07.03.2024

Zug ins Leben

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Zug ins Leben

Im März 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht Ungarn. Hunderttausende Jüdinnen und Juden wurden sofort nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Weniger bekannt ist die Rettungsaktion des jüdischen Hilfskomitees Wa’ada. Dessen Gründer, Rezsö Kasztner, verhandelte direkt mit Adolf Eichmann – was ihm nach dem Krieg in Israel zum Verhängnis wurde.

von Sonia Combe

Juni 1944: „Selektion“ un­ga­rischer Jüdinnen und Juden an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz picture alliance /akg-images
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Seit 1920, nach dem Ende einer kurzlebigen Räterepublik, wurde das Königreich Ungarn von Admiral Miklós Horthy regiert. Das Land hatte durch den Vertrag von Trianon 1920 große Gebiete verloren; zwischen 1938 und 1941 gab jedoch Nazideutschland, nachdem es sich die Tschechoslowakei und Österreich einverleibt hatte, seinem ungarischen Verbündeten einen Teil davon zurück.

Auch in Ungarn wurde die jüdische Bevölkerung – etwa 800 000 Menschen (mehr als 5 Prozent der Gesamtbevölkerung)1 – systematisch ausgegrenzt und verfolgt. 1938, 1939 und 1941 wurden nach dem Vorbild der Nürnberger Gesetze drei antisemitische Gesetzespakete erlassen und 100 000 jüdische Männer im Alter von 21 bis 60 zum Arbeitsdienst bei der Armee eingezogen. 40 000 haben die Misshandlungen dort nicht überlebt.

Zugleich aber widersetzte sich Horthy dem Drängen Hitlers, die Juden an Nazideutschland und damit ihrem sicheren Tod auszuliefern. Als sich nach der Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad im Winter 1942/43 der Wind zu drehen begann, planten Horthy und sein Ministerpräsident Miklós Kállay, der 1942 die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, einen Separatfrieden mit den Alliierten.

„Horthy war kein fanatischer Anti­semit“, schreibt der Germanist und Holocaust-Überlebende Ladislaus Löb, „sondern ein Opportunist, der zwischen den deutschen und den ungarischen Forderungen nach entschlossenen Maßnahmen gegen die Juden und seiner Angst vor internationaler Ächtung und Vergeltung durch die Alliierten eine Art Seiltanz vollführte.“2

Als Hitler, der von Horthy schon Anfang 1943 Kalláys Absetzung gefordert hatte, von diesen Plänen erfuhr, setzte er unverzüglich seine Truppen in Marsch. Am 19. März 1944 besetzte die Wehrmacht Ungarn. Unter der Leitung von Adolf Eichmann und unterstützt von der neuen Marionettenregierung unter Ministerpräsident ­Döme Sztójay errichtete die SS, so schnell wie in keinem anderen besetzten Land, ihr System der Vernichtung: Mit der Bildung von sogenannten Judenräten, die ihre eigenen Leute ausliefern mussten, durch Enteignungen, Zwangsarbeit, Ghettoisierung und schließlich die Deportation.

Zwischen dem 14. Mai und 8. Juli 1944 wurden 450 000 ungarische Juden aus der Provinz nach Auschwitz deportiert; etwa 330 000 von ihnen wurden sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet. Nach Horthys Sturz im Oktober 1944 übernahmen die faschistischen Pfeilkreuzler unter Fe­renc Szálasi die Macht. Am 29. November errichteten sie in Budapest ein Ghetto, Jü­din­nen und Juden wurden auf offener Straße erschossen, und die Deportationen, die Horthy im Juli gestoppt hatte, gingen weiter.

Gleich nach Beginn der deutschen Besetzung Ungarns gab es verschiedene Versuche, Juden vor der Ermordung durch die Nazis zu retten. Die Rettungsaktion des Juristen Rezsö (oder Rudolf) Kasztner und seines Budapester Komitees Wa’ada (Wa’adat Esra weHazalah, Hilfs- und Rettungskomitee) beschreibt Löb als eine der „erstaunlichsten Episoden des Holocaust in Ungarn“. Seit Januar 1943 hatte die Wa’ada bereits polnischen, rumänischen und slowakischen Jü­din­nen und Juden geholfen, die auf ihrer Flucht in Ungarn vorläufig Unterschlupf suchten.

„Kasztner handelte zwar nicht allein“, schreibt Löb, „aber er war die herausragende Gestalt in einer kleinen Gruppe von Zionisten und Orthodoxen, die den unwahrscheinlichen Versuch unternahmen, die ‚Endlösung‘ durch Bestechung und Irreführung der SS aufzuhalten.“

Eine besondere Gelegenheit ergab sich, als Eichmann, der mit seinem Hauptquartier in das Budapester Hotel Majestic eingezogen war, ein „Tauschgeschäft“ vorschlug. Am 25. April bestellte er das Wa’ada-Mitglied Joel Brand, einen in Erfurt aufgewachsenen Kaufmann, der mit einigen deutschen und ungarischen Geheimdienstoffizieren gut bekannt war, zum ersten Mal ein.

Eichmann wollte angeblich Lkws gegen das Leben von einer Million Jüdinnen und Juden tauschen. Brand bot an, er könne die Ware über die Jewish Agency in Istanbul organisieren, die in der neutralen Türkei für die Einwanderung nach Palästina einen Außenposten in der Hafenstadt eingerichtet hatte.

Nach mehreren Treffen einigten sich Brand und Eichmann – zumindest taten sie so – auf die Lieferung von 10 000 Lastwagen, 200 Tonnen Kaffee, 2­Millionen Kisten Seife und anderen kriegswichtigen Waren, insbesondere Wolfram. An den letzten Besprechungen zwischen Brand und Eichmann nahm auch ein gewisser Kurt Becher teil, der Chef des Wirtschaftsstabs der Waffen-SS in Budapest. Mit ihm sollte Kasztner später noch zu tun bekommen.

Am 19. Mai flog Brand in einem deutschen Kurierflugzeug nach Istanbul. Unterdessen versuchte die Jewish Agency (JA) in Jerusalem herauszubekommen, ob es sich um ein ernstzunehmendes Angebot von Eichmann handelte. Am Ende beschloss man, sich mit Brand in Aleppo zu treffen.

Persilschein für einen SS-Mann

Dieser war jedoch direkt nach seiner Ankunft vom britischen Geheimdienst verhaftet worden. Hielten die Briten den ungarischen Unterhändler wirklich für einen Spion, wie sie vorgaben? Oder wollten sie vor allem verhindern, dass sich eine Million gerettete Juden in ihrem Mandatsgebiet Palästina niederließen?

Für das Treffen mit den JA-Delegierten wurde Brand zwischendurch freigelassen, dann wieder inhaftiert und im Oktober 1944 nach Palästina abgeschoben. Am 14. Juli waren bereits in britischen und US-Medien – im Auftrag der Regierungen – Artikel lanciert worden, in denen behauptet wurde, der vermeintliche Eichmann-Deal sei in Wahrheit von Heinrich Himmler eingefädelt worden. Er diene zur Tarnung einer Intrige der Nazis, die mit einem Sonderfrieden einen Keil zwischen die westlichen Alliierten und Stalin treiben würden.3 Das war das Ende der Istanbul-Mission.

Doch Kasztner, der von alledem noch nichts wusste, versicherte Eichmann mit der ganzen Selbstsicherheit eines gewieften Anwalts, dass die Verhandlungen mit der JA in Kürze fortgesetzt würden. Ebenso wie der ungarische Anwalt Tivadar Soros, der mit viel Geschick und Chuzpe viele seiner Freunde und seine Familie (darunter seinen später berühmten Sohn ­George Soros) in Sicherheit brachte, blickte Kasztner seinen Feinden direkt ins Gesicht.4

Kasztner bluffte und feilschte unermüdlich, schreibt Löb, bis Eichmann schließlich die Ausreise von 1300 Juden bewilligte. Kasztner bot ein Lösegeld von 100 Dollar pro Kopf an, doch Becher, der auch dabei war, forderte 2000 Dollar (Himmler legte sich schließlich auf 1000 Dollar fest). Beeindruckt von dem Geld und den Wertsachen, die die Wa’ada in Aussicht stellte, mischte sich der Becher immer mehr in die Aktion ein; er versprach sich angesichts des Vormarschs der Roten Armee einen persönlichen Nutzen nach dem Krieg.

Die SS bestand darauf, dass die Abfahrt wie eine Deportation aussehen müsse. Kasztner selbst war nicht dabei, als die Gruppe aus inzwischen 1684 ausgewählten Mitgliedern, laut Kasztner ein „Miniaturquerschnitt der damals in Ungarn lebenden Judenheit“5 , am Abend des 30. Juni 1944 Budapest verließ. Unter ihnen waren der 11-jährige Ladislaus Löb und sein Vater. Der Zug endete im Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Hannover.

Derweil wandte sich Kasztner über Umwege an den Textilfabrikanten Saly Meyer in der Schweiz, dem dortigen Vertreter des American Jewish Joint Distribution Comittee (Joint). Von ihm erhielt er weiteres Geld, das er den Deutschen anstelle der Lkws anbieten konnte, die Eichmann unter zunehmenden Drohungen immer noch forderte.

Becher bereicherte sich an dem Menschenhandel mit Kasztner, der für jedes gerettete Leben zahlte. Mitte August 1944 wurden die ersten 318 Personen aus der Bergen-Belsen-Gruppe entlassen und in die Schweiz gebracht. Alle anderen aus dem „Kasztner-Zug“ – auch Löb und sein Vater – folgten ihnen nach weiteren zähen Verhandlungen im Dezember.

Kasztner sah Becher zunehmend als einen Verbündeten gegen Eichmann, auch wenn er geahnt haben muss, dass dieser vor seiner Versetzung nach Ungarn höchstwahrscheinlich Kriegsverbrechen begangen hatte. Tatsächlich war Becher vor seiner Buda­pester Zeit mit seiner Einheit, der SS-Totenkopf-Reiterstandarte 1, ab 1939 an der Erschießung zehntausender Juden und Partisanen in Polen und ab 1941 in der Sowjetunion beteiligt.

Mit dem berühmten Zug hat Kasztner mehr Juden gerettet als der – heute viel bekanntere und höchst geehrte – deutsche Unternehmer Oskar Schindler aus dem Lager Plaszów bei Krakau. Und der Budapester Anwalt war an zahlreichen weiteren Rettungs­ak­tio­nen beteiligt; manche davon sind dokumentiert, andere haben keine nachweisbaren Spuren hinterlassen.

Zwischen 1945 und 1946 trat Kaszt­ner als Zeuge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg auf; und er gab außerdem zwei eidesstaatliche Erklärungen zu Becher ab. In der zweiten, vom 14. August 1947, lobte er dessen Verhalten ausdrücklich. Becher wurde Anfang 1948 freigelassen und für seine Verbrechen nie wieder belangt.

Kasztner dagegen wurde später ein Brief zum Verhängnis, in dem er am 28. Juli 1948 an Eliezer Kaplan, den Schatzmeister der Jewish Agency, Folgendes schrieb: „Kurt Becher war ein ehemaliger SS-Oberst, der während des Rettungsunternehmens als Verbindungsoffizier zwischen mir und Himmler diente. Er wurde durch die alliierten Besatzungsmächte aus dem Gefängnis in Nürnberg in Folge meiner persönlichen Intervention entlassen.“6 Dieser Brief sollte ihn das Leben kosten.

Im Dezember 1947 wanderte Kasztner mit seiner Frau Bogyó und der 1945 geborenen Tochter Zsuszanna nach Palästina aus. Doch dort galt er keineswegs als Held. Es kursierten zahlreiche Gerüchte über ihn, und er wurde von ungarischen Überlebenden angefeindet, deren Angehörige nicht gerettet werden konnten. Von David Ben-Gurion, Israels künftigem Staatsgründer und ersten Ministerpräsidenten, wurde er allerdings mit offenen Armen empfangen.

Kasztner wurde Mitglied in der Mapai, Ben-Gurions „Arbeitspartei“. 1949 trat er in die Regierung ein, wo er nacheinander Regierungssprecher im Versorgungs-, Transport- und Handelsministerium war. Doch schon im Sommer 1952 holte ihn die Vergangenheit ein.

Malchiel Gruenwald, ein Anhänger der orthodoxen Misrachi-Bewegung, bezeichnete Kasztner in einem seiner berüchtigten Rundbriefe als Karrieristen und beschuldigte ihn, mit den Nazis kollaboriert zu haben: „Meine lieben Freunde! Kadavergestank füllt meine Nasenlöcher! Das wird das erlesenste Begräbnis! Dr. Rudolf Kasztner muss liquidiert werden!“7

Doch wer einen Regierungsbeamten diffamierte, griff damit auch den jungen Staat an. Chaim Cohn, Generalstaatsanwalt und Justizminister, erstattete gegen Gruenwald „Anzeige wegen krimineller Ehrverletzung“.

Am 18. Februar 1954 begann der Prozess. Selbstsicher erläuterte Kasztner im Gerichtssaal den Unterschied zwischen Verhandlung und „Kollaboration“. Er verwehrte sich dagegen, von jemandem, der nicht dabei gewesen war – Gruenwald war bereits 1937 von Wien nach Palästina ausgewandert –, moralisch verurteilt zu werden.

Doch Gruenwalds junger Anwalt Schmuel Tamir hatte einen Joker: Kaszt­ners wohlwollende Aussage über den SS-Mann Becher. Tamir, in Palästina geboren, war Mitglied in der paramilitärischen Untergrundorganisation Ir­gun8 gewesen. Er erkannte sofort, wie er den Fall für seine politischen Ambi­tio­nen nutzen konnte: Sein Ziel war der Sturz der Mapai-Regierung und die Errichtung eines rechten Großisrael – mit ihm an der Spitze.

Von der reaktionären Presse alsbald verteufelt, gab Kasztner in Israels schwer traumatisierter und tief gespaltener Gesellschaft den idealen Sündenbock ab. Der neue Staat brauchte für seine nationale Erzählung Helden und keine Überlebenden oder Flüchtlinge, die in ihrem früheren Leben keine Zionisten gewesen waren.

Mit Geld das Leben von Juden aufzuwiegen, was Kasztner laut seinen Gegnern getan hatte, war zwei Jahre zuvor auch ein großer Kritikpunkt an dem sogenannten Wieder­gut­ma­chungsab­kommen gewesen, das Ben-Gurion im September 1952 mit Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet hatte.9 Die Kampagne gegen Kasztner fiel auf fruchtbaren Boden, während andere Fakten von der oppositionellen Presse tunlichst verschwiegen wurden.

So gab es in Ungarn, wo sich die jüdische Bevölkerung selbst dann noch in Sicherheit wiegte, als polnische und slowakische Flüchtlinge von den Gräueln der Lager berichteten, keine richtigen Widerstandsgruppen wie in anderen Ländern. Man konnte gegen die SS nur ankommen, indem man die Bestechlichkeit von Leuten wie Becher ausnutzte.

Am 21. Juni 1955 verlas Richter Halevi in einer zum Zerreißen angespannten Stimmung sein Urteil: Gruenwald wurde freigesprochen und Kasztner der „kriminellen Kollaboration“ mit den Nazis beschuldigt. Mit der Fürsprache zugunsten des SS-Täters Becher habe Kasztner, so Halevi wortwörtlich, „seine Seele an den Satan verkauft“.

Bei den wenige Wochen später stattfindenden Wahlen verlor die Mapai 5 ihrer 45 Parlamentssitze. Zweitgrößte Fraktion mit 15 Sitzen wurde die Cherut-Partei des ehemaligen Irgun-Anführers Menachem Begin, die später in den Likud integriert und dessen Hauptfraktion wurde. 1977 sollte der Likud zum ersten Mal die Wahlen gewinnen. Doch sein Aufstieg war ein langsamer Prozess, in dem, so Löb, „die Kasztner-Affäre eine entscheidende Rolle spielte“.

Nach diesem vernichtenden Richterspruch wurden Kasztner und seine Familie als Nazis beschimpft und mit dem Tode bedroht. Am 21. August legte Justizminister Cohn beim Obersten Gerichtshof gegen Halevis Urteil Berufung ein. Im zweiten Prozess 17 Monate später wurde Kasztner für unschuldig erklärt – aber nicht rehabilitiert. Er erlebte den Urteilsspruch jedoch nicht mehr. Am 3. März 1957 wurde er von einem rechtsextremen Attentäter angeschossen und erlag zwölf Tage später seinen Verletzungen.

Im Zuge des Eichmann-Prozesses 1961 geriet der Name Kasztner noch einmal negativ in die Schlagzeilen. Seitdem und vor allem ab Ende der 1980er Jahre sind zahlreiche Bücher und Filme erschienen, die ein differenzierteres Bild zeichnen.

In dem Dokumentarfilm „Killing Kaszt­ner“ von Gaylen Ross (USA, 2008) kommen sowohl His­to­ri­ke­r als auch Zeit­zeu­gen zu Wort, die sich darin einig sind, dass Kasztners eidesstattliche Erklärung zu Becher mit dem Einverständnis der Jewish Agency zustande kam – weil man hoffte, die von den Nazis geraubten Vermögen zurückzubekommen.

Im Austausch für eine nicht allzu belastende Zeugenaussage hätte Becher zugestimmt, alles oder wenigstens einen Teil an die jüdische Untergrundarmee Hagana zurückzugeben. Denn Kurt Becher, der nach dem Krieg als Kaufmann bis zu seinem Tod 1995 in Bremen lebte und immer noch Geschäftsbeziehungen in Ungarn unterhielt, war in den späten 1950er Jahren einer der vermögendsten Männer in der Bundesrepublik.

Kasztner, so die späteren Zeitzeugen, habe die geplante Transaktion mit Becher jedoch verheimlicht, um die Jewish Agency nicht zu kompromittieren und der Regierung nicht zu schaden. Und Ben-Gurion habe mit seinem Schweigen Schaden von der Partei abwenden wollen. In seinem Buch „L’âme au diable“ schreibt der Anwalt und Sohn eines Überlebenden aus dem Kasztner-Zug Yoram Leker: „Man nennt es Staatsräson, wenn für eine übergeordnete Erfordernis ein Unrecht begangen wird; im vorliegenden Fall ging es darum, Geld für die Armee des ent­stehenden Staates Israels aufzutreiben.“10

Kasztners Familie glaubt, dass der israelische Geheimdienst hinter dem tödlichen Attentat gesteckt habe, weil er zu viel Belastendes über die Regierung wusste. Womöglich steckte aber auch ein persönliches Motiv dahinter: Der damalige israelische Geheimdienstchef, ein ungarischer Auschwitz-Überlebender, soll Kasztner vorgeworfen haben, ihn von der Rettungsaktion ausgeschlossen zu haben. Das behauptet in Ross’ Dokumentation jedenfalls der Attentäter Zeev Eckstein, der nach dem Mordanschlag schnell gefasst und mit seinen beiden Mittätern zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, aber schon nach drei Jahren wieder auf freien Fuß kam.

„Die wahren Umstände des Attentats sind bis jetzt nicht aufgeklärt“, schreibt Ladislaus Löb. Und die Quellen, die belegen könnten, dass Kasztner mit Einverständnis der Jewish Agency handelte, die bis zur Gründung Israels die jüdische Bevölkerung Palästinas repräsentierte, sind bis heute nicht zugänglich.

Selbst die Gedenkstätte Yad Va­shem in Jerusalem schien sich lange nicht für die ungarische Rettungsaktion zu interessieren. Dabei war deren erste Archivleiterin Sarah Friedländer selbst eine Überlebende aus dem Kaszt­ner-­Zug. Erst 2007 erklärte sich das Yad-Vashem-Archiv bereit, Dokumente aus dem Kasztner-Nachlass zu verwahren. Öffentliches Gedenken gibt es kaum. Keine Straße oder Institution wurde nach Kasztner benannt, nur ein kleiner Wald nahe Haifa.

1 Nach den Daten der Volkszählung von 1941 kamen in Ungarn auf 14 683 323 Ein­woh­ne­r:in­nen 725 007 Personen „israelitischen Glaubens“ (4,9 Prozent) und 344 435 „jüdische Personen nichtisraelitischen Glaubens“, in: Wolfgang Benz und Juliane Wetzel (Hg.), „Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit“, Berlin (Metropol Verlag) 1999, S. 207.

2 Ladislaus Löb, „Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden“, Köln (Böhlau) 2010, S. 32. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle weiteren Zitate aus diesem Buch.

3 Vgl. Reiner Möckelmann, „Transit Istanbul–Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa“, Darmstadt (wbg Theiss) 2023, S. 227.

4 Siehe Tivadar Soros, „Maskerade. Die Memoiren eines Überlebenskünstlers“, aus dem Englischen von Holger Fliessbach, München (dva) 2003.

5 Reszö Kasztner hinterließ einen Bericht über die Vorgänge: „Der Kastner-Bericht über Eichmanns Menschenhandel in Ungarn“, München (Kindler) 1961, S.131 f.

6 Siehe Löb, Seite 194. In der Fußnote dazu vermerkt Löb, dass Kasztners Tochter Zsuzsanna ihm den Brief zur Verfügung gestellt hat.

7 Zitiert und übersetzt von Löb (S. 198) aus: Hanna Ya­blon­ka, „The Development of Holocaust Consciousness in Israel: The Nuremberg, Kapos, Kastner and Eichmann Trials“, in: Israel Studies 8.3, 2003, S. 13.

8 Die Irgun bestand von 1931 bis 1948 und verübte in dieser Zeit zahlreiche terroristische Anschläge gegen die arabische Bevölkerung und die damalige britische Mandatsmacht. Ben-Gurion ließ Menachem Begins illegale Miliz gewaltsam entwaffnen und integrierte sie in die israelische Armee, siehe Tony Judt, „Eine alternative Zukunft“, LMd, November 2003.

9 Siehe Daniel Marwecki, „Wiedergutmachung in explosiver Währung“, LMd, April 2020.

10 Yoram Leker, „L’âme au diable“ Paris (Viviane Hamy) 2021.

Aus dem Französischen von Dorothee D’Aprile

Sonia Combe ist Historikerin.

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Sonia Combe