Was wollen die Huthis?
von Tristan Coloma
Seit Beginn der israelischen Militäroffensive in Gaza intensivieren die Huthis im Jemen ihre Angriffe auf den Schiffsverkehr in der Meerenge von Bab al-Mandab. Die an der engsten Stelle 27 Kilometer breite Meeresstraße (ihr Name bedeutet „Tor der Tränen“) trennt die Arabische Halbinsel vom Horn von Afrika. Sie muss von allen Frachtern und Tankern auf der Fahrt zum und vom Suezkanal passiert werden.
Seit dem 19. November 2023 werden Schiffe von den Huthis mit Raketen oder mit Drohnen angegriffen, manchmal sogar unter Einsatz von Helikoptern gekapert. Jahja Sari, einer der Huthi-Sprecher, begründete die Angriffe so: „Es ist unsere religiöse, moralische und humanitäre Pflicht, all jene zu unterstützen, denen in Palästina und Gaza Leid widerfährt.“
Bis Ende Februar 2024 wurden 37 Angriffe auf kommerzielle Schiffe registriert.1 Mitte Dezember beschlossen mehrere Frachtreedereien unabhängig voneinander, ihre Flotten statt durch den Suezkanal auf die Route um das Kap der Guten Hoffnung zu schicken.2 Den Welthandel bringt das gehörig durcheinander: Nach Zahlen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) passieren derzeit pro Tag 200 000 Container das Rote Meer; vor Beginn der Angriffe waren es 500 000.3
Die Meerenge ist für den globalen Gütertransport enorm wichtig. Durch das „Tor der Tränen“ laufen 12 Prozent des Welthandels und 30 Prozent aller Containertransporte. Was Erdöl und Flüssigerdgas (LNG) betrifft, so passieren im Schnitt 4 bis 8 Prozent des globalen LNG-Tankervolumens das Rote Meer und den Suezkanal; die Rohöltransporte belaufen sich auf 8 Millionen Barrel pro Tag.
Die Meerenge von Bab al-Mandab ist nicht nur die Hauptschlagader des Welthandels, sondern auch seine Achillesferse. Um den Schiffsverkehr im Golf von Aden, also die Zufahrt zum Bab al-Mandab, vor Terrorangriffen und Piratenüberfällen zu schützen, wurden zu Beginn der 2000er Jahre private Sicherheitsdienste angeworben, deren bewaffnetes Personal auf den Handelsschiffen mitfuhren. 2008 hat dann der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1816 fremde Staaten ermächtigte, in somalischen Hoheitsgewässern die Piraterie zu bekämpfen. Daraufhin wurde Ende 2008 die EU-Marinemission „Atalanta“ gestartet, die von Dschibuti aus an der See- und Luftraumüberwachung im Golf von Aden mitwirkt.
Die Ausstattung dieser Mission ist jedoch dürftig: „Derzeit verfügt die Mission zur Überwachung eines riesigen Seegebiets faktisch nur über zwei Schiffe und zwei Flugzeuge“, meint ein Experte. Auch die im April 2022 gegründete Combined Task Force 153 (CTF-153), die unter Führung der USA von Bahrain aus operiert, wurde nicht verstärkt, soll aber ein Seegebiet sichern, das von Ägypten und Saudi-Arabien bis nach Oman reicht.
Laut dem CTF-153-Kommandeur, Vizeadmiral Brad Cooper, soll seine Task Force die vorhandene Flotte effizienter einsetzen, statt einfach mehr Schiffe und Flugzeuge anzufordern.4 Auch bei der EU-Mission „Atalanta“ ist man mit der Effizienz nicht zufrieden, was nach Aussage eines gut vernetzten Experten vor allem am mangelhaften Informationsaustausch zwischen den beteiligten Akteuren liegt.
Mit dem „SHADE Forum“ (Shared Awareness and Deconfliction) wurde zwar eine Plattform für den Austausch zwischen Europäern und Amerikanern geschaffen, an der auch die Schifffahrtsbranche beteiligt war. Auch mit diesem Mittel wollte man der Piraterie und allen sonstigen Gefahren für die Sicherheit des Seeverkehrs begegnen. Doch in der Praxis erwiesen sich die Rivalitäten zwischen den Streitkräften als Hemmschuh jeglicher Kooperation. Die Plattform verlor jede praktische Bedeutung.
Die Huthi-Rebellen, die dem Zaidismus, einer der drei Hauptströmungen der schiitischen Glaubensrichtung, angehören, stürzten im September 2014 die Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi und übernahmen die Macht in Sanaa. Ein destabilisierender Faktor sind sie also nicht erst seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen. Die Huthi-Führung beschließt ihre Aktionen im Einvernehmen mit dem Regime in Teheran und den iranischen Revolutionsgarden wie auch mit der libanesischen Hisbollah.
Die iranische Regierung weist allerdings den Vorwurf der USA zurück, es habe bei den Angriffen im Roten Meer seine Finger im Spiel. Der stellvertretende iranische Außenminister Ali Bagheri erklärte am 23. Dezember, die Huthis seien eine eigenständige Kraft und entschieden „entsprechend ihrer Kapazitäten selbst über ihre Aktionen“.5
Für Iran zählten die Huthis während der vergangenen zehn Jahre vor allem im Hinblick auf die Rivalität mit Saudi-Arabien. Zum Beispiel mit ihrem Angriff auf zwei Ölanlagen des saudischen Ölriesen Aramco in Abqaiq und Churais im September 2019. Jetzt bietet sich Teheran mit dem Gazakrieg Israels erneut die Gelegenheit, seinen Einfluss im Roten Meer mittels des jemenitischen Verbündeten auszuweiten.
„Die Huthis wurden seit 2010 von den Revolutionsgarden ausgebildet und mit Waffen versorgt“, sagt eine vertrauliche Quelle mit Kontakten zum Geheimdienst der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die eine führende Rolle in der Anti-Huthi-Koalition spielen. Der Widerstand der Rebellen richte sich zum einen gegen die saudisch-emiratische Koalition, die gegen sie kämpft, zum anderen auch gegen die reguläre jemenitische Armee. Laut dieser Quelle sind die Kämpfer, die ursprünglich aus dem gebirgigen Nordwesten des Jemen stammen, inzwischen zu Seeleuten geworden. Damit hätten sie sich ihre finanzielle Unabhängigkeit gesichert, um ihre üblen Aktivitäten fortsetzen zu können: „Sie agieren auf der gesamten Arabischen Halbinsel und am Horn von Afrika mit Waffen, Drogen, Mineralien, Kohle und selbstverständlich auch mit Menschen.“ So habe sich die jemenitische Gruppe auch von Teheran emanzipiert.
Nach Angaben der israelischen Armee haben die Huthis seit Beginn des Gazakriegs rund 100 Drohnen und ballistische Raketen auf Israel abgefeuert. In seinem neuesten Bericht vom Februar 2023 fordert das vom UN-Sicherheitsrat berufene Expertengremium für den Jemen, die Sanktionen gegen die Gruppierung aufrechtzuerhalten. Deren Angriffe gegen Saudi-Arabien und die VAE hatte der UN-Sicherheitsrat ein Jahr zuvor scharf verurteilt.
Mit ihrer Unterstützung für die Palästinenser dürften es die Huthis ernst meinen, aber ihre Angriffe auf Frachtschiffe sind vor allem im Hinblick auf die Verhandlungen für ein Friedensabkommen zu sehen, die zwischen ihnen und der jemenitischen Regierung unter der Schirmherrschaft Saudi-Arabiens laufen. Die Rebellen streben eine De-facto-Anerkennung an, um sich sodann auf internationaler Ebene als die einzige legitime Stimme des jemenitischen Volks darzustellen.
Am 23. Dezember erklärte Hans Grundberg, der UN-Sondergesandte für den Jemen, die Regierung und die Huthis hätten sich auf die Perspektive eines Friedensprozesses verständigt. Dennoch bedrohen die Rebellen weiterhin Handelsschiffe, die die Meerenge von Bab al-Mandab passieren. Ihre Unnachgiebigkeit lässt erkennen, dass keiner der Protagonisten an die unterzeichnete Einigung glaubt.
Für Thomas Juneau von der Universität Ottawa sind die jüngsten Gespräche eher ein Anzeichen dafür, dass Riad und seine Verbündeten mit ihrem 2015 begonnenen Krieg gegen die Huthis gescheitert sind. Und dass die Saudis ihren allmählichen Rückzug aus dem Jemen vorbereiten.6
Eigene Interessen und Unterstützung für Gaza
Während der saudische Druck auf die Huthis nachlässt, können diese zufrieden feststellen, dass die USA Probleme haben, die seit Dezember angekündigte multinationale Marine-Einsatztruppe „Prosperity Guardian“ (Hüter des Wohlstands) zu organisieren. Mehrere Länder, die schon als Mitglieder der militärischen Koalition zur Abwehr der Huthi-Angriffe im Roten Meer präsentiert wurden, wollen ihre Schiffe nicht unter US-Kommando stellen.
Am 19. Dezember 2023 stellte das französische Verteidigungsministerium in einer Pressemitteilung klar, dass Frankreich seine Fregatte „Languedoc„unter „nationalem Befehl“ halte, um seine Handlungsfreiheit zu bewahren. Dasselbe erklärte Italien, das ebenfalls mit einer Fregatte in der Region präsent ist. Spanien hatte anfangs zugesagt, erklärte dann aber, man werde nur an einer Operation unter Nato- oder EU-Mandat teilnehmen.
Die EU startete am 19. Februar ihrerseits eine „maritime Sicherheitsoperation“ namens „Eunavfor-Aspides“ und setzt damit auf „eine abschreckende und defensive Rolle“ neben „Prosperity Guardian“ – aber nicht unter deren Kommando. Australien, obgleich ein treuer Verbündeter Washingtons, verweigert die von den USA geforderte Entsendung eines Kriegsschiffs.
Indien schickte ein Kriegsschiff ins Rote Meer, um unter indischer Flagge fahrende Frachtschiffe zu schützen, allerdings ebenfalls im Alleingang. Auch China beteiligt sich nicht an „Prosperity Guardian“. Peking bleibt seiner Politik des „dreifachen Nein“ treu, von der es sich in seinem angespannten Verhältnis zu den USA leiten lässt (keine Kooperation, keine Unterstützung, keine Konfrontation). Die Huthis haben erklärt, dass sie weder chinesische noch russische Schiffe angreifen werden, vorausgesetzt, sie laufen keine israelische Häfen an.
Letztlich kann die U.S. Navy neben ihren eigenen Kräften nur auf einen Zerstörer und drei Fregatten der britischen Royal Navy setzen. Auch mit Hilfe aus der Region kann Washington nicht rechnen. Weder Ägypten noch Saudi-Arabien werden an der US-Operation teilnehmen. Nur Bahrain, wo die fünfte US-Flotte stationiert ist, ist in die Allianz eingebunden.
Einem Diplomaten einer Golfmonarchie zufolge hat der iranische Präsident Ebrahim Raisi Ende Oktober mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman „eine geheime Abmachung“ getroffen. Das Quidproquo beinhaltet „eine Nichtangriffszusage der Huthis und im Gegenzug die Nichtbeteiligung der Saudis an der US-Marine-Koalition“. Die dschibutische Regierung verweigerte der U.S. Navy die Erlaubnis, ihre Schiffe im Hafen von Dschibuti festzumachen oder den Flughafen als Stützpunkt für Luftschläge gegen Ziele im Jemen zu nutzen.
Die U.S. Navy hat ihre bislang vor der Küste Israels positionierten Kriegsschiffe in die Meerenge von Bab al-Mandab verlegt. Am 31. Dezember gab es bei Aktionen des US-Militärs gegen die Huthis einen neuen Eskalationsschritt, als von den Rebellen unter Beschuss genommene Hubschrauber das Feuer erwiderten. Dabei wurden „drei der vier kleinen Schiffe versenkt und die Besatzungen getötet“, wie das US-Zentralkommando (Centcom) für den Nahen Osten mitteilte.
Washington würde auch gern Israel und die VAE an seiner Seite sehen. Israel unterhält einen geheimen Stützpunkt in Eritrea nahe der Stadt Assab; und die VAE dürfen mit Erlaubnis des eritreischen Regimes auf der Insel Dahlak Kebir militärische Anlagen installieren, die sie von Israel beziehen. Bisher gibt es allerdings weder aus Tel Aviv noch aus Abu Dhabi eine positive Reaktion auf die Anfragen aus dem Pentagon.
Unterdessen eskaliert der Konflikt weiter, nachdem Washington die Angriffe der Huthis mit einer Demonstration der Stärke beantwortet hat. Sanaa, Haddschah, Dhamar, al-Baida, Taiz und Hodeida waren die wichtigsten jemenitischen Städte, die seit dem 12. Januar von den Amerikanern und Briten bombardiert wurden. Die Operationen lösten in der arabisch-muslimischen Welt eine Welle der Empörung aus, die auch das Nato-Mitglied Türkei erfasste. Präsident Erdoğan kritisierte den „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt gegen die Huthi-Rebellen“ und beschuldigte die USA und Großbritannien, „das Rote Meer in ein blutiges Meer zu verwandeln“.7
Eine weitere Eskalation folgte am 25. Dezember: Die Huthis verbanden die Androhung möglicher Vergeltungsaktionen gegen „Prosperity Guardian“ mit dem Hinweis, dass die Kabel für den weltweiten Internetverkehr, die durch das Rote Meer verlaufen, unter ihrer Kontrolle seien. Diese Kabelverbindungen zwischen Europa, Afrika und Asien verlaufen durch die Meerenge von Bab al-Mandab. Über die etwa 15 Kabel werden zwischen 17 und 30 Prozent des weltweiten Internetverkehrs abgewickelt.
Schon im Sommer 2016 hatten Piraten im Roten Meer einen Kabelleger angegriffen. Das Internationale Kabelschutzkomitee (ICPC) errechnete 2005, dass ein Ausfall des Seekabelnetzes 1,5 Millionen US-Dollar pro Stunde kosten würde. Heute wären die Kosten zehnmal so hoch.
Während Washington und London Mühe haben, ihre Verbündeten um sich zu sammeln, haben die Huthis bereits einige Erfolge zu verzeichnen. Sie haben es geschafft, sich zu einem internationalen Player aufzuwerten. Zudem konnten sie die – wenn auch stillschweigende – Zustimmung der meisten Mitgliedstaaten der Arabischen Liga gewinnen. Im Jemen gibt es zwar heftige Proteste gegen die Herrschaftsmethoden der Huthis, doch ihre Feinschaft zu Israel und den USA wird von der Bevölkerung größtenteils begrüßt.
3 „Frachtmenge im Roten Meer bricht ein“, IfW Kiel, 11. Januar 2024.
5 „Iran denies helping Houthis plan attacks on Israel-linked ships“, Reuters, 23. Dezember 2023.
6 „Yemen’s peace plan boosts Houthis’ regional influence“, Deutsche Welle, 29. Dezember 2023.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Tristan Coloma ist Journalist.