Mit der Kraft Sibiriens
Die Beziehungen zwischen Russland und China sind nicht so asymmetrisch, wie es der Westen gern hätte
von Arnaud Dubien
Die „grenzenlose Partnerschaft“ zwischen Russland und China, die im Februar 2022 beim Besuch von Präsident Putin in Peking verkündet wurde1 , wird im Westen mit Misstrauen beäugt. Russland werde de facto zu Chinas Vasallen, meinte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegenüber der Zeitschrift L’Opinion und drückte damit eine im Westen verbreitete Meinung aus. Es handele sich um ein unausgewogenes Scheinbündnis. Russland, das sich durch den Angriff auf die Ukraine international selbst ins Abseits manövriert habe, suche nur mangels Alternativen die Nähe zu China – um den Preis einer größeren Abhängigkeit von seinem mächtigen und unnachgiebigen östlichen Nachbarn.
In Moskau wird dies freilich ganz anders gesehen – auch wenn sich eine gewisse Frustration über ein paar wirtschaftliche Aspekte bemerkbar macht – etwa wegen der Zurückhaltung chinesischer Hightech-Unternehmen oder der schleppenden Verhandlungen über das Gaspipeline-Projekt „Kraft Sibiriens 2“, das jährlich 50 Milliarden Kubikmeter von der Jamal-Halbinsel nach China transportieren soll. Der Kreml, dem der Bruch zwischen Chruschtschow und Mao Ende der 1950er Jahre immer noch eine Lehre ist2 , spricht ohnehin nie von einem Bündnis, weil das zwischen souveränen Atommächten kein Thema sei.
Statt wie einst die „ewige Freundschaft“ der beiden kommunistischen Regime zu beschwören, die de facto nur ein Jahrzehnt anhielt, bevorzugt Moskau den nüchternen Begriff „strategische Partnerschaft“. Nach deren Formalisierung 1996 und Bestätigung durch einen Freundschaftsvertrag 2001 begann die eigentliche „Wende nach Osten“ mit der Annexion der Krim 2014. Seit der Invasion in der Ukraine vertieft sie sich zusehends.
In einer Zeit der „Entwestlichung“3 der Welt ist die russische Regierung von der Richtigkeit dieser Orientierung überzeugt. Peking hat nach Ansicht Moskaus kein Interesse an einer russischen Niederlage in der Ukraine und wird sich im Gegensatz zum Westen nicht in Russlands innere Angelegenheiten einmischen, geschweige denn dessen politisches Modell umgestalten wollen.
Der bilaterale Handel war lange die Schwachstelle der russisch-chinesischen Beziehungen. Inzwischen aber erreicht er ganz neue Größenordnungen: Er stieg von 63,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2016 auf 190 Milliarden 2022 und erreichte 2023 einen Rekordwert von 240 Milliarden.4 2022 hat China die EU als Russlands größten Handelspartner abgelöst. Im laufenden Jahr wird das Handelsvolumen mit der EU voraussichtlich unter 100 Milliarden Dollar fallen. Während die G7-Staaten offiziell kein Öl aus Russland mehr importieren, hat China seine Käufe verdoppelt. Zusammen mit Indien sorgt es damit ganz entscheidend dafür, dass der russische Staat liquide bleibt.
Zu den quantitativen kommen auch qualitative Entwicklungen: Die Entdollarisierung des Außenhandels5 hat für den Kreml strategische Priorität. Nach Angaben des russischen Ministerpräsidenten Michail Mischustin werden mittlerweile 90 Prozent des bilateralen Handels in den Währungen der beiden Länder abgewickelt. Im Dezember reiste Mischustin zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres nach China. Sein Besuch zeugt, mehr noch als die Reise von Xi nach Moskau im März 2023 und die von Putin nach Peking im Oktober, von einer Institutionalisierung der russisch-chinesischen Partnerschaft.
Die wirtschaftliche Integration beider Länder erstreckt sich auch auf den Bankensektor. Da die meisten russischen Banken vom Westen sanktioniert werden und von dem internationalen Zahlungssystem Swift abgekoppelt sind, greifen rund 30 russische Finanzinstitute auf das chinesische Äquivalent Cips (China International Payments System) zurück. Allein im Jahr 2022 hat sich der Anteil der chinesischen Anbieter im russischen Finanzsektor vervierfacht. Zu nennen sind hier insbesondere die Industrial and Commercial Bank of China, die Bank of China, die China Construction Bank sowie die Agricultural Bank of China.6
Chinesische Autohersteller ersetzten überdies schnell die westlichen Marken, die den russischen Markt verlassen haben wie Renault und Volkswagen. Sie kontrollieren inzwischen 46 Prozent der Autohäuser in Russland und haben auch bereits mit der Produktion vor Ort begonnen.7 Diese Dynamik wird von den Regierungen beider Länder nach Kräften gefördert. Bei Mischustins Besuch in Schanghai im April 2023 bestätigte sich, dass alle großen russischen Konzerne und Oligarchen, auch außerhalb der alten „China-Lobby“ – Rosneft (Erdöl), Rusal (Aluminium) und Sibur (Petrochemie) – neue Möglichkeiten im Osten suchen.
Auch wenn China keine Waffen an Russland liefert, leistet es offenbar einen erheblichen Beitrag zu dessen Kriegsanstrengungen. US-Geheimdiensten zufolge erhielt Russland mehrere Chargen von Halbleitern über in Hongkong ansässige Firmen und im ersten Kriegsjahr 12 Millionen Drohnen sowie Bauteile für Radaranlagen und Störantennen über eine usbekische Gesellschaft.8
Ein in Schanghai ansässiges Unternehmen lieferte je 100 000 kugelsichere Westen und Helme. Über die von US-Geheimdiensten freigegebenen Informationen hinaus liefert die offizielle Statistik entsprechende Hinweise: In den letzten Monaten stiegen die chinesischen Exporte von Keramik, die für die Beschichtung von Schutzausrüstungen benötigt wird, nach Russland um 70 Prozent, während sie in die Ukraine um 60 Prozent abnahmen.9
Doch nicht alles läuft rund in den russisch-chinesischen Beziehungen. Die Verhandlungen über die Gaspipeline „Kraft Sibiriens 2“ verliefen bislang ergebnislos. Putin und der für Energiepolitik zuständige stellvertretende Ministerpräsident Alexander Nowak sind jedoch zuversichtlich, dass die Pipeline angesichts des hohen chinesischen Gasbedarfs bis 2030 fertiggestellt wird.
Sie wäre eine Ergänzung der bereits bestehenden Pipeline „Kraft Sibiriens“ zwischen Jakutien und Chinas Nordosten, die nach vierjähriger Bauzeit Ende 2019 von Gazprom und der China National Petroleum Corporation in Betrieb genommen wurde. Ihre jährliche Kapazität liegt bei 38 Milliarden Kubikmetern.
Die Pipeline stellte den ersten Schritt der energiepolitischen Wende Russlands nach Osten dar, die für Gazprom mittlerweile lebenswichtig ist. Der Gasriese hat den Großteil des europäischen Markts verloren. Die Härte in der Verhandlungsführung zeigt jedoch, dass es in diesen bilateralen Beziehungen keinen Raum für Sentimentalitäten gibt.
Es gibt weitere Reibungspunkte, die die grenzenlose russisch-chinesische Partnerschaft beeinträchtigen. Die vom Kreml gegen die westlichen Sanktionen ergriffenen Maßnahmen beeinträchtigen auch die Geschäfte einiger chinesischer Unternehmen, die sowohl auf dem russischen Markt als auch in westlichen Volkswirtschaften aktiv sind. Ihnen wurde die Rückzahlung von Krediten europäischer und US-amerikanischer Banken untersagt; ebenso die Rückführung von Dividenden, wenn sie über Tochtergesellschaften in Ländern operieren, die als „unfreundlich“ eingestuft werden.
Viele chinesische Banken verweigern daher vorauseilend bestimmten russischen Unternehmen die Eröffnung von Konten, selbst wenn diese nicht von den westlichen Sanktionen betroffen sind. Auch die Wankelmütigkeit von Huawei wurde in Moskau misstrauisch beobachtet. Der Elektronikriese hatte stark in Forschung und Entwicklung in Russland investiert, dann seine Aktivitäten ausgesetzt, um sie still und leise wieder aufzunehmen. Erschwert werden die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zudem durch logistische Probleme infolge der schwachen Infrastruktur in Ostsibirien.
Der Westen betont stets das Ungleichgewicht im russisch-chinesischen Verhältnis, vielleicht um sich über das Scheitern der Sanktionspolitik hinwegzutrösten. In Zentralasien – mit Ausnahme Kasachstans – ist Russlands Stellung jedoch gefestigter als noch vor einigen Jahren. China respektiert dies und überlässt Moskau im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) die führende Rolle in der regionalen Sicherheitspolitik.10
Die bilaterale Zusammenarbeit in der Arktis, aus der Russland bislang nach Kräften andere geopolitische Akteure fernzuhalten versuchte, steht in einem angemessenen Verhältnis zu den chinesischen Investitionen und führt auf der russischen Seite zu keinem Verlust an Kontrolle oder Souveränität.
Dass Menschen aus dem überbevölkerten China nach Sibirien drängten, was seit dem Zerfall der UdSSR immer wieder in westlichen Medien kolportiert wird, ist ein Mythos, für den es keine empirischen Belege gibt. Und die offiziellen chinesischen Karten, auf denen einige russische Gebiete als chinesisch markiert sind, haben in Europa und den USA für mehr Aufregung gesorgt als in Russland selbst. Hier nahm man vielmehr die jüngste Änderung der chinesischen Politik in Hinblick auf die Kurilen-Inseln mit Genugtuung zur Kenntnis: In dem russisch-japanischen Territorialstreit gab China seine langjährige Parteinahme für Japan zugunsten einer neutralen Position auf.
Seit seinem Einmarsch in die Ukraine hat Russland keine Zugeständnisse an China gemacht, die über den Rahmen der bisherigen bilateralen Beziehungen hinausgehen. Umgekehrt unternahm die chinesische Regierung nichts, was den Kreml in Zugzwang bringen würde. Schließlich könnte sie womöglich von den militärischen Erfahrungen in der Ukraine und den Erfahrungen mit Sanktionen profitieren, meinen einige Beobachter, etwa im Falle einer militärischen Konfrontation mit den USA oder wenn sich der wirtschaftliche Druck aus Washington verstärkt.11
Russland ist in Bereichen wie der Telekommunikation zweifellos von ausländischer Technologie abhängig, doch die Abhängigkeit von China wird von Moskau für weniger gefährlich gehalten. Laut Sergej Karaganow, einem der führenden Politikwissenschaftler in Moskau, ist sein Land nicht in Gefahr, Opfer einer Bevormundung aus Peking zu werden, weil es einem „anderen kulturellen Code“ unterliege, der es vor einer zivilisatorischen Vereinnahmung schütze.12
Wird sich dies nach dem Ende der Ära Putin ändern? Vielleicht, aber wohl nur unter folgenden Bedingungen: wenn es entweder zu einer Kehrtwende nach Westen kommt oder zu einer Spaltung des Landes, beispielsweise nach einer vernichtenden militärischen Niederlage in der Ukraine. Beide Szenarien scheinen derzeit eher unwahrscheinlich. 2016 beschrieb Dmitri Trenin, damals Direktor des inzwischen geschlossenen Carnegie-Zentrums in Moskau, die russisch-chinesischen Beziehungen folgendermaßen: „Nie gegeneinander, aber auch nicht unbedingt immer miteinander.“13 Zweifelsohne wird die russische Regierung versuchen, diesen Kurs beizubehalten.
2 Siehe Serge Halimi, „Mao und die Stalinfrage“, LMd, August 2018.
5 Vgl. Renaud Lambert und Dominique Plihon, „Dollar ciao“, LMd, November 2023.
11 Mikhail Korostikov, „Is Russia really becoming China’s vassal?“, Carnegie politika, 6. Juli 2023.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Arnaud Dubien ist Direktor des Observatoire franco-russe in Moskau, Forscher am Institut de relations internationales et stratégiques (Iris) und Berater am Institut Choiseul.