11.04.2024

Das Volk bin ich

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Das Volk bin ich

von Christophe Jaffrelot

Die Hindu-Miliz RSS SHAUKAT AHMED/picture alliance/pacific press
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Narendra Modi ist seit 2014 indischer Premierminister. Seine Wahlerfolge verdankt er einer Kombination aus Populismus und Hindu-Nationalismus (Hindutva). Und dem „Nationalen Freiwilligenkorps“ (Rashtriya Swa­yam­sevak Sangh oder RSS), die 1925 als paramilitärische nationalistische Bewegung entstanden war. Die RSS will junge Hindus körperlich und moralisch zum Widerstand gegen die Muslime „ertüchtigen“, die in Indien angeblich die Mehrheit bedrohen.1

Modi trat der RSS im Alter von acht Jahren bei. Seitdem widmet er sein Leben und Wirken so ausschließlich der Hindu-Bewegung, dass er weder einen Beruf ergriff noch mit seiner Frau zusammenlebt. Der RSS-Funktionär arbeitete sich in seinem Heimatstaat Gujarat in die Führungsspitze der nationalistischen Bharatiya Janata Party (PJB) hoch, die ihn 2001 zum Chief Minister machte.

In Gujarat kam es 2002, unter seiner Regierung, zu einem antimuslimischen Pogrom mit 2000 Todesopfern. Modis Strategie der religiösen Polarisierung war so erfolgreich, dass er bei den Wahlen 2002, 2007 und 2012 in seinem Amt bestätigt wurde. 2014 stellte ihn die PJB zum Kandidaten für die Wahl des indischen Premierministers auf.

Als Regierungschef brach Modi mit der kollegialen Disziplin, die für die RSS bis dahin so wichtig war. Er stellte sich stets ins Rampenlicht und war demonstrativ bemüht, in direkten Kontakt zu „seinem Volk“ zu treten. Statt auf das Netzwerk der Parteikader setzte Modi auf seine Rednergabe. Mit der bestreitet er unzählige Kundgebungen und Auftritte in seinem eigenen Fernsehsender; außerdem ist er ständig in den sozialen Netzwerken präsent.

Dabei macht er sich die modernste Technik zunutze, wie zum Beispiel Hologramme, mit denen er in hundert Orten gleichzeitig zu den Massen sprechen kann. Um seine Omnipräsenz zu demonstrieren, lässt er bei Kundgebungen Modi-Masken verteilen, sodass sich sein Publikum auch optisch mit ihm identifizieren kann. Damit besetzt er den öffentlichen Raum als Inkarnation des Volks, wenn auch nicht des ganzen: Modi steht nur für die Hindu-Mehrheit, die er gegen den gemeinsamen Feind, die Muslime, aufhetzt.

Seine Wahlsiege von 2014 und 2019 verdankte Modi dem, was man Moditva nennt. Das Wort steht für die hindu-nationalistische Hindutva-Ideologie in ihrer auf Modi zugeschnittenen Variante. Damit schaffte die BJP im Norden und Westen Indiens einen Erdrutschsieg. Dieser grandiose Erfolg ermöglichte es Modi, die RSS zu seinem persönlichen Instrument zu machen und der BJP, deren Abgeordnete ihm ihre Sitze verdanken, seinen Willen aufzuzwingen.

Heute besteht die Regierung in Neu-Delhi aus lauter Modi-Getreuen, und das Parlament nickt alles ab. Andere Institutionen sind ähnlich willfährig. Der Oberste Gerichtshof war lange Zeit wegen seiner Unabhängigkeit geachtet. Doch bereits im Sommer 2014 leitete Modi eine Verfassungsänderung ein, um die Ernennung von Richtern in den Griff zu bekommen. Bislang wurden die Rich­te­r:in­nen durch ein Richterkollegium berufen, was den Politikern seit jeher missfallen hat. Die BJP-Regierung schuf stattdessen per Gesetz eine 6-köpfige Ernennungskommission. Doch diese NJAC wurde vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt, da in ihr auch der Justizminister saß. Dennoch hat Modi sein Ziel erreicht, denn die Regierung kann sich aus der Vorschlagsliste ihre Favoriten herauspicken. Deshalb schlägt das Richterkollegium in der Regel nur Kandidaten vor, die der Exekutive vermutlich genehm sind.

Auch die indische Kulturlandschaft, die lange Zeit als kreativ und lebendig gegolten hatte, wird schrittweise gleichgeschaltet. Die staatlichen Universitäten werden von Rektoren, die Mitglieder oder Sympathisanten der nationalistischen Hindubewegung sind, auf Linie gebracht.

Als Hologramm an hundert Orten zugleich

Auch die Geldgeber privater Universitäten, meist Großunternehmer, bekommen den Druck zu spüren, den sie an ihre Unis weitergeben. Kein Industrieller kann es sich leisten, die Regierung zum Feind zu haben.

Die Opposition hat man mit unzähligen Tricks klein gemacht, am häufigsten mittels Steuerverfahren oder polizeilichen Ermittlungen. Wobei jeder Vorwand recht ist, um die Mitglieder der linken Kongresspartei oder regionaler Parteien einzuschüchtern.

Mit solchen Druckmitteln will man Oppositionelle dazu bringen, ihrer politischen Familie den Rücken zu kehren und zur BJP überzulaufen. Eine wichtige Figur kann auch mit einem Ministeramt oder einer anderen Pfründe belohnt werden. Wenn Oppositionelle das Zuckerbrot verschmähen, droht ihnen die Peitsche: Häufig landen sie im Gefängnis und ihre Bankkonten werden eingefroren.

Trotz aller autoritären Praktiken hält Modi an Wahlen fest. In dieser Hinsicht hält er es wie Erdoğan in der Türkei oder Orbán in Ungarn. Indien Premierminister sieht in der Durchführung von Wahlen zwei große Vorteile: Zum einen lässt sich behaupten, dass Indien weiterhin eine Demokratie ist, „die größte der Welt“, wie es westliche Medien gern formulieren.

Zum anderen setzt der Populist Modi, wie Erdoğan und Orbán, auf Wahlen, weil darauf seine Legitimität basiert. Mit dem „Mandat“ des Volkes kann er die anderen staatlichen Machtzentren ausschalten, insbesondere die „dritte Gewalt“: Die Justiz dürfte es schwerlich wagen, sich gegen einen Modi zu stellen, der selbst das Volk ist: Legitimität schlägt Legalität.

Im Übrigen ist Modis Risiko im Fall von Wahlen überschaubar. Die Ins­ti­tu­tio­nen, die den Urnengang überwachen, haben an Macht und Ansehen eingebüßt. Die Wahlkommission, die früher manchen Pre­mier­mi­nis­te­r:in­nen das Leben schwergemacht hat, ist handzahm geworden, seitdem ihre Führung demselben Druck ausgesetzt ist wie die politische Opposition. Im heutigen Indien ist nicht mehr vorstellbar, dass ein BJP-Vorsitzender mit einer Geldstrafe belegt wird, weil er im Wahlkampf mit religiösen Parolen Stimmung gemacht hat.

Modi weiß auch, dass er bei Wahlen auf eine ungeheure Finanzkraft zurückgreifen kann. 2019 soll die BJP fast 3 Milliarden Euro ausgegeben haben, etwa so viel wie alle anderen Parteien zusammen. Um so viel Geld zu beschaffen, hat die Modi-Regierung 2017 ein Gesetz beschlossen, das die Anonymität der Spender durch sogenannte Electoral Bonds garantiert. Anfang 2024 befand der Oberste Gerichtshof diese Praxis für verfassungswidrig; es war die erste klare Entscheidung gegen die Regierung seit 2015.

Die Wirkung ist jedoch zweifelhaft, denn die Zentralbank, die diese Bonds ausgibt, muss die Namen der Spender erst nach einer sehr langen Frist offenlegen. Zudem verfügt die BJP auch ohne dieses System über genug private Finanzierungskanäle und noch über die beträchtlichen Staatsgelder, die die Regierung für ihre Wahlkämpfe abzweigen kann.

Die privaten Spenden stammen im Wesentlichen von einer Handvoll Geschäftsleuten, die den Status von Oligarchen genießen. Als Gegenleistung für die Nutzung der staatlichen Pfründen unterstützen sie die Machthabenden finanziell und mittels der Medien, die sie immer mehr kontrollieren.

2022 gelangte New Delhi Televi­sion, der letzte große Fernsehsender, der sich noch Kritik an Modi erlaubte, in die Hände des Großunternehmers Gautam Adani. Mehrere sehr populäre Journalisten haben den Sender inzwischen verlassen, weil er zur Stimme seines Eigentümers wurde. Private Fernsehanstalten und Pressekonzerne reagieren auf den geringsten Druck mit Selbstzensur, um Razzien von Steuerprüfern oder der Polizei zu vermeiden.2

Modis Regierung stützt sich auf ein Netz von Aktivist:innen, die ihr politisches Handwerk in der RSS gelernt haben. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, als eine Art lokaler Kulturmiliz nach dem Rechten zu sehen.

Der Hauptfeind sind dabei die Muslime, die sie etwa daran hindern, auf dem Uni-Campus und auf der Straße mit Hindu-Frauen zu sprechen. Damit wollen sie einen angeblichen „love ­jihad“ unterbinden, der nur in ihrer Propaganda existiert: Demnach wollen muslimische Männer Hindu-Mädchen verführen, um sie anschließend per Heirat zu Musliminnen zu machen.

Die RSS-Trupps hindern auch muslimische Familien daran, sich in gemischten Wohnvierteln niederzulassen, was zu einer wachsenden Ghet­toi­sierung führt. Auf den Autobahnen im Norden Indiens verfolgen sie „verdächtige“ Lastwagen, wenn sie vermuten, dass Muslime eine Kuh (ein heiliges Tier des Hinduismus) zum Schlachthaus fahren. Solche Jagdszenen münden zuweilen in Lynchmorde von unfasslicher Grausamkeit, die gefilmt und über die sozialen Netzwerke verbreitet werden.

Im Rahmen der nationalistischen Hindu-Bewegung arbeiten die RSS-Aktivisten Hand in Hand mit der BJP, die quasi zur Staatspartei geworden ist. Auf diese Weise hat der Staat die Gesellschaft durchdrungen wie nie zuvor. Der kann für die Erhaltung der gewünschten (kulturellen) Ordnung nicht nur die öffentliche Verwaltung einsetzen, sondern auch die RSS-Milizen, die auch ohne Uniformen wie eine Art Hilfspolizei agieren.

Angesichts solch tiefgreifender Veränderungen stellt sich die Frage, was ein möglicher Machtwechsel überhaupt bewirken könnte. Wenn die Opposition die Wahlen gewinnen sollte, könnte sie zwar die von der BJP beschlossenen Gesetze ändern, aber wie soll sie verhindern, dass die selbsternannten Verteidiger des Hinduismus auf den Straßen weiterhin Polizei spielen? Das Primat der Legitimität über die Legalität bliebe ungebrochen, wenn die Hindu-Mehrheit an den Dogmen festhält, die Modi zur Staatsdoktrin gemacht hat.

1 Siehe Ingrid Therwath, „Die Hindu-Internationale“. LMd, Februar 2023.

2 Siehe Samrat Choudhury. „Maulkörbe in Indien“, LMd, März 2023.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Christophe Jaffrelot ist Forschungsdirektor am Centre de recherches internationales (Ceri) und Autor von „L’Inde de Modi. National-populisme et démocratie ethnique“, Paris (Fayard) 2019.

Indien in Zahlen

von Christophe Jaffrelot

Einwohnerzahl 1,417 Milliarden

Einwohner der Mumbai Metropolitan Region 21,7 Millionen

Bevölkerungsdichte 435 Einwohner pro Quadratkilometer

Anteil der ländlichen Bevölkerung 64 Prozent

Lebenserwartung 67 Jahre

Bruttoinlandsprodukt 3420 Milliarden US-Dollar (etwa 3150 Milliarden Euro)

Kaufkraftbereinigtes Bruttoinlandsprodukt Rang 3 weltweit

Informeller Sektor 80 Prozent der Erwerbstätigen

Durchschnittslohn im Bundesstaat Uttar Pradesh (mit dem höchsten Lohnniveau) 20 730 Rupien pro Monat (etwa 230 Euro)

Durchschnittslohn im Bundesstaat Sikkim (mit dem niedrigsten Lohnniveau) 15 130 Rupien pro Monat (etwa 168 Euro)

Reichster Einwohner Mukesh Ambani, 116 Milliarden Dollar (etwa 107 Milliarden Euro) Vermögen, Rang 9 in der Forbes-Liste der reichsten Personen der Welt

Rate der Unterernährung 17 Prozent

Analphabetenrate 24 Prozent

Zahl der Sprachen und Dialekte 780, davon 22 offiziell anerkannt Zahl der Schriftsysteme 25, davon 14 offiziell anerkannt

Quellen: Weltbank, Next IAS, Forbes, UNO, People’s Linguistic Survey of India.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Christophe Jaffrelot