07.03.2024

Gaza und das arabische Schweigen

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Gaza und das arabische Schweigen

Die Staatschefs der Region ducken sich weg, um ihre vorteilhaften Beziehungen zu Israel nicht zu gefährden

von Akram Belkaïd

Alexander Wagner, ohne Titel, 2018, Acryl auf Papier, 29,7 × 42 cm
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Von Rabat bis Kairo, von Amman bis Doha und Maskat, überall in der arabischen Welt kennt man diesen berühmten Satz, der dem Denker Ibn Chal­dun (1332–1406) zugeschrieben wird: „Die Araber sind sich einig, niemals einer Meinung zu sein.“ Er wird oft zitiert, um die Rivalitäten, Spaltungen und Konflikte zu beklagen, die ein Grundmuster der Geschichte des Maghreb und des Nahen Ostens seit Mitte des 20. Jahrhunderts darstellt.

Im Hinblick auf die israelische Militäroffensive in Gaza scheint diese Regel allerdings nicht mehr zu gelten. Die 22 Länder der Arabischen Liga haben sich diesmal offensichtlich vor allem auf eines geeinigt: nichts zu unternehmen. Mit jeder ihrer „Dringlichkeitssitzungen“ bestätigt die Liga aufs Neue ihr Aktionsmuster namens Untätigkeit – trotz aller bombastischen Reden und pompösen Abschlusskommuniqués.

Man kann sich das Bild wunderbar ausmalen: An einem großen runden Tisch sitzen Exzellenzen und Potentaten, Ex-Revolutionäre, aber auch ein Ex-Feldmarschall in Präsidentenwürden, die einen mehr, die anderen weniger demokratisch gewählt. Diese hochwürdige Männerrunde parliert eine Zeit lang vor sich hin, um am Ende zu erklären, dass sie „die Fortsetzung der eklatanten und ungerechtfertigten Verletzungen des Völkerrechts gegen das palästinensische Volk verurteilt“. Begleitet von der – nicht unerwarteten – Warnung vor den „schwerwiegenden Auswirkungen auf die Stabilität der Region“ (so das Kommuniqué vom 11. November 2023).

Das war’s dann auch. Kein Wort zu militärischen Gegenmaßnahmen. Kein Aufruf zu internationalen Sank­tio­nen gegen Israel, etwa in der Art, wie sie gegen Russland nach der Invasion in der Ukraine verhängt wurden. Kein Antrag zur Unterstützung der südafrikanischen Klage vor dem Interna­tio­na­len Gerichtshof (IGH), um zu verhindern, dass die israelische Armee in Gaza ethnische Säuberungen oder gar einen Völkermord begeht. Kein radikales Hinterfragen der Normalisierungspolitik von Mitgliedstaaten der Liga gegenüber Israel. Kein Abbruch diplomatischer Beziehungen. Kein Gedanke an die Reduzierung der Investitionen, die Staatsfonds der Golfstaaten in den USA tätigen, als Druckmittel, um die Lieferungen von Bomben und Munition an Tel Aviv zu verhindern. Kein Ölembargo wie 1973 während des Jom-Kippur-Kriegs. Nichts von alledem.

Die Tendenz, sich wegzuducken, ist allerdings nicht ganz neu. Auch nach der Entscheidung von Präsident Donald Trump, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, beschloss die Arabische Liga Anfang 2018 ebenfalls auf einer Dringlichkeitssitzung – nach einigem Hin und Her –, einen „strategischen Plan“ auszuarbeiten. Wallah!, geschworen, bei Gott! Bis heute hat man von diesem Plan nichts mehr gehört.

Die Zahl der palästinensischen Todesopfer soll mittlerweile auf über 30 000 gestiegen sein, die Vermissten und Verletzten nicht mitgezählt. Und im Süden von Gaza wird die Perspektive einer Vertreibung von Teilen der Bevölkerung in den ägyptischen Sinai immer realistischer.

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund eine solche Passivität erklären? Da ist zunächst die Frage der militärischen Kapazitäten. Kein arabisches Land will eine bewaffnete Konfronta­tion mit einem Gegner, an dessen Überlegenheit – dank der Unterstützung durch die USA – kein Zweifel besteht. Dies als Kommentar zu der oft wiederholten Behauptung, das demokratische Israel sei von Diktaturen umzingelt, die nur davon träumten, es anzugreifen.

Selbst die mächtige Hisbollah, die dem libanesischen Staat ihre Gesetze diktiert, hält sich zurück und beschränkt sich auf einen Konflikt nie­dri­ger Intensität. Lange Zeit spielten Syrien und Ägypten die Rolle von Regionalmächten, die vereiteln konnten, dass Israel allein den Status und die Lebensbedingungen der Palästinenser bestimmt.

Syrien ist durch den nunmehr über 10 Jahre andauernden Bürgerkrieg ausgezehrt, zudem sind vier ausländische Armeen – der USA, Irans, Russlands und der Türkei – auf seinem Territorium präsent. Und Israel unternimmt regelmäßig und weitgehend unbehindert Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen der Hisbollah und der iranischen Revolutionsgarden auf syrischem Boden.

Was Ägypten betrifft, so bezeichnen die Strategen in Tel Aviv die Grenze zum Nachbarland seit Langem nicht mehr als „Südfront“. Die ägyptische Armee betrachte Israel zwar „immer noch als Feind“, meint der französische Historiker Tewfik Aclimandos, aber zugleich gehe sie davon aus, dass „Frieden der bessere Weg ist, diesen Feind zu bekämpfen – oder sich gegen ihn zu schützen“.1 Anders gesagt: Die beste Art und Weise, diesem Gegner Paroli zu bieten, besteht darin, sich nicht mit ihm anzulegen.

In den letzten Wochen hat Präsident Abdel Fattah al-Sisi immer wieder vor den Folgen einer möglichen Deportation von Menschen aus dem Gaza­streifen in den Nordsinai gewarnt. Diese entschiedene Position entspringt vor allem der panischen Angst, dass man in dem Fall für zehntausende Geflüchtete verantwortlich sein würde.

Unter diesen erneut vertriebenen Palästinensern würden sicherlich Gruppen entstehen, die zum bewaffneten Kampf gegen Israel bereit sind. Damit würde die Lage noch weiter destabilisiert, denn schon jetzt agieren auf der Sinai-Halbinsel bewaffnete Gruppen, die mit dem IS in Verbindung stehen (siehe den Text von Jean Michel Morel auf Seite 8), aber auch rebellierende Beduinenstämme, die sich gegen ihre Vertreibung und Benachteiligung durch die ägyptische Regierung wehren.

Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass sich Ägypten nicht irgendwann bereitfinden wird, Geflüchtete aus Gaza in einer Pufferzone unterzubringen. Wahrscheinlich würde es schon ausreichen, wenn die USA und die EU zu großzügigen Finanzhilfen bereit wären. Denn der ägyptische Staat ächzt unter Auslandsschulden in Höhe von 165 Milliarden US-Dollar, von denen 43 Milliarden noch in diesem Jahr zurückgezahlt werden müssen.

Kairo fehlen derzeit mindestens 20 Milliarden Dollar, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Deshalb verhandelt die Regierung pausenlos mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Als Gegenleistung für eine Finanzspritze verlangt der IWF – wenig überraschend – eine Abwertung des ägyptischen Pfunds und weitere Privatisierungen. Eine Aufnahme der vertriebenen Gaza-Bevölkerung könnte den globalen Kassenwart zu mehr Verständnis für die Lage Ägyptens bewegen.

Ein Grund für die Passivität der Arabischen Liga ist auch die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der großen arabischen Familie. Seit Mitte der 2000er Jahre gebärden sich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) wie die großen Bosse, die allein das Sagen haben. Die Zeiten, in denen Algerien, der Irak, Syrien und der Jemen einen Oppositionsblock bildeten, der andere Mitglieder auf ihre Linie brachte, sind endgültig vorbei.

Die VAE haben den Angriff der Hamas vom 7. Oktober unverzüglich verurteilt. Als kleines, dünn besiedeltes Land (die Zahl der Staatsbürger dürfte unter 500 000 liegen), das allerdings ungeheuer reich ist, verfolgen die VAE in der Region militärische Ambitionen, für die eine strategische Nähe zu Israel hilfreich ist.2

Es ist daher undenkbar, dass Abu Dhabi die 2020 unter US-Ägide unterzeichneten Abraham-Abkommen mit Israel infrage stellen könnte. Die Emirate sehen das militärische und wirtschaftliche Bündnis mit Israel – dessen wichtigster regionaler Partner sie sind – als Garantie gegen den iranischen Expansionsdrang, zumal Unsicherheit  darüber herrscht, wie lange die USA sich noch in der Region engagieren werden.

Dank dieser Konstellation sind die VAE auch in der Lage, ihren Einfluss im Jemen und am Horn von Afrika ungestört auszuweiten, selbst wenn das zulasten der einheimischen Bevölkerung geht. Die Abraham-Abkommen verschaffen sowohl den Emiraten – wie auch Marokko, das ebenfalls zu den Unterzeichnern gehört – eine Art politische Immunität. Die Normalisierung der Beziehungen zu Israel wird vom Westen damit honoriert, dass er die Missachtung individueller Freiheiten und politischer Rechte toleriert. Und sie bringt den VAE einen weiteren Vorteil: die Unterstützung durch die pro-israelische Lobby im US-Kongress.

Diese Tatsachen sind auch Mohammed bin Salman (MBS) bekannt. Der mächtige saudische Kronprinz und Premierminister muss natürlich nach wie vor die Empfindungen seiner 37 Mil­lio­nen Landsleute berücksichtigen und erklärt deshalb immer wieder, dass es ohne die Gründung eines palästinensischen Staates keine Normalisierung mit Israel geben wird. Die Missbilligung der israelischen Offensive im Gazastreifen durch Riad fällt allerdings sehr maßvoll aus, denn die inoffizielle Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel, die seit mindestens 10 Jahren vonstatten geht, hat sich für MBS schon jetzt ausgezahlt.

Erst kürzlich pries Jared Kushner, der Schwiegersohn von Donald Trump und dessen einflussreicher Nahost-Berater, MBS als „visionären Führer“, der vieles getan habe, „um die Welt zu einem besseren Ort zu machen“.3 Die Angehörigen von Jamal Khashoggi, der im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul von Schergen aus Riad abgeschlachtet wurde, sehen das wohl etwas anders.

Und was denkt die Bevölkerung in den arabischen Staaten? Sowohl in Bezug auf Palästina als auch in Bezug auf innenpolitische Angelegenheiten ist ihre Meinung kaum gefragt. Das gilt für alle Länder, egal ob sie eine Normalisierung mit Israel anstreben oder nicht. Solidaritätsdemonstrationen für Palästina sind verboten oder unterliegen den strengen Auflagen, die im Zuge der verschärften Repression nach dem Arabischen Frühling etabliert wurden.

Die strenge Überwachung soll Ausschreitungen verhindern. Und sie erklärt, warum Menschenansammlungen in arabischen Städten im Vergleich zu den aufgebrachten Protesten in den Straßen von London, New York, Ankara oder Jakarta geradezu lächerlich klein wirken.

Wer also Solidarität mit Gaza bekunden will, kann dies gefahrlos nur im anonymen Internet tun. Im Netz kommt die propalästinensische Stimmung sicherlich am stärksten zum Ausdruck. Aber über dasselbe Netz verbreiten die Regime auch ihre Argumente, mit denen sie ihre Passivität rechtfertigen wollen.

In Saudi-Arabien zum Beispiel treten Imame auf, die Koranstellen zitieren, um zu belegen, dass Palästina auch das Land der Juden ist. Andere wiederum schreiben der Hamas – und der Muslimbruderschaft – die alleinige Verantwortung für das aktuelle Drama zu.

In anderen Ländern betont man angesichts der Komplexität des Konflikts die Notwendigkeit, auf die Weitsicht der Staatsführung zu vertrauen. Solche Parolen kursieren vor allem in den Emiraten, wo die Jeunesse dorée ganz offen ihre Faszination für das Tel Aviver Nachtleben äußert, weil sie nicht mehr nach Beirut reisen kann, das als zu gefährlich gilt.

Als der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat 1979 den Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete, glaubte er, sein Volk würde es ihm danken, dass er den 1967 von Israel eroberten Sinai zurückgeholt hatte. Doch er bezahlte mit seinem Leben dafür, dass er die Sache der Palästinenser abgeschrieben hatte, um den Konflikt mit Tel Aviv zu beenden. Die Zukunft wird zeigen, welche Folgen es haben wird, wenn arabische Führer die Bevölkerung des Gazastreifens im Stich lassen, weil es ihnen wichtiger ist, ihre eigene Agenda voranzutreiben.

1 Tewfik Aclimandos, „De l’armée égyptienne. Éléments d’interprétation du ‚grand récit‘ d’un acteur-clé du paysage national“, in: Revue Tiers Monde, Nr. 222, Bd. 2, Paris 2015.

2 Siehe Éva Thiébaud, „Hochgerüstet am Golf“, LMd, März 2021.

3 Erin Doherty und Dave Lawler, „Kushner calls MBS ‚visionary leader‘ who has made the world better“, ­Axios, 13. Februar 2024.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Akram Belkaïd