07.03.2024

Attraktive Schweiz

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Attraktive Schweiz

von Jan Jirát

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In keinem anderen europäischen Land arbeiten mehr ausländische Ärz­t:in­nen in Spitälern, Kliniken und hausärztlichen Praxen als in der Schweiz. Laut den aktuellen Erhebungen der Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH), des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, liegt der Anteil bei 39,5 Prozent. Das heißt, von den insgesamt 40 000 berufstätigen ärztlichen Fachkräften in der Schweiz stammen 15 800 aus dem Ausland. Das ist ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren.

Dabei kommt der mit Abstand größte Teil der ärztlichen Fachkräfte mit ausländischem Diplom aus Deutschland (51 Prozent), gefolgt von Italien (9,4 Prozent), Frankreich (7,2 Prozent) und Österreich (6 Prozent), die übrigen kommen aus Rumänien, Griechenland, Belgien und Spanien. „Offensichtlich spielt neben der geografischen Nähe auch die Mehrsprachigkeit in der Schweiz dabei eine große Rolle“, meint die FMH-Präsidentin Yvonne Gilli.

Das bestätigt auch das renommierte Universitätsspital Zürich: „Der weitaus größte Teil bei uns kommt aus Deutschland, weil dies hinsichtlich der Qualität der Ausbildung ein hohes Niveau gewährleistet und es keine Sprachbarrieren gibt.“ Ärz­t:in­nen aus anderen Ländern müssten hingegen strenge Kriterien auf Bundesgesetz-Ebene erfüllen, wie beispielsweise einen Sprachnachweis für Deutsch auf einem gewissen Level, wie das Zürcher Universitätsspital mitteilt.

Dass die Schweiz so ein attraktiver Arbeitsort ist, liegt allerdings auch an den Branchenlöhnen, die deutlich über dem Niveau der Herkunftsländer liegen. 2018 gab das Schweizer Bundesamt für Gesundheit eine diesbezügliche Studie in Auftrag, bei der sich herausstellte, „dass die Einkommen der Ärztinnen und Ärzte bedeutend höher sind als bisher angenommen“. Frei praktizierende Fach­ärz­t:in­nen in der Schweiz verfügen über ein jährliches Medianeinkommen von rund 278 000 Euro.

Auch im Schweizer Gesundheitswesen sind ausländische Ärz­t:in­nen – wie in Frankreich – mit Diskriminierung und Rassismus konfrontiert, aber es handelt sich offenbar nicht um ein strukturelles Problem. Das liegt sicherlich an der Tatsache, dass fast drei Viertel der ausländischen ärztlichen Fachkräfte aus den unmittelbaren Nachbarländern stammen und praktisch keine nicht-europäischen Me­di­zi­ne­r:in­nen in der Schweiz arbeiten. Zudem ist die Abhängigkeit von ausländischen Ärz­t:in­nen derart groß, dass das Schweizer Gesundheitssystem sich – überspitzt formuliert – schlicht keinen Rassismus leisten kann.

So geben weder der Berufsverband FMH noch die angefragten Spitäler in allen drei Sprachregionen an, dass ihnen systematische Diskrimi­nierungen bekannt seien. Das bestätigen auch Gespräche mit Ärz­t:in­nen selbst.

Ein Deutschschweizer Pathologe sagt, er habe in zahlreichen Gesprächen mit teils auch befreundeten Aus­lands­ärz­t:in­nen noch nie vernommen, dass sich diese diskriminiert gefühlt hätten. „Was hingegen völlig klar ist: Ohne ausländische Kol­le­ginnen und Kollegen wären wir in der Pathologie wie auch im ganzen Spital aufgeschmissen“, sagt er. In seinem Team kommen mehr als ein Drittel der Ärz­t:in­nen aus Deutschland, Österreich oder Italien, vor allem aus dem deutschsprachigen Südtirol.

Einmal habe der Pathologe allerdings erlebt, dass in seinem Spital ein Arbeitsverhältnis mit einem Assistenzarzt aus Südeuropa wegen Verständigungsschwierigkeiten aufgelöst wurde. „Die Sprache kann ein Problem sein, das höre ich auch von anderen Kol­leg:in­nen, insbesondere in Fachgebieten, wo das Gespräch mit den Pa­tien­t:in­nen eine große Rolle spielt, wie etwa in der Psychiatrie“, so der Pathologe.

Auch eine deutsche Allgemeinmedizinerin, die seit fast zwei Jahrzehnten in diversen Spitälern und Hausarzt­praxen in der Deutschschweiz arbeitet, hat bisher keinerlei Diskriminierungen erfahren, die mit ihrer Herkunft zu tun hatten. Allerdings hat sie noch in den nuller Jahren erlebt, dass ein Chirurg aus Rumänien als Oberarzt tätig war, aber nur einen Arbeitsvertrag als Assistenzarzt bekam. Damals sei sein rumänischer Abschluss offenbar nicht anerkannt worden.

Tatsächlich scheint das Schweizer Gesundheitssystem – zumindest für ärztliche Fachkräfte – allgemein ziemlich durchlässig zu sein. Wie der Berufsverband FMH schreibt, ist der prozentuale Anteil an ausländischen Ärzt:in­nen auf allen vier Positionen relativ ausgeglichen: bei den As­sis­tenz­ärz­t:in­nen sind es 37,1 Prozent, bei den Ober­ärz­t:in­nen 51,3 Prozent, bei den leitenden Stellen 44,1 Prozent und bei den Chef­ärz­t:in­nen 36,6 Prozent.

Allerdings spitzt sich auch in der Schweiz der Fachkräftemangel zu – wie in vielen europäischen Ländern. Wie die Neue Zürcher Zeitung kürzlich berichtete, entwickelt sich die Lage zunehmend zu einem Risiko für die Pa­tien­t:in­nen. Ein Grund dafür ist – auf den auch die FMH schon länger hinweist –, dass die Babyboomer-Generation in Rente geht. Diese zahlenmäßig große Kohorte arbeitet gewöhnlich in Vollzeit, wohingegen die jüngere Generation eher zur Teilzeit neigt. Sprich: Um die entstehenden Lücken zu füllen, bräuchte es eher zwei Nach­wuchs­me­di­zi­ne­r:in­nen pro Stelle.

Die FMH fordert deshalb als Dachorganisation der Ärzteschaft schon länger eine deutliche Steigerung der Ausbildungsplätze. Wer in der Schweiz ein Medizinstudium absolvieren will, muss einen Eignungstest bestehen; diese Hürde schafft nur etwa ein Drittel der Bewerber:innen.

2016 beschloss der Bund, den Universitäten einen Zuschuss von 100 Millionen Franken zu überweisen. Die Anzahl der damals rund 900 Stu­dien­ab­gän­ge­r:innen sollte damit auf 1300 erhöht werden. Diese Zielmarke ist erreichbar, doch die FMH mahnt bereits an, sie sei mittlerweile zu niedrig.

Jan Jirát

Jan Jirát ist Journalist bei der Wochenzeitung WOZ in Zürich © LMd, Berlin/Zürich

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Jan Jirát