11.04.2024

Die Wut der Bauern

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Die Wut der Bauern

von Côme Bastin

Zahnpasta gegen Tränengas: protestierende Bauern auf dem Weg nach Delhi, 21. Februar 2024 ROHIT LOHIA/picture alliance/nurphoto
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Zum hinduistischen Frühlingsfest Vasant Panchami lässt man Drachen steigen. Dieses Jahr bekamen es die Drachen mit Drohnen zu tun, die Tränengas über eine protestierende Menschenmenge versprühten. Tausende demonstrierende Bauern trotzten Mitte Februar am Rande von Neu-Delhi einem gewaltigen Polizeiaufgebot, das den Auftrag hatte, einen Marsch der Bauern auf die Stadt um jeden Preis zu verhindern.

Es war das Wiederaufflammen der Proteste, die sich schon 2020 und 2021 im ganzen Land ausgebreitet hatten. Nie zuvor hatte es im modernen Staat Indien eine so starke soziale Bewegung ge­geben.1 Diesmal könnte das erneute Aufbegehren zum Stachel im Fleisch von Premierminister Narendra Modi werden und ihm seinen Wahlkampf erheblich erschweren.

Vor vier Jahren rebellierten die Bauern im indischen Bundesstaat Pan­dschab, um die Liberalisierung des Agrarsektors abzuwehren, die unter anderem die staatliche Mindestpreisgarantie für Weizen und Reis beseitigt hätte. Den Protesten schlossen sich damals Bauern aus allen Regionen In­diens an, insbesondere aus den Bundesstaaten Uttar Pradesh und Har­ya­na, die Hochburgen von Modi und seiner hindu-nationalistischen Partei BJP sind.

In geschlossener Front umzingelten die Bauern damals Neu-Delhi – friedlich und doch unerbittlich. Weder die winterliche Kälte noch das Coronavirus noch die Schlagstöcke der Polizei konnten sie zum Rückzug bewegen. Als die Massenproteste andauerten, geriet die Hauptstadt zusehends in einen Zustand der Belagerung. Und die belagernden Bauern riefen sogar eine Autonome Republik aus, samt Selbstorganisation und Selbstversorgung.

In dieser Bewegung war über Klassen- oder Kastenunterschiede hinweg das ganze ländliche Indien vertreten: von besitzlosen Farmarbeitern über Mitglieder bäuerlicher Familienbetriebe bis hin zu – mehr oder weniger wohlhabenden – Grundbesitzern.

Als die Protestbewegung unaufhaltsam anwuchs, ging sie auch in ihren Forderungen immer weiter: Sie verlangte, die Mindestpreise – wie für Reis und Weizen – auch auf andere Agrarprodukte auszuweiten. Das hatten die Bauern seit langem gefordert, und es stand auch im Wahlprogramm der BJP, mit dem Modi 2014 an die Macht gekommen war. Weitere Forderungen waren: die Einstellung von Strafverfahren gegen Demonstrierende und Finanzhilfen für überschuldete Agrarbetriebe.

Der als Hardliner bekannte Modi, der normalerweise keine Niederlagen hinnimmt, knickte am Ende ein. In der Hoffnung, die Protestbewegung zu beenden, gab er seine 2019 verkündeten Liberalisierungspläne für den Agrarsektor auf. Tatsächlich zogen die Bauern im Laufe des November 2021 aus der Hauptstadtregion ab und kehrten in ihre Dörfer zurück. Doch trotz der Rücknahme der geplanten Landwirtschaftsgesetze schwelte das Feuer weiter. Und so begann im Februar 2024 der zweite Akt des Bauernaufstands.

Modi hatte schnell verstanden, dass die Bauernbewegung seine Wiederwahl gefährden könnte. Deshalb wollte er eine erneute Belagerung der Hauptstadt unbedingt verhindern. Die Proteste konzentrieren sich einstweilen auf die Grenze zwischen den Bundesstaaten Pandschab und Haryana, die als Schutzwall für Neu-Delhi dienen soll.

Der Premierminister kann sich keine allzu brutalen Polizeieinsätze erlauben, denn die Bauern werden in indischen Politik quer durch alle Lager respektiert. Modi muss also einen Drahtseilakt vollbringen: Einerseits muss er verhindern, dass er von den Wählerinnen und Wählern, die weder die BJP noch die Opposition unterstützen, abgewählt wird. Andererseits will er auch sein Image als starker Mann nicht gefährden.

Die Regierung versuchte zunächst, die Bauern aus dem Pandschab zu diskreditieren, indem er sie als Separatisten oder sogar als Terroristen darstellte. Die Mehrheit dieser bäuerlichen Bevölkerung sind keine Hindus, sondern Sikhs, von denen eine Minderheit tatsächlich seit Langem mehr Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit fordert.

Doch diese Taktik ging nicht auf. Trotz der Regierungspropaganda und trotz eines Todesopfers sowie 13 Verletzten und hunderten Verhafteten blieb die Protestbewegung ungebrochen. Anfang März wurden im Pan­dschab zahlreiche Bahnstrecken blockiert. „Es macht uns keinen Spaß, auf den Schienen zu sitzen“, erklärte der Generalsekretär des Bauernverbands von Pandschab am 11. März 2024 gegenüber dem Indian Express am 11. März. „Aber nur so können wir uns Gehör verschaffen, wenn die Regierung unsere Forderungen nicht zur Kenntnis nehmen will.“

Seit Modi von den geplanten „Reformen“ Ende 2021 abgerückt ist, hat sich die Wut im Pandschab keineswegs gelegt. Vielmehr zeigt die Situation in einer Region, in der die Betriebe größer und die Landwirte etwas wohlhabender sind als im übrigen Indien, in aller Deutlichkeit, dass das dominierende Landwirtschaftsmodell in eine ökologische und ökonomische Sackgasse führt.

Im September 2023 wurden bei der Großstadt Amritsar erneut Bahnlinien blockiert. Auf den Gleisen, die nach Neu-Delhi führen, ließen sich etwa 100 Sikh-Bauern, erkennbar an ihren Bärten und Turbanen, auf bunten Teppichen nieder und pflanzten ihre Fahnen auf. Sie folgten damit dem Aufruf der Bauerngewerkschaft Kisan Marzoor.

Deren Vorsitzender Kanwar Daleep erläutert, dass im Pandschab jetzt ein Kipppunkt erreicht sei: „Die Bauern sind Gefangene der Weizen- und Reismonokultur, die das Grundwasser aufbraucht.“ Die Kämpfe vom 2021 gingen weiter. Und das nicht nur, weil die Regierung die Forderungen der Bauern beharrlich ignoriere. Auch das ausgesetzte Reformprojekt sei nicht endgültig vom Tisch: „Wir befürchten, dass die Liberalisierungspläne in einer anderen Form wieder auftauchen, wenn wir nicht aufpassen. Und es muss unbedingt auch für andere Produkte Mindestpreise geben, damit wir die Regeneration der Böden angehen können, die durch die Monokultur ausgelaugt sind.“

Auf den fruchtbaren, von zwei Flüssen bewässerten Ebenen im Pan­dschab hatte die Regierung in den 1960er Jahren ein gigantisches Programm zum Anbau von Hochertragssorten gestartet, bei dem große Mengen von Düngemitteln und Pestiziden eingesetzt wurden. Diese legendäre „grüne Revolution“ erhöhte die Erträge derart, dass Indien ab den 1980er Jahren zu einem globalen Getreideexporteur wurde.

Dieses Modell ist jetzt an sein Ende gekommen. Die Böden sind erschöpft. Die Wasserreserven sind drastisch zurückgegangen. Das „blaue Gold“ ist inzwischen nur noch in einer Tiefe von 30 Metern und mehr zu erschließen.

„Die Weizensaison geht zu Ende, und ich werde jetzt Reis anbauen“, erzählt Purun Singh, der unweit der Grenze zu Pakistan 15 Hektar Land bestellt. Dafür muss er Düngemittel und Pestizide im Wert von 420 Euro pro Hektar kaufen. Er rechnet mit einer Ernte von etwa 3000 Kilo, für die er umgerechnet 750 Euro bekommt. „Aber ich habe noch viele andere Ausgaben: für die Wartung der Geräte, die Pacht, das Schulgeld für die Kinder. Wir haben zu essen, aber unser Konto ist leer.“

Das prekäre finanzielle Gleichgewicht kommt mit jeder zusätzlichen Belastung aus dem Lot. Im letzten Sommer kam es im Süden des Pandschab zu großen Überschwemmungen. Um Saatgut und Chemie für die nächste Saison kaufen zu können, müssen sich die ärmeren Bauern verschulden, was ihren Ruin bedeuten kann.

„Vor fünf Jahren musste ich einen Hektar Land verkaufen, um mein Darlehen zurückzuzahlen“, erzählt Baloor Singh. „Die Ernten fielen aber nicht besser aus. Wir mussten eine Hypothek auf unser Land aufnehmen, bald nimmt man es uns weg. Viele Bauern sind überschuldet wie ich.“ In den letzten 20 Jahren haben tausende indische Bauern Selbstmord begangen. Der Grund war meist Überschuldung.

Fährt man durch die Kornkammer Indiens, sieht man über den riesigen Getreidefeldern ab und zu dichte Rauchwolken aufsteigen. Wenn die Bauern im Oktober vom Weizen- zum Reisanbau wechseln, brennen sie die Stoppelfelder ab. Die Luft wird dadurch erheblich belastet. Häufig sieht man auch Bauern, die ohne jede Schutzkleidung Pestizide versprühen – mit Substanzen wie Arsen, die viele Experten für die erhöhte Krebsrate bei Landwirten verantwortlich machen.

Gesundheitsrisiken, Überschuldung, Umweltzerstörung: In der Bauernschaft herrscht heute Einigkeit darüber, dass es mit der Produktivität um jeden Preis ein Ende haben muss. Im Pandschab ist ein sehr allmähliches Umsteigen auf biologische Landwirtschaft zu beobachten. Das liegt auch an Nichtregierungsorganisationen wie Kheti Virasat Mission, deren Vorsitzender Umendra Dutt die wichtigsten Fragen formuliert: „Wo wird was angebaut? Welches Saatgut wird gekauft? Was nehmen wir als Dünger und Pflanzenschutz?“

Diese Fragen werden bislang von den Akteuren auf den Märkten beantwortet. „Und die richten sich nach dem Profit“, sagt Umendra Dutt. Sein Vorschlag lautet, die Landwirtschaft „nicht mehr an bestimmtem Saatgut zu orientieren, sondern sich nach den Böden zu richten und neue Sorten wie Hirse einzuführen“.

Rajinder Singh ist Sprecher der Gewerkschaft Kirti Kazan, die die kleinsten Grundbesitzer und ärmsten Landarbeiter vertritt. Er fordert, die Frage der Landwirtschaft als politische Frage zu behandeln. Und zwar auf nationaler Ebene, denn ansonsten würde die Wende in der Landwirtschaft extrem lange dauern: „Wenn ein Bauer auf bio umstellt oder seine Produktion auch nur diversifiziert, wird sein Ertrag über mehrere Jahre zurückgehen. Für einen Systemwechsel müssen die Bauern finanziell unterstützt werden.“

Rajinder Singh war im Februar 2024 dabei, als sich die Demonstranten anschickten, Neu-Delhi zu umzingeln.

⇥Côme Bastin

1 Siehe Joël Cabalion und Delphine Thivet, „Der größte Streik der Welt“, Le Monde diplomatique, Februar 2021.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Côme Bastin ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Côme Bastin