08.02.2024

Das internationale Recht des Stärkeren

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Das internationale Recht des Stärkeren

Eine kurze Geschichte des Völkerrechts von Grotius bis zur UN-Charta

von Perry Anderson

Leanne Shapton, aus der Serie Weather, Nr. 4, 2015, Fassadenfarbe auf Holz, 15 × 20 cm
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Beim Begriff Völkerrecht denkt man heute unweigerlich an die Beziehungen zwischen souveränen Staaten. In der westlichen Welt gelten die Westfälischen Verträge, die das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 besiegelten, als Beginn der Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen. Doch lange vor diesem Datum gab es bereits einen Textkorpus zu diesem Thema, beginnend mit den Schriften des spanischen Theologen Francisco de Vitoria aus den 1530er Jahren. Vitorias Interesse galt weniger den Beziehungen zwischen den Staaten Europas, von denen Spanien der weitaus mächtigste war. Sein Fokus lag vielmehr auf den Beziehungen zwischen den Bevölkerungen Europas, insbesondere natürlich Spaniens, und den Menschen in den neu entdeckten Weiten Süd-, Mittel- und Nordamerikas.

Ausgehend vom römischen ius gentium, dem „Recht der Völker“, erörterte Vitoria die möglichen Rechtfertigungen für die Besitznahme der Neuen Welt. Stand den spanischen Eroberern dieses Recht zu, weil das beanspruchte Land unbewohnt war? Weil der Papst es der spanischen Krone zugesprochen hatte? Weil es die Pflicht der Christen war, die Heiden – notfalls mit Gewalt – zu bekehren?

Vitoria verwarf all diese Gründe und brachte einen anderen vor: Die Wilden Amerikas hätten das ius communicandi verletzt – ein universelles Recht, das die Reise- und Handelsfreiheit begründete, aber auch die Berechtigung, den Ureinwohnern die christliche Wahrheit zu predigen. Weil die Indianer, wie die Konquistadoren sie nannten, die Ausübung dieser Freiheiten behinderten, hätten die Spanier jedes Recht, bewaffnete Gewalt auszuüben, Festungen zu bauen und Land zu konfiszieren. Wer sich dem widersetzte, galt als ärgster Feind und verdiente es, ausgeplündert und versklavt zu werden.1 Kurz gesagt: Die spanische Herrschaft war vollkommen legitim.

Die erste Säule der noch weitere 200 Jahre als „Recht der Völker“ firmierenden Rechtsordnung wurde also zur Rechtfertigung der spanischen Eroberungen errichtet. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts fügte der niederländische Diplomat Hugo Grotius eine zweite, noch wichtigere Säule hinzu.

Grotius ist heute vor allem für eine allgemein bewunderte Abhandlung von 1625 bekannt: „Über das Recht des Krieges und des Friedens“ („De jure belli ac pacis“). Maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Völkerrechts nahm er aber erstmals mit seiner 20 Jahre älteren Schrift „Über das Prisenrecht“ („De jure praedae“).Hier entwickelte Grotius die juristische Begründung für eine beispiellose Plünderung, die in ganz Europa Aufsehen erregt hatte. Ein Cousin von Grotius, Kapitän in Diensten der Niederländischen Ostindien-Kompanie, hatte ein portugiesisches Schiff überfallen und die Ladung beschlagnahmt: Kupfer, Seide, Porzellan und Silber im Wert von 3 Millionen Gulden, was dem damaligen Jahreshaushalt Englands entsprach.

Im 15. Kapitel seines Essays, das später separat unter dem Titel „Die Freiheit der Meere“ („Mare Liberum“) veröffentlicht wurde, erklärte Grotius die Hohe See zu einer Zone uneingeschränkter Freiheit – für die Staaten und für die Handelsgesellschaften mit ihren Privatarmeen. Folglich war sein Cousin im Recht – und der niederländische Handelsimperialismus juristisch abgesegnet.

Als „De jure belli ac pacis“ 1625 erschien, hatten die Niederlande selbst kolonialen Ehrgeiz entwickelt (fünf Jahre später entrissen sie den Portugiesen einen Teil Brasiliens). In seiner berühmtesten Abhandlung verkündete Grotius, die Europäer hätten das Recht gegen jedes Volk, dessen Bräuche sie für barbarisch hielten, selbst ohne vorherige Provokation Krieg zu führen. Über dieses sogenannten Schwertrecht (ius gladii) schrieb er: „Könige und die ihnen gleichen Inhaber der Staatsgewalt können Strafen nicht blos wegen des gegen sie und ihre Unterthanen begangenen Unrechts fordern, sondern auch wegen dessen, was sie nicht besonders trifft, aber was in einzelnen Personen das Natur- oder Völkerrecht in roher Weise verletzt.“2 Grotius erteilte also einen Freibrief, jeden anzugreifen, zu unterwerfen und zu töten, der sich der europäischen Expansion in den Weg stellte.

Neben diesen beiden Grundlagen des modernen Völkerrechts (ius communicandi und ius gladii) wurden zwei weitere Argumente entwickelt, um die kolonialen Unternehmungen zu rechtfertigen. Thomas Hobbes verwies auf die Demografie: Europa war überbevölkert, in den fernen Ländern der Jäger und Sammler aber lebten so wenige Menschen, dass man dort Europäer ansiedeln könne, „nicht aber so, daß dadurch die alten Besitzer vertrieben, sondern enger zusammengedrängt würden“.3 Damit rechtfertigt Hobbes bereits die Reservate, in die man später die amerikanischen Ureinwohner verfrachtete.

Wo man ganze Landstriche für unbewohnt erklären konnte, waren solche Argumente verzichtbar. War das Land aber doch bevölkert, hatten die Europäer laut John Locke jedes Recht, es den Einwohnern abzunehmen. Wenn diese den Boden nicht optimal nutzten, erfüllten die Eroberer mit der Steigerung der Bodenproduktivität einen göttlichen Auftrag.4 Ende des 17. Jahrhunderts hatte die europäische Kolonialideologie damit eine komplette Palette von Rechtfertigungsgründen parat.

Im 18. Jahrhundert wurden die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten zum zentralen Thema der völkerrechtlichen Schriften, während mehrere Aufklärer wie Denis Diderot, Adam Smith und Immanuel Kant koloniale Eroberungen moralisch infrage stellten, ohne freilich die Aufgabe von Kolonien zu fordern. Die einflussreichste Abhandlung dieser Zeit, „Le Droit des gens“ des Schweizer Philosophen Emer de Vattel, erschien 1758. Darin stellte Vattel kühl fest: „Die Erde gehört dem Menschengeschlecht zu seinem Unterhalt. Hätte jede Nation von Anfang an ein großes Land für sich beanspruchen wollen, um nur von Jagd, Fischfang und wilden Früchten zu leben, würde unser Globus nicht einmal für den zehnten Teil der heutigen Weltbevölkerung ausreichen. Wir handeln also nicht der Natur zuwider, wenn wir die Wilden auf kleinere Gebiete begrenzen.“5

In diesem Punkt argumentiert Vattel wie seine Vorläufer, und doch bedeutet sein Werk eine konzeptionelle Wende hin zu einer säkularen, nicht mehr religiösen Begründung des Völkerrechts. Getreu den diplomatischen Konventionen seiner Zeit ging Vattel vom Grundsatz der Gleichberechtigung aller souveränen Staaten aus. Der Wiener Kongress von 1814/15 brach mit dieser Vision und begründete eine offizielle Hierarchie innerhalb Europas. Die Delegierten definierten England, Russland, Österreich, Preußen und Frankreich als Großmächte mit gewissen Privilegien.

Diese neue Ordnung strebte ursprünglich die Festigung der antirevolutionären Koalition an, die Napoleon besiegt und die Monarchien auf dem gesamten Kontinent restauriert hatte. Doch die neue Ordnung hielt sich länger, und so konnte der schottische Jurist James Lorimer 1883 schrei­ben, die Geschichte habe den Grundsatz der Gleichheit der Staaten widerlegt.

Als der europäische Imperialismus nicht mehr Territorien wehrloser Völker eroberte, sondern sich mit riesigen Reichen, vor allem in Asien, wie auch mit deutlich wehrhafteren Nationen anlegte, stellte sich eine neue Frage: Wie sind diese Staaten zu behandeln? Haben sie die gleichen Rechte wie die europäischen Mächte? Der Wiener Kongress hatte die Frage implizit beantwortet, indem er dem Osmanischen Reich die Teilnahme an diesem „Konzert der Großmächte“ versagte. Das konnte man noch mit religiösem Vorbehalten erklären, doch im Lauf des 19. Jahrhunderts kam eine neue Doktrin auf, die auf das „zivilisatorische Niveau“ abhob: Fortan behandelten die Europäer nur jene Staaten als gleichwertig, die sie als „zivilisiert“ einstuften.

Nach diesem Kriterium fielen drei Kategorien von Staaten durch: erstens kriminelle oder „Schurkenstaaten“ (wie man sie heute nennen würde), etwa die Pariser Kommune oder fanatische muslimische Gesellschaften; zweitens „halb-barbarische“ Länder wie China und Japan, die europäische Zivilisationsnormen nicht ablehnten, aber auch nicht wirklich lebten; und drittens ohnmächtige oder gescheiterte Staaten (heute failed states genannt), die als verantwortliche Akteure ausschieden. Die Staaten der ersten und dritten Kategorie wurden nicht nur von der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern mussten auch militärisch ausgeschaltet werden.

1884 besiegelte die Berliner Konferenz das Schicksal Afrikas, so wie der Wiener Kongress 70 Jahre zuvor das Schicksal Europa bestimmt hatte. Dabei teilten die versammelten europäischen Staaten den verbliebenen kolonialen Kuchen unter sich auf. Das größte Stück ging an Belgien, und damit ausgerechnet an das Land, in dem das Völkerrecht als eigenständige Disziplin etabliert wurde, und zwar in Gestalt des Institut de Droit international – einer vom belgischen König geleiteten Privatgesellschaft. Dieses 1873 in Gent gegründete Institut feierte den Erwerb der riesigen belgischen Kolonialgebiete.

Auf den Ersten Weltkrieg folgte die Pariser Friedenskonferenz, die von den Siegermächten Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan und USA organisiert wurde. Das Ergebnis war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde. Er legte Sanktionen gegen Deutschland fest, zeichnete die Karte Osteuropas neu und regelte die Aufteilung der Territorien des untergehenden Osmanischen Reichs. In Versailles wurde auch der Völkerbund geboren, eine internationale Ins­ti­tution, die „kollektive Sicherheit“ gewährleisten und dauerhaften Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Staaten sichern sollte. Die USA sorgten dafür, dass die Völkerbundsatzung ihren Anspruch auf Vormachtstellung in Lateinamerika legitimierte: Nach Artikel 21 war die Monroe-Doktrin (welche die Vormachtstellung der USA in Lateinamerika reklamierte) mit der Satzung „nicht unvereinbar“, da sie „die Erhaltung des Friedens“ sichere.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) – Nachfolger des vom Völkerbund gegründeten Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH) – bezieht sich in seinem Statut noch heute auf „die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (Artikel 38c). Zu den Verfassern des StIGH-Statuts gehörte auch der Autor einer Abhandlung über die Segnungen der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo.

Die Konstruktion des Völkerbunds entsprach voll und ganz den Forderungen der Kriegsgewinner, auch wenn der Beitritt der USA durch den Senat verhindert wurde. Die vier übrigen Siegermächte bescherten sich einen exklusiven Status als ständige Mitglieder im Völkerbundsrat, dem Vorläufer des UN-Sicherheitsrats. Aus Protest gegen dieses eklatante Machtgefälle blieb Argentinien dem Völkerbund fern. 1926 trat auch Brasi­lien aus, nachdem sein Antrag auf einen ständigen Sitz für ein lateinamerikanisches Land abgelehnt worden war. Innerhalb der nächsten 15 Jahre zogen sich acht weitere Staaten Südamerikas zurück.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Karten neu gemischt. Der europäische Kontinent hatte seine Vormachtstellung verloren. Die 1945 in San Francisco gegründeten Vereinten Nationen übernahmen die hierarchische Konstruktion des Völkerbunds. Aber die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats hatten dank ihres Vetorechts sogar noch mehr Gewicht. Allerdings hatte der Westen hier kein Monopol mehr, weil nicht nur die USA und die stark geschwächten „Großmächte“ Frankreich und Großbritannien, sondern auch die Sowjetunion und China einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat erhielten.

In den 1950er und 60er Jahren entwickelte sich die UN-Vollversammlung angesichts der weltweiten Entkolonialisierung zu einem Forum, in dem immer häufiger Forderungen gestellt und Resolutionen verabschiedet wurden, die Washington und den westlichen Verbündeten nicht behagten.

Carl Schmitt hat in seiner 1950 erschienenen Studie „Der Nomos der Erde“ dargestellt, wie eurozentrisch die Ordnung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert war. Bei vermeintlich universellen Begriffen wie „Zivilisation“, „Humanität“ oder „Fortschritt“ war stets das Wort „europäisch“ mitgedacht. Für Schmitt war jedoch die alte Ordnung nach 1945 bereits im Untergang begriffen.6 Natürlich ist Europa seitdem nicht verschwunden. Der alte Kontinent wurde vielmehr zu einem Dominion seines ehemaligen Dominions USA. Damit stellt sich die Frage, inwieweit das Völkerrecht nach 1945 ein reines Geschöpf des Westens geblieben ist, das statt von Europa nun von der Supermacht USA gesteuert wurde.

Aber was macht überhaupt das Wesen dieses Rechts aus? Bei Thomas Hobbes war die Antwort eindeutig: Nicht die Wahrheit, sondern die Autorität mache das Recht aus – oder wie er im „Le­via­than“ schreibt: „Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte.“ Ohne eine erkennbare Autorität mit der Macht, Urteile zu fällen oder durchzusetzen, verliert das Völkerrecht seinen Rechtscharakter und verkommt zu einer bloßen Meinung.

Für die Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler von heute, die überwiegend liberal eingestellt sind, ist dieser Befund schockierend. Dabei wird oft vergessen, dass der größte liberale Philosoph des 19. Jahrhunderts, John Stuart Mill, dieselbe Ansicht vertrat. Im Hinblick auf die Unterstützung des polnischen Aufstands durch die kurzlebige Französische Republik im Jahr 1849 schrieb Mill einen Satz, der Karl Marx gefallen hätte: „Die internationale Moral kann nur verbessert werden, wenn die bestehenden Regeln im Namen neuer Prinzipien verletzt werden.“7

Mill verfasste diesen Aufruf zu revolutionärer Solidarität in einer Zeit, in der das Völkerrecht kaum mehr als eine hohle Phrase war und den Regierungen nur zur Rechtfertigung für die Verfolgung ihrer Eigeninteressen diente. Am 25. Juli 1887 erklärte Lord Salisbury vor dem britischen Parlament: Ein Völkerrecht im üblichen Sinne des Worts „Recht“ existiere nur dank der vorgefassten Meinungen von Lehrbuchautoren, denn: „Es kann von keinem Gericht durchgesetzt ­werden.“

Die Institutionalisierung erfolgte dann im 20. Jahrhundert mit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen und der Gründung des Internationalen Gerichtshofs wie auch durch die Herausbildung einer eigenen akade­mischen Disziplin, die eine entsprechende Juristenausbildung in internationalem Recht ermöglichte.

Nach dem Urteil des antiliberalen Denkers Carl Schmitt war das Völkerrecht, wie es 1918 etabliert wurde, ein zutiefst diskriminierendes Instrument.8 Es bewertete Kriege, die von den systembeherrschenden liberalen Mächten geführt wurden, als selbstlose Polizeiaktionen zur Wahrung der internationalen Rechtsordnung. Die Kriege der anderen dagegen waren völkerrechtswidrige Unternehmungen, also verbrecherisch.

Die von Schmitt diagnostizierte Kluft hat seitdem neue Dimensionen angenommen, und das in doppelter Hinsicht. Zum einen wird nicht einmal mehr der Anschein erweckt, als sei das Völkerrecht in der realen Welt auch nur annähernd justiziabel, also vollstreckbar. Es reduziert sich damit auf einen rein nominellen Anspruch, was die Juristen aber nicht daran hindert, es feierlich als „Recht“ zu beschwören. Zum anderen agieren die Hegemonialmächte – und nicht nur sie – mehr denn je, wie es ihnen passt – mal im Namen, mal in Missachtung des Völkerrechts. Invasionskriege ohne vorherige Verhandlungen, die unter Umgehung oder offener Verletzung der Rechtsnormen unternommen wurden, waren beispielsweise die Angriffe von Großmächten wie Großbritannien und Frankreichs auf Ägypten (1956), von China auf Vietnam (1979), von Russland auf die Ukraine (2022); nicht zu vergessen die Angriffe kleinerer Akteure, etwa der Türkei auf Zypern (1974), des Irak auf Iran (1980) oder Israels auf den Libanon (1982).

Vom Gründungstag der neuen Weltorganisation an hat die Supermacht USA die in der UN-Charta festgeschriebenen Grundsätze der Souveränität und Integrität der Mitgliedstaaten fortwährend verletzt. Die Eröffnungskonferenz der UN fand am 25. April 1945 in San Francisco statt. Ganz in der Nähe, im ehemals spanischen Fort Presidio, hatte der US-Militärgeheimdienst ein Spezialteam stationiert, das die meisten Telegramme abfing, die zwischen den Delegationen und ihren Heimatländern ausgetauscht wurden. Die entschlüsselten Nachrichten landeten auf dem Frühstückstisch von Außenminister Edward R. Stettinius.

Der Historiker Stephen Schlesinger, der dieses systematische Ausspionieren beschreibt, stellt triumphierend fest, dass die Vereinten Nationen „von Anfang an ein Projekt der Vereinigten Staaten waren, das vom Außenministerium konzipiert, von zwei entschlossenen Präsidenten durchgezogen und von der US-Macht vorangetrieben wurde“.9 Daran hat sich seitdem nichts geändert. Im 1946 verabschiedeten Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der UN ist bestimmt, dass die Vermögenswerte und Guthaben der Vereinten Nationen „der Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Zwangsmaßnahme durch die vollziehende Gewalt, die Verwaltung, die Justiz oder die Gesetzgebung entzogen“ sind.

2010 kam jedoch heraus, dass dieses Gebot der damaligen Außenministerin Hillary Clinton egal war. Im Juli 2009 hatte sie CIA, FBI und Se­cret Service angewiesen, die Passwörter und kryptografischen Schlüssel des UN-Generalsekretärs sowie der Botschafter der vier anderen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats zu beschaffen. Abgeschöpft wurden auch personenbezogene Informationen – bis hin zu biometrischen Daten und Kreditkartennummern – von einflussreichen UN-Beamten und Funktionsträgern, die mit Friedensmissionen oder politischen Sonderaufträgen betraut waren.

Kriminalisierung der Besiegten

Hillary Clinton oder die US-Regierung wurden wegen dieser eklatanten Verletzung einer völkerrechtlichen Bestimmung natürlich niemals belangt. Aber das galt ja auch schon für die im Korea- und im Vietnamkrieg begangenen Gräuel­taten, für die kein US-Entscheidungsträger je zur Rechenschaft gezogen wurde.

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) wurde 1993 vom Sicherheitsrat mit dem Auftrag eingerichtet, die seit 1991 begangenen Kriegsverbrechen zu ahnden. Die kanadische Generalstaatsanwältin arbeitete eng mit der Nato zusammen und sorgte dafür, dass in den Prozessen wegen ethnischer Säuberung zumeist Serben verurteilt wurden und nur in zwei Fällen bosnische Kroaten. Desgleichen lehnte der IStGHJ im Juni 2000 die Eröffnung eines Strafverfahrens über die Angriffe der Nato auf Serbien und die Bombardierung Belgrads ab. Das war nur logisch. Wie der Nato-Pressesprecher James Shea am 17. Mai 1999 betonte, „wurde der Gerichtshof von den Nato-Staaten ins Leben gerufen, die ihn auch finanzieren und tagtäglich verteidigen“. Die USA und ihre Verbündeten nutzen solche Strafprozesse zur Kriminalisierung von besiegten Gegnern, wissen aber zu verhindern, dass sie selbst belangt werden.

Beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) war dies allerdings schwieriger. Die USA lehnen ihn ab und waren bei der Gründung des Gerichtshofs einer der sieben Staaten, die gegen das Römische Statut stimmten. Zwar hat Präsident Clinton am letzten Tag seiner Amtszeit Ende 2000 einen Beitrittsantrag unterzeichnet, aber nur weil er wusste, dass der Kongress ihn nicht ratifizieren würde. Washington will unbedingt verhindern, dass Militärangehörige der USA vor dem Gericht angeklagt werden. Deshalb hat man inzwischen bilaterale Abkommen mit über 100 Ländern ­geschlossen, in denen das US-Militär präsent war.

Allerdings hat der IStGH bislang ohnehin vermieden, Ermittlungen über Militäreinsätze der USA und europäischer Staaten, etwa in Afghanistan und im Irak, einzuleiten. Er konzentriert seine Arbeit auf afrikanische Ländern, gemäß der unausgesprochenen Maxime: ein Recht für die Reichen, ein anderes für die Armen.

Was den Sicherheitsrat betrifft, der laut UN-Charta Hüter des Völkerrechts ist, so spricht seine Bilanz für sich. Die Besetzung Kuwaits durch den Irak wurde 1990 mit sofortigen Sanktionen und einer militärischen Gegeninvasion mit fast einer Million Soldaten beantwortet; dagegen dauert die Besetzung des Westjordanlands durch Israel seit mehr als einem halben Jahrhundert an, ohne dass der Sicherheitsrat auch nur einen Finger rührt.

Als die USA und ihre Verbündeten 1998/99 keine Resolution zur Legitimation des Angriffs auf Jugoslawien durchbringen konnten, bedienten sie sich stattdessen der Nato. Das stellte damals einen klaren Verstoß gegen Artikel 3 der UN-Charta dar, der Angriffshandlungen wie etwa Bombardierungen verbietet. Der von Washington ins Amt gehobene UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte damals, ein Militäreinsatz könne legitim sein, wenn er dem Frieden diene.10

Vier Jahre später griffen die USA und Großbritannien unter Umgehung des Sicherheitsrats, in dem Frankreich mit einem Veto drohte, den Irak an. Die Operation wurde nachträglich durch die einstimmige Annahme der Resolution 1483 im Sicherheitsrat – die beide Länder als „Besatzungsmächte“ anerkannte – und einen UN-Sonderbeauftragten für den Irak abgesegnet. Man kann also das Völkerrecht übergehen, wenn man einen Krieg beginnt, aber um ihn nachträglich zu legitimieren, kommt es durchaus gelegen.

Der diskriminierende Charakter der im Kalten Krieg herausgebildeten Weltordnung wird nirgends deutlicher als im Atomwaffensperrvertrag von 1968, der das Recht auf den Besitz von Atomwaffen den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats vorbehält. Dass Israel diesen Vertrag ignoriert, ist ein tabuisiertes Thema. Dieselben Mächte, die Sanktionen gegen Nordkorea und Iran verhängen, tun so, als ob das massive israelische Atomwaffenarsenal nicht existiert. Es dürfte kaum einen besseren Kommentar zur merkwürdigen Alchemie des Völkerrechts geben.

All das bedeutet natürlich nicht, dass der Anspruch des Völkerrechts auf universelle Geltung für die politische Praxis bedeutungslos wäre. Es genügt der Hinweis, dass sich alle Staaten auf diese Universalität berufen, um die Immunität ihrer diplomatischen Vertretungen im Ausland zu garantieren. Diese diplomatische Immunität bleibt selbst dann gewahrt, wenn sich zwei Länder im Kriegszustand befinden. Dabei ist offensichtlich, dass es in den Botschaften der großen und auch vieler kleinerer Staaten von Agenten wimmelt, die sich ausschließlich der Spionage widmen. Dass es dafür keinerlei rechtliche Basis gibt, ist eine der Ungereimtheiten, die den Experten des Völkerrechts unbehaglich ist.

Realistisch betrachtet ist das Völkerrecht weder wirklich international noch im eigentlichen Sinne „Recht“. Deshalb ist es aber alles andere als wirkungslos. Dank seiner ideologischen Macht ist es vielmehr ein höchst wirkungsvolles Instrument zu Diensten des Hegemons und seiner Verbündeten. Hobbes hob in diesem Zusammenhang auf den Faktor „Meinung“ ab, den er als entscheidend für die politische Stabilität eines Königreichs ansah: „Die Macht des Gewaltigen hat ihre Grundlage allein in der Meinung und in dem Glauben des Volkes.“11 Das Völkerrecht mag ein verwirrendes und widersprüchliches Bild bieten, aber seine meinungsbildende Kraft darf nicht unterschätzt werden.

Für den Marxisten Antonio Gramsci war klar: Hegemonie lässt sich nur herstellen, wenn es den Herrschenden gelingt, Partikularinteressen als universelle Werte auszugeben. Dafür ist die Verwendung des Begriffs der „internationalen Gemeinschaft“ ein gutes Beispiel. Jede Hegemonie beruht per Definition auf einer Mischung aus Zwang und Zustimmung. Auf internationaler Ebene lässt sich der Zwang kaum jemals gesetzlich beschränken, während die Zustimmung eher labil und stets gefährdet ist.

Das Völkerrecht dient zur Verschleierung dieser Diskrepanz. Es kann Staaten einen bequemen Vorwand für alle möglichen Aktionen liefern oder aber einen moralischen Anspruch begründen, der mit der Realität nichts zu tun hat. Zuweilen wird auch beides kombiniert. Etwa wenn die „moralische“ Schutzverantwortung für Li­byen die Zerrüttung des Landes legitimieren oder wenn die Strangulierung Irans der „Friedenssicherung“ dienen soll.

Verfechter des Völkerrechts argumentieren gern, ein Recht, das die Staaten in der Praxis missbrauchen, sei besser als gar kein Recht. Sie berufen sich dabei mitunter auf das berühmte Zitat von François de La Rochefoucauld: „Mit der Heuchelei erweist das Laster der Tugend seine Huldigung.“

Man kann diesen Zusammenhang aber auch anders formulieren: Heuchelei ist das Laster, das sich als Tugend tarnt, um seine lasterhaften Ziele besser zu verbergen. Um das genau handelt es sich, wenn die Starken ihre Macht willkürlich gegen die Schwachen einsetzen oder Kriege im Namen der Friedenssicherung unerbittlich geführt oder provoziert werden.

1 Francisco de Vitoria, „Relecciones sobre los Indios [1538–1539]“, Madrid (Espasa-Calpe) 1946.

2 Hugo Grotius, „Vom Recht des Krieges und des Friedens“, Band 2, Buch 2, Kapitel XX.

3 Thomas Hobbes, „Leviathan“, Teil II: „Vom Staat“, 30. Kapitel.

4 John Locke, „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, Buch 2, § 32–46.

5 Emer de Vattel, „Le Droit des gens“, Buch 1, Kapitel XVIII, § 209.

6 Carl Schmitt, „Der Nomos der Erde“, Berlin (Duncker & Humblot) 2011.

7 John Stuart Mill, „Collected Works“, Band XX, S. 345–346.

8 Carl Schmitt, „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“, Berlin (Duncker & Humblot) 1988, S. 41 ff.

9 Stephen Schlesinger, „Act of Creation: The Founding of the United Nations“, Boulder (Westview) 2003.

10 UN-Presserklärung, 24. März 1999. Allerdings bestand Annan darauf, für eine solche Entscheidung sei der UN-Sicherheitsrat zuständig.

11 Thomas Hobbes, „Behemoth oder Das Lange Parlament“, Hamburg (Felix Meiner Verlag) 2015, S. 19.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Perry Anderson ist Historiker. Die Langversion dieses Textes ist auf Englisch erschienen in: New Left Review, Nr. 143, London, September/Oktober 2023.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2024, von Perry Anderson