beendete Serge Bousquet-Cassagne, Vorsitzender der Landwirtschaftskammer im Département Lot-et-Garonne und Chef der Agrargewerkschaft Coordination rurale (CR47), 2023 seine Neujahrsrede. „Genau wie die Wölfe wissen die Bauern, was das Leben ist, denn sie ziehen ihre Tiere auf und geben ihnen den Tod. Und wie die Wölfe gehen sie im Rudel auf Jagd. Ich sage das extra so, um die übrige Bevölkerung auszuschließen, die ich nicht ertrage.“
Am 28. März 2023 stießen Demonstrant:innen, die in Villeneuve-sur-Lot gegen die Schließung der Entbindungsklinik protestieren wollten, auf eine Straßensperre von Bauern und Jägern in voller Montur. Bousquet-Cassagne hatte es auf die Generalsekretärin der französischen Grünen (EELV), Marine Tondelier, abgesehen, weil sie zuvor eine Kundgebung gegen ein geplantes Wasserreservoir unterstützt hatte. „Sie sind die Wurzel allen Übels für uns Bauern,“ drohte er. „Kommen Sie nicht zu uns, sonst geht es schlecht aus!“6
Bousquet-Cassagne kritisiert vehement alle Auflagen für den Einsatz von Pestiziden und für die Wassernutzung. Als Gewerkschaftsboss wie als Chef der Landwirtschaftskammer ist er unangefochten, obwohl er die wettbewerbsorientierte Intensivlandwirtschaft, unter der viele Kleinbauern leiden, nicht infrage stellt. „Sein entschlossenes und mitunter rabiates Auftreten finden einige Landwirte gut“, sagt der ehemalige Biobauer Bernard Péré, der für die Grünen auch im Regionalrat saß. „Wenn ein Bauer Ärger mit den Behörden oder so hat, verteidigt er ihn. Auch wenn in der CR47 die großen Betriebe das Sagen haben, steht sie den kleinen zur Seite.“
Doch mit dem Gesetz nimmt es Bousquet-Cassagne nicht immer so genau. Im Januar 2024 rügte der Rechnungshof, es fehle in seiner Landwirtschaftskammer an klaren Kriterien für die Bewilligung von Finanzhilfen und interner Kontrolle; sie weigere sich, die Auflagen zum Tierwohl und zum Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu erfüllen, und die Wassernutzung werde nicht überwacht. Außerdem sei sie mit den Zahlungen an die übergeordnete Landwirtschaftskammer in Verzug.
Die Frage, warum in seinem Département so viele Landwirte Marine Le Pen wählen, beantwortet Bousquet-Cassagnes, indem er mit dem Finger auf ein Plakat der Coordination rurale an seiner Bürowand zeigt, auf dem steht: „Lasst uns in Ruhe! Lasst uns unsere Arbeit machen!“
Als die Gewerkschaftler 2014 in Sivens aufliefen, um den Gegnern des dortigen Staudammprojekts den Marsch zu blasen, nannten sie sich selbst „Grünhemden“ – wie die 1934 gegründeten „Comités de Défense Paysanne“ des faschistischen Bauernführers Henri Dorgères. Er organisierte Massenkundgebungen zuerst gegen die Republik und später gegen die linke Volksfrontregierung (Front populaire). Später kollaborierte er mit dem Vichy-Regime.
Die Bauerngewerkschaft CR47 wurde 1991 gegründet, als gerade die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU reformiert wurde. Deren Ziel war bis dahin die Selbstversorgung gewesen. Nun wurden die europäischen Agrarmärkte nach den Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO) für den weltweiten Wettbewerb geöffnet. Gegen diese Reform verbündeten sich in Frankreichs Südwesten die Aktivisten der linksalternativen Confédération paysanne mit der „Bewegung zur Verteidigung der Familienbetriebe“ (Modef), die den Kommunisten nahesteht, sowie Abweichlern aus dem konservativen FNSEA-Verband und nichtorganisierten Bauern.
Tiraden gegen Umweltauflagen
Im Juni 1992 organisierte dieses Bündnis in Paris eine Blockade und stellte sich den Obst- und Gemüsetransportern aus Spanien in den Weg. Doch der rechte Flügel verdrängte schnell die linken Kräfte und gründete die CR47. Bei den Wahlen zu den Landwirtschaftskammern 2019 erhielten FNSEA-JA 55,55 Prozent der Stimmen, Coordination rurale 21,54 Prozent, Confédération paysanne 20 Prozent und Modef 1,89 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 46,5 Prozent.
Der FNSEA, gegründet 1946 von Bauern, die mit dem Vichy-Regime kollaboriert hatten, etablierte sich ungeachtet der immensen Unterschiede in Bezug auf Einkommen, Status und Produktionsbedingungen als Interessenvertretung aller Landwirte. So konnte er die agroindustrielle Modernisierung der Landwirtschaft mit staatlicher Unterstützung für viele Jahre vorantreiben. An seiner Spitze standen regelmäßig Bosse agroindustrieller Großbetriebe. Seit April 2023 ist es Arnaud Rousseau, Vorstandsvorsitzender des Avril-Konzerns (Öle, Futtermittel, Biodiesel), der von der Inflation in den letzten Jahren massiv profitiert hat.
Mit der Gründung des Landwirtschaftsrats Conseil de l’agriculture française (CAF), der die Leitlinien der französischen Agrarpolitik bestimmt, wurde 1966 die Zusammenarbeit zwischen Staat und FNSEA schließlich institutionalisiert. 1981 kam es zwar zur Anerkennung weiterer Gewerkschaften im Agrarsektor; doch es gibt für sie keine Vertretung im CAF.
„Gestützt auf den Mythos von der geeinten Bauernschaft, konnte der FNSEA das industrielle Agrarmodell aufbauen, mit dem er seither den Regierenden seine Gesetze diktiert“, meint Gilles Luneau, Journalist, Autor und Mitstreiter von Jean Bové, der 1987 die Confédération paysanne gegründet hat und von 2009 bis 2019 für die Europäischen Grünen im EU-Parlament saß.
Laut Luneau, Autor eines Buchs über den mächtigen Bauernverband („La Forteresse agricole. Une histoire de la FNSEA“, Fayard, Paris 2004), ist die Anzahl der Bauernhöfe in Frankreich seit 1950 auf ein Sechstel und die Anzahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten auf ein Zehntel geschrumpft: „Der Landwirt ist zum Subunternehmer der Industrie geworden. Kritik an diesem System wehrt der FNSEA grundsätzlich ab.“ Stattdessen werde heute wieder der Agrarismus bemüht, im Sinne einer konservativen Gegenrevolution angesichts der ökologischen und klimabedingten Herausforderungen. Die Führungen des FNSEA und des CR seien „unfähig, die Grenzen ihrer Modelle einzusehen“.
Mit seinen Tiraden gegen die „écologie punitive“ und die Beamten und Technokraten in Paris und Brüssel setzt RN auf eine ähnliche Strategie wie die rechtsextremen Parteien in anderen europäischen Ländern. Dabei steht im Parteiprogramm von Marine Le Pen nichts von einem Bruch mit der Gemeinsamen Agrarpolitik. Die Europaabgeordneten des RN votierten im November 2021 sogar einstimmig für die neue GAP 2023–2027, die das produktivistische Modell zementiert, das immer stärker auf Technologie und die Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten setzt.
Die GAP sorgt weiter für die ungerechte Verteilung von Subventionen, die große Betriebe begünstigt: In der EU gehen 81 Prozent der Direkthilfen an 20 Prozent der Landwirte. Da die Prämien pro Hektar vergeben werden, trägt die GAP dazu bei, dass große Unternehmen immer mehr Flächen übernehmen und kleine Bauernhöfe verschwinden.
Auch Freihandelsabkommen werden von Marine Le Pens Partei nicht rundheraus abgelehnt. Zwar stimmten die Europaabgeordneten des RN im November 2023 gegen das Abkommen zwischen der EU und Neuseeland, aber die anderen Mitglieder der Fraktion „Identität und Demokratie“, im EU-Parlament, der auch der RN angehört, votierte dafür. Als im Januar 2024 im EU-Parlament über das Freihandelsabkommen mit Chile abgestimmt wurde, enthielt sich der einzige anwesende RN-Abgeordnete der Stimme.
Um sich breiter aufzustellen, gründete die Partei 2020 die Bewegung „Les Localistes“. Andréa Kotarac, ihr führender Kopf, ist RN-Abgeordneter im Regionalrat des Départements Auvergne-Rhône-Alpes: „Der Lokalismus tritt der Globalisierung entgegen, die unsere Regionen, unsere Landschaften, unsere Produkte und unsere Industrien zerstört“, so Kotarac, „Wenn wir unser Land reindustrialisieren und unsere Agrarwirtschaft schützen, ist das auch ein Kampf gegen die Erderwärmung, die vor allem durch unsere Importe und die dafür nötigen Transporte verursacht wird.“
Der Abgeordnete fragt sich allerdings nicht, wie die französische Viehwirtschaft ohne die jährlichen 3,6 Millionen Tonnen Soja aus Brasilien und Argentinien zurechtkommen soll, für die dort im großen Stil Wälder abgeholzt werden. In seiner Partei ist stattdessen immer öfter von „Lokalismus“, „De-Metropolisierung“ oder „Sonderstellung der Agrarkultur“ die Rede, ohne dass es ein politisches Programm gäbe, das das System infrage stellen könnte.
Bei den Bauernprotesten im Januar fiel insbesondere die CR47 durch rabiate Aktionen auf: In Agen wurden zehntausende Liter Gülle vor der Präfektur, vor Ämtern, Geschäften und dem Bahnhof ausgekippt; eine McDonald’s-Filiale wurde verwüstet, weil ein Mitarbeiter dem stellvertretenden Gewerkschaftschef einen Gratiskaffee verweigert hatte. Und vor dem Gewerbeaufsichtsamt hängten die CR47-Demonstranten ein aufgeschlitztes Wildschwein auf. Die Stadtverwaltung von Agen schätzt die Schäden auf über 400 000 Euro.
Ende Januar rief Bousquet-Cassagne zum Sturm auf den Großmarkt von Rungis auf. Er schickte die Traktoren der CR47 nach Paris – den Diesel bezahlte die Landwirtschaftskammer – und ließ sie von einem Priester segnen. „Kommt zu unserem letzten Gefecht. Sonst verschwindet unsere Rasse – und unsere Zivilisation gleich mit!“, rief er den Landwirten zu. Kurz zuvor hatte er bekannt gegeben, dass er bei den Europawahlen als Kandidat für den RN antreten wolle.
1 Siehe Claus Leggewie, „Die anderen 68er“, LMd, August 2017.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Philippe Baqué ist Journalist.