Geschichte als Kriegswaffe
von Benoît Breville
Es ist wie beim Ratespiel „Finde die Unterschiede“ – nur umgekehrt: Das Ziel ist nicht, in zwei nahezu identischen Bildern die Abweichungen, sondern in zwei unterschiedlichen Vorlagen das Übereinstimmende aufzuspüren. Besonders beliebt ist dieses Spielchen in Zeiten des Krieges. Kommentatorinnen und politische Entscheidungsträger durchstöbern die Vergangenheit nach Beispielen, aus denen sich – so mühsam es sein mag – Parallelen zur aktuellen Situation ziehen lassen.
Seit zwei Jahren wird der Krieg in der Ukraine mit allem Möglichen verglichen: mit dem Ersten Weltkrieg (auch ein Stellungskrieg in schlammigen Schützengräben); mit der Kubakrise im Oktober 1962 (ebenfalls die Gefahr einer atomaren Vernichtung); mit den sowjetischen Militärinterventionen in Berlin (1953), Budapest (1956), Prag (1968) und Afghanistan (1979 –1989); oder auch mit dem Kosovokrieg (1998/99), als die Kosovo-Albaner für ihre Unabhängigkeit von Serbien kämpften.
Wolodymyr Selenskyj und seine PR-Leute sind gut in diesem Spiel mit der Geschichte. Sie setzen historischen Tragödien – wie den Holodomor von 1932/33, Stalins Großen Terror, die Konflikte in Afghanistan, Tschetschenien oder Syrien, selbst den AKW-Unfall von Tschernobyl – in Beziehung zur aktuellen russischen Invasion in der Ukraine: Dabei weiß der ukrainische Präsident seine historischen Querverweise auf die jeweils angesprochene Zielgruppe abzustimmen. Vor dem US-Kongress beschwor er den japanischen Überfall auf Pearl Harbor 1941 und die Anschläge vom 11. September 2001, im belgischen Parlament die Schlacht von Ypern. In Madrid war es der Spanische Bürgerkrieg und das Massaker von Guernica, in Tschechien der Prager Frühling.1
Je dramatischer das Ereignis, desto wirkungsvoller die Analogie, die Empathie und Zustimmung erzeugen soll. Der häufigste aller historischen Bezüge ist der Zweite Weltkrieg, und zwar auf beiden Seiten. Putin beschwört den „Großen Vaterländischen Krieg“ und bezeichnet alle seine Feinde als „Nazis“. Er selbst wird wiederum mit Adolf Hitler gleichgesetzt, Mariupol mit Stalingrad, die Annexion der Krim mit der Annexion des Sudetenlands.
Ein Dauerbrenner ist das Münchner Abkommen vom September 1938, also die Appeasement-Politik, mit der Großbritannien und Frankreich dem Dritten Reich den Westen der Tschechoslowakei auslieferten, in der Hoffnung, Hitlers Expansionsdrang zu bremsen.
Seither steht Appeasement für Feigheit und Verrat. Der Begriff wird benutzt, um Kräfte zu diskreditieren, die eine kriegerische Eskalation durch Beschwichtigungen aufhalten wollen und für Kompromisse eintreten. So geschah es mit den Stimmen, die sich 1956 in der Suezkrise gegen die Intervention Frankreichs und Großbritanniens erhoben, oder in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg und 1990/91 gegen den Golfkrieg. Sogar Frankreichs Präsident de Gaulle wurde in die „Nie wieder München“-Kategorie gesteckt, als er 1962 mit den Verträgen von Evian die Kämpfe in Algerien beendete.
Diese Flut von Analogien ist keine bloße Rhetorik. Mitunter hat die Wahl der historischen Vergleiche konkreten Einfluss auf strategische Entscheidungen. Wie der Politikwissenschaftler Yuen Foong Khong aufzeigt, hat im Kalten Krieg die Erinnerung an das Münchner Abkommen das Denken und die Argumentation der politischen Führung der USA im Hinblick auf Vietnam so stark beeinflusst, dass ihr die militärische Intervention als schiere Notwendigkeit erschien.
Hätte man sich in Washington stattdessen an die französischen Indochina-Erfahrungen der 1950er Jahre und die Niederlage von Dien Bien Phu erinnert, hätte man wahrscheinlich vorsichtiger agiert. Doch „Spitzenpolitiker sind lausige Historiker“, schreibt Yuen Foong Khong: „Ihr Repertoire an geschichtlichen Parallelen ist so begrenzt, dass sie die falschen Analogien wählen und anwenden.“2
Die Relevanz der München-Parallele steht in keinem Verhältnis zu ihrer Präsenz in der öffentlichen Diskussion. Das gilt besonders in Bezug auf die Ukraine. Es stimmt zwar, dass Europa abermals einen Invasionskrieg erlebt, doch damit endet die Gemeinsamkeit. Alles andere ist anders.
Das beginnt bereits bei den Akteuren: Nazideutschland stellte als Militärmacht eine ganz andere Bedrohung dar als das heutige Russland, konnte es doch innerhalb weniger Monate die Tschechoslowakei, Polen, die Niederlande, Belgien und Frankreich erobern. Putins Truppen dagegen haben es in zwei Jahren nicht vermocht, Kyjiw einzunehmen, und es ist schwer vorstellbar, dass sie den Krieg auf mehrere Fronten ausweiten und die Nato angreifen.
Ein zweiter Unterschied ist das strategische Ziel: Hitler folgte seiner Lebensraum-Ideologie, wonach Nazideutschland weite Territorien erobern müsse; er konnte nicht ernsthaft die Behauptung aufstellen, Deutschland werde von einem feindlichen Militärbündnis bedroht. Putin dagegen fühlt sich bedroht. Hitler ließ sich in seinem Expansionsdrang von nichts und niemandem aufhalten. Das hatte Frankreichs Regierungschef Édouard Daladier 1938 absolut begriffen: Er wollte mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens vor allem Zeit gewinnen, um seine Armee auf die unvermeidliche Konfrontation vorzubereiten. Hinter dieser Strategie stand damals fast die gesamte politische Klasse, bis auf die Parlamentsfraktion der Kommunisten.
Der dritte Unterschied ist der internationale Kontext: Die Welt ist heute stärker als damals von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägt, zudem hat die atomare Bedrohung das globale Kräftegleichgewicht erheblich verändert.
Angesichts dessen ist es absurd, die heutige Situation in Analogie zum Münchner Abkommen erklären zu wollen. Doch historische Vergleiche haben es nun einmal an sich, dass sie solche Unterschiede ignorieren. Der französische Historiker Marc Bloch (1886–1944) bezeichnete hingegen genau „das Erfassen der Unterschiede“ als wohl wichtigstes Ziel der vergleichenden Methode, die es ermögliche, die „Besonderheiten von gesellschaftlichen Systemen“ im innersten Kern zu erfassen.3 Nach Bloch können Analogien fruchtbar sein, weil sie helfen, über das Partikulare hinaus allgemeine Regeln zu erkennen.
Das erfordert allerdings Präzision und Gründlichkeit – und beides fehlt vielen so übereifrigen und wie denkfaulen Kommentatoren. Wer sich diese Perspektive zu eigen macht und Konflikte in ihrer Verschiedenheit in den Blick nimmt, bekommt ein ganz anderes Gesamtbild und erkennt bestimmte wiederkehrende Phänomene – wie die Diskreditierung abweichender Stimmen, die sich im Lauf der Geschichte schließlich als richtig erweisen; wie die Tendenz, jede Krise als „existenziell“ darzustellen; wie die Diabolisierung des Gegners.
Unter einem solchen Blickwinkel erweist sich der Zweite Weltkrieg – der obligatorische Bezugsrahmen in jeder internationalen Krise – nicht als Regel, sondern als Ausnahme. Es gab und gibt nicht viele Konflikte, bei denen die Schuld so eindeutig zuzuordnen ist. Dieser Krieg brach aus, weil die eine Seite ihren teuflischen, durch und durch bösen Weltherrschaftsplan vorangetrieben hat; und er endete entsprechend einseitig mit der totalen Niederlage der Besiegten und dem Selbstmord beziehungsweise der Hinrichtung der Hauptschuldigen. Diese Gut-Böse-Konstellation taugt in einer karikaturesken Zuspitzung als ideales Instrument zur Rechtfertigung militärischer Interventionen. Aber die Vergleiche sind schief.
Kriege entstehen häufig aus Eskalationsprozessen, an denen zumindest teilweise mehrere Akteure beteiligt sind. Diese Erkenntnis setzt sich manchmal erst nach jahrzehntelangen Forschungen durch, wenn die Propaganda verstummt ist. Zum Beispiel galt Deutschland lange als allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg: Das Kaiserreich hatte den Rüstungswettlauf befeuert, es hatte Österreich-Ungarn nach dem Attentat von Sarajevo zum Angriff auf Serbien ermuntert und Belgien überfallen.
Heute ist unbestritten, dass auch das zaristische Russland eine Mitverantwortung trug, weil es insbesondere den serbischen Nationalismus befördert hatte. Gleiches gilt für Frankreich, wo ein Großteil der politischen Klasse nach der Niederlage von 1870 und dem Verlust von Elsass-Lothringen auf Revanche aus war. Deutschland habe „die Lunte an das Pulverfass gelegt“, sei aber „nicht der Einzige gewesen, der das Pulverfass befüllt hat“, resümiert der Historiker Gerd Krumeich.4
Das ist bei den meisten Konflikten so. „Heute sind wir uns alle einig, dass für den Krieg die russische Regierung die Hauptverantwortung trägt, weil sie beschlossen hat, in die Ukraine einzumarschieren“, schreibt der britische Politikwissenschaftler Anatol Lieven.5 Er stellt jedoch die Frage, „ob auch künftige Historiker allein Russland verantwortlich machen und die USA und die Nato völlig von dem Vorwurf freisprechen werden, dass sie mit ihrem Versuch der Westintegration der Ukraine das bedroht haben, was Moskau als vitale russische Interessen betrachtete; worauf sowohl russische als auch zahlreiche westliche Experten (einschließlich des gegenwärtigen CIA-Chefs William Burns) warnend hingewiesen haben“.
Häufig enden Kriege nicht mit der Vernichtung einer Konfliktpartei. Die Kriegsparteien streben dieses Ziel zwar an, aber wenn sie es nicht erreichen, lassen sie sich am Ende auf Kompromisse ein, verzichten auf bestimmte Forderungen und schließen heikle Friedensverträge ab, die für alle Beteiligten frustrierend sind.
Es kommt aber auch vor, dass das Streben nach dem totalen Sieg in eine strategische Sackgasse führt, wenn sich eine der Parteien an ihren eigenen Erfolgen berauscht – bis die überzogenen Ambitionen zum Bumerang werden. Ein Beispiel: 1950 wollten die USA mit dem Eingreifen in den Koreakrieg die nordkoreanischen Truppen über den 38. Breitengrad nach Norden zurückdrängen. Nachdem sie dieses Ziel problemlos erreicht hatten, setzten sie sich als nächstes Ziel die Wiedervereinigung Koreas unter ihrer Ägide. Also rückten die Truppen von General MacArthur nach Norden vor, überschritten die Demarkationslinie und näherten sich der chinesischen Grenze. Das rief Peking auf den Plan, das eine 1,5 Millionen starke „Volksfreiwilligenarmee“ mobilisierte. Einige Wochen später eroberten die Kommunisten Seoul zurück. Es folgten ein zweijähriger Stellungskrieg und am Ende die Rückkehr zum Status quo vor dem Krieg.
Mit einer Rückkehr zum Ausgangspunkt endeten auch der indisch-pakistanische Krieg (1965) und der iranisch-irakische Krieg (1980), Letzterer nach acht Jahren mit einer Million Toten und ohne Sieger.
2023 hat Wolodymyr Selenskyj, nachdem die Ukraine die Schwachstellen der russischen Armee ausgemacht hatte, mit der Unterstützung westlicher Regierungen die eigenen Kriegsziele weiter gefasst. Damals sprach er im Einklang mit US-Präsident Joe Biden, der von der „Zukunft der Freiheit“ redete, vom „totalen Sieg“.
Doch nach dem Scheitern ihrer Gegenoffensive im Donbass musste die Ukraine feststellen, dass sie diese Region nicht so leicht wieder unter ihre Kontrolle bringen würde, geschweige denn die Krim. Es sei denn, die USA und europäische Nato-Partner würden militärisch eingreifen, mit ungewissen Folgen für den ganzen Planeten.
Früher oder später werden Kyjiw und Moskau sich dazu durchringen müssen, miteinander zu verhandeln. Die anderen Staaten könnten sie dazu ermuntern, statt Öl ins Feuer zu gießen – was den Krieg um Jahre verlängern und Zehntausende weiterer Menschenleben kosten würde.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld