Gefährliche Umarmung
Die Regierung in Budapest versucht die ungarische Minderheit in der Ukraine zu instrumentalisieren
von Corentin Léotard
Von Budapest ist man in drei Stunden an der ukrainischen Grenze, die bei der Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie im Vertrag von Trianon festgelegt wurde. Gleich hinter der Grenze liegt die Kleinstadt Berehowe, ein wichtiger Ort für die ungarische Minderheit in der Ukraine. Die Hauptstadt liegt mehr als 1300 Kilometer entfernt; die Uhr stellt man in diesem südwestlichsten Winkel des Landes nicht nach Kyjiwer Zeit, es gilt die „westliche“, die „Budapester“ Zeit, wie die Leute hier sagen.
Wie in vielen ungarischen Städten gibt es auch im Zentrum der 25 000-Einwohner-Stadt einen Heldenplatz (Hősök), doch die Helden hier sind Ukrainer (Heroyiv). Eine Gedenktafel zeigt die Gesichter der hundert Toten der Maidan-Revolution vor zehn Jahren. Auf dem Obelisken, der die Namen der Toten des Zweiten Weltkriegs trägt, wurden kürzlich 20 hinzugefügt: Söhne der Stadt, die seit dem 24. Februar 2022 gefallen sind.
Bei Bürgermeister Zoltán Babják, der sich als „Ungar und ukrainischer Patriot“ vorstellt, weht neben der Nationalflagge die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Diese von dem Nationalisten und Antisemiten Stepan Bandera angeführte Truppe war während des Zweiten Weltkriegs mal Gegner, mal Verbündeter der Nazis gegen die Sowjetunion. Die UPA verübte zahlreiche Massaker an jüdischen und polnischen Zivilisten.1
Die ungarische Minderheit leidet unter den immer schlechteren Beziehungen zwischen Budapest und Kyjiw. Seit 2012 stellt Ungarn massenhaft ungarische Pässe im Ausland aus, während die Ukraine die doppelte Staatsbürgerschaft verbietet. 2017 beschloss das ukrainische Parlament per Gesetz, den Schulunterricht auf Ungarisch zu beschränken. Die Spannungen haben sich seit Kriegsbeginn noch verschärft, weil Budapest seine guten Beziehungen zu Moskau nicht gefährden will und die Ukraine-Hilfe der Europäischen Union zu blockieren versuchte.2
Auf dem Markt von Berehowe, der vor allem von alten Menschen aufgesucht wird, ist Ungarns Staatschef Viktor Orbán unter den ungarisch Sprechenden immer noch populär. „Hier unterstützen alle Orbán“, behauptet József, ein Rentner, der seit 20 Jahren sein selbst angebautes Gemüse auf dem Markt verkauft. „Wir tun den Ukrainern nichts, sie sind es, die uns angreifen, indem sie uns daran hindern wollen, unsere Sprache zu sprechen.“ Die Umstehenden nicken. Gleich darauf spricht er einen Kunden auf Ukrainisch an. Auch wenn die Alten in den Dörfern manchmal ausschließlich Ungarisch sprechen, ist Mehrsprachigkeit üblich. Mühelos wird zwischen Ungarisch, Ukrainisch oder Russisch gewechselt.
„Durch den Krieg sind die jungen Leute weg. Die Alten mit ihren erbärmlichen Renten können bei mir nicht viel kaufen“, beklagt sich József. Seine beiden Kinder leben in Deutschland, wie viele der ungarischen Community seit Kriegsbeginn. Viele Männer im kampffähigen Alter nutzten ihre ungarischen Pässe, um zu fliehen, bevor sich ein paar Wochen später auch für sie die Grenze schloss.
Dieser Teil der südwestlichen Karpaten stand im Lauf der Jahrhunderte unter verschiedenen Landeshoheiten (siehe Karten). Zu Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie hieß das Gebiet „subkarpatisches Ruthenien“, es entspricht der heutigen ukrainischen Oblast Transkarpatien. Auf dem Friedhof am Ortsrand markieren ukrainische Fahnen die frischen Soldatengräber. Ungarische, russische, ukrainische, slowakische, deutsche und jüdische Grabmale zeugen von ethnischer Vielfalt.
Bei der letzten Volkszählung von 2001 waren 80 Prozent der Bevölkerung der Oblast Ukrainer – zu denen auch die Ruthenen zählen, die der unierten griechisch-katholischen Kirche angehören. Ungarische Muttersprachler bildeten mit 12,7 Prozent die größte Minderheit, hinzu kamen 2,5 Prozent Russen, ebenso viele Rumänen, meist ungarischsprachige Roma, die sich als Ungarn bezeichnen, sowie ein paar tausend Slowaken und Deutsche.
Dreisprachig in Transkarpatien
Der für Minderheiten zuständige Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, Levente Magyar, stellt die ungarische Sichtweise folgendermaßen dar: „Seit dem Ausbruch des Kriegs im Donbass 2014 bemüht sich Kyjiw um die Stärkung des nationalen Zusammenhalts und will die Hegemonie der ukrainischen Sprache durchsetzen. Natürlich geht es vor allem darum, den Einfluss der russischen Kultur zurückzudrängen. Aber auch die anderen Minderheiten haben Rechte verloren, die sie zum Teil schon zu Sowjetzeiten genossen hatten. Sie sind Kollateralopfer dieses historischen Kampfs zwischen dem ukrainischen Nationalismus und dem russischen Kulturerbe.“
Durch geleakte E-Mails von Wladislaw Surkow, Putins 2020 entlassenen Chefberater, kamen Details darüber ans Licht, wie Moskau seit 2016 versucht hat, die Ukraine zu destabilisieren: Der Kreml wollte interethnische Konflikte in Transkarpatien schüren, indem er nationalistische Forderungen unterstützte.3 Nach der Annexion der Krim 2014 demonstrierte in Budapest die prorussische rechtsextreme Partei Jobbik, die damals Orbáns Fidesz ernsthaft Konkurrenz machte, und forderte die Unabhängigkeit Transkarpatiens.
Und nach einem Brandanschlag 2018 im ungarischen Kulturzentrum von Uschhorod, Hauptstadt der Oblast, machte Budapest etwas voreilig den „ukrainischen Extremismus“ dafür verantwortlich. Videos offenbarten, dass die Täter allerdings drei Polen waren, die der rechtsextremen prorussischen Gruppe Falanga angehören. Zwei von ihnen hatten aufseiten der Separatisten im Donbass gekämpft. Beim Gerichtsverfahren in Polen erklärte einer der Angeklagten, ein Deutscher habe sie beauftragt: Manuel Ochsenreiter (1976–2021), damals Fachreferent eines AfD-Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiter rechter Medien wie Sezession, der sich daraufhin nach Russland absetzte.4
„Russland glaubt wirklich, Transkarpatien sei eine Region mit ethnischen Spannungen, die man schüren könne. Nicht ohne Erfolg, wie es scheint“, sagt der Politologe Dmytro Tujanski: „Selbst in der Ukraine glaubt inzwischen ein Teil der Bevölkerung, dass es ethnische Probleme und einen ungarischen Separatismus gibt.“ Er hat mit einer Gruppe von Wissenschaftlern das Phänomen untersucht und „nichts gefunden. Das Zusammenleben zwischen den Ethnien funktioniert hervorragend, es gibt nicht die geringsten Spannungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, das ist bemerkenswert!“
Mehrere ukrainische Abgeordnete und hohe Regierungsmitglieder wie die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk5 und der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine Oleksij Danilow werfen Ungarn irredentistische Bestrebungen vor oder unterstellen gar, es stecke mit Russland unter einer Decke, um das einstige subkarpatische Ruthenien zurückzubekommen.
In den letzten 30 Jahren hat Budapest tatsächlich Vorhaben für die kulturelle und territoriale Autonomie der ungarischen Minderheit unterstützt. Angesichts des Separatismus im Donbass stießen sie in Kyjiw jedoch auf taube Ohren und verschwanden wieder in der Versenkung. Das Misstrauen aber bleibt – wenn etwa Budapest ungarische Bildungs- und Kultureinrichtungen in Transkarpatien großzügig unterstützt oder offizielle Vertreter bei diversen Anlässen Karten von Groß-Ungarn präsentieren, wie Orbán beim Fußballmatch Ungarn – Griechenland im November 2022.
Im Dezember 2023 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Weg für Minderheitenrechte ebnet, wie sie von Ungarn und Rumänien gefordert und vom Europarat unterstützt werden. Budapests geopolitischer Balanceakt schwächt jedoch die Position der ungarischen Minderheit in der Ukraine. Am 15. Dezember 2023 verließ der ungarische Ministerpräsident demonstrativ den EU-Gipfel, als die Abstimmung über die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine anstand, die von den 26 anderen Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen wurde.
Unverhohlen erklärt Orbán, dass jede westliche Finanz- und Militärhilfe vergeblich sei und den diplomatischen Ausweg aus einem Krieg, den die Ukraine nicht gewinnen könne, nur verzögern würde. Zwar gab er nach, als die Staats- und Regierungschefs der EU am 1. Februar 2024 einstimmig eine finanzielle Unterstützung der Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro über vier Jahre beschlossen, droht aber weiterhin mit seinem Veto in Fragen, die die Ukraine betreffen.
Misstrauen in Kyjiw
Die ungarische Minderheit in der Ukraine ist jedoch nicht monolithisch – deren Vertreter haben die Regierung Orbán sogar öffentlich aufgefordert, der Annäherung der Ukraine an die EU keine Steine in den Weg zu legen.
Trotzdem zweifelt man in Kyjiw an der Loyalität der ungarischen Gemeinde. Der Gouverneur der Oblast Transkarpatien Viktor Mikita ist Mitglied in Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ und versichert: „Es gibt hier keine Separatisten und keine Extremisten. Seit dem 24. Februar 2022 haben alle in der Ukraine gesehen, dass es keine Probleme mit den Minderheiten gibt.“ Mikita lobt den friedlichen Multikulturalismus in Transkarpatien, die Aufnahmebereitschaft und Solidarität der Bewohner – vor allem der ungarischen – gegenüber den Binnenflüchtlingen und die vielen hundert Soldaten ungarischer Herkunft, die als Freiwillige in der ukrainischen Armee kämpfen.
Zahlen kann er allerdings nicht nennen. In seinem Büro in der Regionalverwaltung in Uschhorod hängen die Fahnen regionaler Kampfeinheiten mit den Unterschriften der Soldaten. Eine davon gehört der Drohneneinheit Madyar’s Birds. Ihr Kommandeur ist Mikitas Freund Robert Brovdi, der sich „Madyar“ (Ungar auf Ukrainisch) nennt. „Ohne die ungarische Minderheit ist Transkarpatien nicht mehr Transkarpatien“, fasst der Gouverneur zusammen.
Allerdings schrumpft die ungarische Minderheit in der Ukraine: 2001 wurden noch 150 000 Ungarischstämmige gezählt, 2017 waren es schätzungsweise 130 0006 und vor Kriegsausbruch 2022 laut dem Onlinemagazin Magyar Hang nur noch rund 100 000.7 Genaue Statistiken gibt es nicht, aber der ungarische Außenminister schätzt, dass seither „mehrere zehntausend Personen dieser Minderheit die Ukraine verlassen haben“.
Zugleich ist Transkarpatien – von den Kämpfen verschont – eine Zuflucht für unzählige Binnenflüchtlinge. Zwar sind viele, die zu Kriegsbeginn kamen, in ihre Heimatorte zurückgekehrt, die die Ukraine im Herbst 2022 in den Regionen Charkiw und Cherson zurückerobert hat, aber etwa 300 000 Menschen sind geblieben. Auch 400 Unternehmen aus den besetzten Gebieten wurden in die Region verlagert, wie Gouverneur Mikita berichtet.
Die Situation erinnert an die Folgen der Jugoslawienkriege im Norden Serbiens, wo die ungarische Minderheit in der Wojwodina zwischen 1948 und 1991 von 433 000 Personen auf 343 000 und bis 2022 weiter auf 184 000 Personen geschrumpft ist.8 „Die Situation ist anders, aber die Folgen könnten in der Ukraine die gleichen sein: eine Marginalisierung der Ungarn in der lokalen und regionalen Politik. Es gibt realistische Befürchtungen, dass nach Kriegsende Transkarpatiens kulturelle und ethnische Wirklichkeit eine ganz andere sein wird“, meint der Budapester Staatssekretär Levente Magyar.
„In meiner Jugend in den 1990er Jahren genossen die Ungarn in der Ukraine hohes Ansehen“, erinnert sich der Uschhoroder Schriftsteller Andriy Ljubka, der freiwillig in der Armee dient. „Heute droht der Minderheit eine Ghettoisierung. Ungar zu sein gilt manchmal als Schande. Orbáns Politik untergräbt die Minderheit, seine Umarmung erstickt sie“, meint er. „Das ist ein entscheidender Moment für die Ukrainer, aber auch die Ungarn müssen wichtige Entscheidungen treffen. Manche jungen Leute haben beschlossen, sich als Ukrainer zu definieren, andere nicht, und von denen werden viele fortgehen, wenn die Grenze wieder offen ist.“ So wird dieser Krieg auch das Erbe einer der multikulturell reichsten Regionen Europas beschädigen.
2 Siehe Corentin Léotard, „Putins Freund“, LMd, Dezember 2022.
4 Siehe Sabine am Orde, „Spur nach Deutschland“, taz, 23. Februar 2020.
7 Siehe Magyar Hang, 27. Mai 2022.
8 Volkszählung 2022, Statistisches Institut der Republik Serbien, Belgrad 2023.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Corentin Léotard ist Chefredakteur der Onlinezeitung Courrier d’Europe centrale, Budapest.