Präsident Milei und seine tausend Gesetze
Argentinien wird umgebaut – mit aller Gewalt. Nach einem Dekret mit 336 Maßnahmen folgte ein Gesetz mit 664 Artikeln. Parlamentarische Zustimmung gab es jedoch nur für einen Teil des Pakets. Mileis brachiale Strategie wird unabsehbare Folgen haben.
von Anne-Dominique Correa
Die Maske ist schnell gefallen. Bei seiner Amtseinführung am 10. Dezember 2023 veröffentlichte der neue argentinische Präsident Javier Milei das erste offizielle Foto seiner Regierung im Internet. Sie besteht nur noch aus neun Minister:innen für folgende Ressorts: Humankapital, Gesundheit, Infrastruktur, Wirtschaft, Justiz, Sicherheit, Verteidigung, Außen- und Innenpolitik. Unter seinem Vorgänger Alberto Fernández waren es doppelt so viele gewesen.
Auf dem Bild sahen die Argentinier zwei alte Bekannte: Luis Caputo, Staatssekretär und Finanzminister unter Präsident Mauricio Macri (2015–2019) als neuen Wirtschaftsminister, und Patricia Bullrich, die, wie schon unter Macri, das Amt der Sicherheitsministerin bekleidet.
Die sonst eher nüchterne Frau strahlte in die Kameras. Nachdem sie in der ersten Runde der Präsidentenwahl als Kandidatin der konservativen Koalition „Juntos por el cambio“ (Gemeinsam für den Wandel) ausgeschieden war, hatte sie sich durch die Allianz mit ihrem einstigen Rivalen Milei einen Platz in der Regierung gesichert.
Das Regierungsteam ist ziemlich konventionell für einen Mann, der sich im Wahlkampf als Antisystemkandidat präsentiert und versprochen hatte, mit der „politischen Kaste“ zu brechen. Tatsächlich sei mit Milei „die Kaste an der Macht“, meint David Copello, Politikwissenschaftler und Argentinien-Spezialist an der CY-Cergy-Universität in Paris. „Mehrere Regierungsmitglieder kommen aus der Privatwirtschaft.“
Mileis Kabinettschef Nicolas Posse und der neue Minister für Justiz (und Menschenrechte), Mariano Cúneo Libarona, haben für die Corporación América gearbeitet, einen Infrastruktur- und Medienkonzern, der Eduardo Eurnekian gehört. Ihm verdankte Milei seinen ersten Fernsehauftritt 2016 in der Talksendung „Animales sueltos“ (Freilebende Tiere) auf America TV, der ihn berühmt gemacht hat. Milei hat es seinem Freund mit ökonomischen Ratschlägen gedankt.
„Milei ist nicht Anti-Kaste, sondern Anti-Kirchner“, formuliert es Gabriel Vommaro, Professor für politische Soziologie an der Universidad Nacional de San Martín, mit Blick auf Nestor Kirchner und dessen Witwe Cristina Fernández de Kirchner, die das Land nacheinander von 2003 bis 2015 regiert haben. Mileis erste Maßnahmen erinnern Vommaro an die neoliberalen Wirtschaftsprogramme der Regierungen von Carlos Menem (1989–1999) und Mauricio Macri.
Diese Maßnahmen lassen sich grob unter zwei Stichworten zusammenfassen: Austeritätspolitik und Privatisierung. Schon am 12. Dezember kündigte der neue Wirtschaftsminister Caputo – nach einer Abwertung des argentinischen Peso um mehr als 50 Prozent – Sparmaßnahmen im Umfang von 20 Milliarden US-Dollar an: 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen vor allem durch die Streichung von Subventionen für öffentliche Transportmittel, Strom, Gas und Wasser eingespart werden.1 Die Anpassung „wird fast ausschließlich zulasten des Staats, nicht aber des privaten Sektors gehen“, freute sich Milei in seiner Antrittsrede.
Am 20. Dezember präsentierte der neue Präsident ein „notwendiges und dringendes“ Dekret (Decreto de Necesidad y Urgencia, DNU), das mit 366 Maßnahmen „Handel, Dienstleistungen und die Industrie auf dem gesamten nationalen Territorium deregulieren“ soll. Das von der Presse „Decretazo“ (etwa: Hammerdekret) getaufte Paket, das am 1. Februar in Kraft trat, sieht unter anderem vor, die geltenden Regulierungen von Mieten, Versicherungsprämien, Preisen für Grundnahrungsmittel und Kosten für Internetdienste aufzuheben (Letzteres, um Elon Musks Starlink die Tür nach Argentinien zu öffnen). Es erleichtert Privatisierungen und flexibilisiert das Arbeitsrecht: mit verkürzten Probezeiten und geringeren Abfindungen bei Entlassungen.
Bei seinen Erneuerungsplänen gehe Milei „mit aller Gewalt“ und „Hast“ vor, so Vommaro. „Nie zuvor hat eine Regierung gewagt, ein so großes Reformpaket zu beschließen, ohne das Parlament im Vorfeld einzubinden.“ Während Macri auf eine schrittweise Veränderung setzte, um einen Volksaufstand zu verhindern, hat Milei sich für die Schockbehandlung entschieden. „Für eine schrittweise Veränderung braucht man Geld. Und ich kann es nur wiederholen: Es gibt kein Geld“, rechtfertigte er sich in seiner Rede.
Mit dem Rücken zum Parlament
Milei hat zwar bei der Stichwahl gegen den Peronisten Sergio Massa am 19. November 56 Prozent der Stimmen erhalten, aber seine Koalition La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) hat nur 38 der 257 Sitze in der Abgeordnetenkammer und 7 der 72 Sitze im Senat. „Um schwierige Reformen durchzubringen, braucht Milei die Unterstützung des Kongresses“, sah der Economist bereits am 23. November 2023 voraus. „Er wird mit der Mitte-rechts-Koalition Juntos por el Cambio und mit den gemäßigten Peronisten verhandeln müssen.“ Die Financial Times zeigte sich „beruhigt“ durch die Ernennung Caputos zum Wirtschaftsminister. Sie sei ein Beweis, dass Milei seine „Exzentrik beiseitelassen“ und sich zum „Staatschef“ mausern werde.
Eigentlich hatte Milei nicht vor, Zugeständnisse bei seinem Programm zu machen. Symbolträchtig hielt er seine erste Rede mit dem Rücken zum Kongress. Am 27. Dezember, eine Woche nachdem er das DNU unterzeichnet hatte, legte er nach und präsentierte das 664 Artikel umfassende „Ley ómnibus“ (Omnibusgesetz). Es sah weitere Privatisierungen vor (von 41 staatlichen Unternehmen, darunter der Erdölgigant YPF und die Luftfahrtgesellschaft Aerolíneas Argentinas) und die Übertragung der uneingeschränkten Macht an die Exekutive, indem es „den Notstand für Wirtschaft, Finanzen, Steuern, Verwaltung, soziale Sicherheit, Löhne, Gesundheit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025“ erklärte. Damit hätte Milei bis Ende 2025 per Dekret regieren können, der Notstand hätte sogar einmalig um zwei Jahre, also bis zum Ende von Mileis Amtszeit, verlängert werden können.
Das Gesetz, das „die Freiheit und die Argentinier verteidigen“ soll, sieht eine erhebliche Einschränkung des Demonstrationsrechts vor. Jede Ansammlung von mehr als drei Personen sollte schon als „Demonstration“ gelten, die mindestens 48 Stunden im Voraus angemeldet werden muss. Für den Fall, dass sie den Verkehr oder öffentliche Dienstleistungen behindert, sind Freiheitsstrafen bis zu sechs Jahren für Teilnehmer und Organisatoren vorgesehen. „So etwas hat es seit der Diktatur nicht mehr gegeben“, stellte der Sprecher des größten Gewerkschaftsbunds Argentiniens (CGT), Jorge Sola, fest.
Mittlerweile ist Milei gezwungermaßen zurückgerudert: Die Privatisierung der YPF wurde zurückgenommen, der Notstand ist auf ein Jahr begrenzt und nur mit Zustimmung des Parlaments um ein weiteres Jahr verlängerbar; als eine Demonstration gelten nicht mehr drei, sondern mindestens 30 Personen. Auch das Paket zur Steuerreform, das Herzstück des Omnibusgesetzes, musste Milei insgesamt herausnehmen.
Nach drei langen Tagen heftiger Debatten im Parlament wurde am Abend des 2. Februar das Omnibusgesetz im Abgeordnetenhaus mit 144 zu 109 Stimmen angenommen. Von den 664 Artikeln sind weniger als die Hälfte übriggeblieben, und die werden nun in den nächsten Wochen einzeln diskutiert. Außerdem muss das Gesetzespaket auch vom Senat bestätigt werden.
Die Reaktionen der politischen Parteien auf Mileis autoritäres Vorgehen waren eher zurückhaltend. Doch die CGT, die die Verfassungsmäßigkeit verschiedener Bestimmungen des Decretazo infrage stellt, hat im Wissen, dass sie sich nicht auf den Kongress würde stützen können, die Nationale Arbeitskammer angerufen. Diese wacht über das argentinische Arbeitsrecht. „Wir hatten keine andere Wahl“, erklärte Sola, der während unseres Gesprächs am 3. Januar eine gute Nachricht auf sein Smartphone erhielt: Ein Gericht hatte entschieden, das Kapitel des Dekrets zum Arbeitsrecht sei auszusetzen, die angeführte „Dringlichkeit“ stellt es infrage.
Ein Sieg? Noch nicht.
Die endgültige Entscheidung der Nationalen Arbeitskammer ist ungewiss: Sie hängt von der gründlichen rechtlichen Überprüfung des Gesetzestexts ab. Wenige Minuten nachdem Sola die Nachricht empfangen hatte, kündigte die Regierung bereits an, sie werde Berufung einlegen. Für den 24. Januar rief die Gewerkschaft daraufhin zum Generalstreik auf, der zwar nicht allgemein befolgt, aber von oppositionellen Parteien unterstützt wurde.
Pablo Semán, der für den Nationalen Forschungsrat Conicet arbeitet, glaubt, der Widerstand gegen Milei werde ohnehin „nicht von den Institutionen, sondern von der Straße kommen“. Und in der Tat hielten die Proteste vor dem Parlamentsgebäude über Tage an, obwohl die Sicherheitskräfte massiv einschritten. Es kam zu Straßenschlachten, wobei Mileis Vizepräsidentin Bullrich erklärte, sie würden sich auch nicht von einem Toten abschrecken lassen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Straße in den Gang der Ereignisse eingreift. Schon 2001 gab es als Folge der neoliberalen Politik der Regierung Menem eine nie dagewesene Wirtschaftskrise. Tausende gingen mit Töpfen und Kochlöffeln auf die Straße und riefen: „Que se vayan todos!“ (Weg mit ihnen allen). Unter dem Druck der Straße flohen Menems Nachfolger Fernando de la Rúa und sein Wirtschaftsminister Domingo Cavallo am 21. Januar 2002 per Hubschrauber aus dem Land.
Der Aufstand gegen de la Rúa forderte damals 39 Tote und 500 Verletzte. „Wenn die Politiker nicht ihre Arbeit machen, müssen am Ende immer die Armen ihren Körper und ihr Blut in den Kämpfen opfern“, schimpft ein Mann namens Grabois, der im Dezember 2001 an den Demonstrationen beteiligt war und verhaftet wurde.
Wiederholt sich die Geschichte? Milei hatte die Unterstützung der Menschen gewonnen, indem er ihnen versprach, die Inflation zu beenden, die sie unter den Regierungen von Mauricio Macri und Alberto Fernández immer ärmer gemacht hat. Im Dezember ist sie noch einmal um 25 Prozent gestiegen, die Jahresquote lag bei 211 Prozent. Nichts weist darauf hin, dass sie in den kommenden Monaten sinken wird. Milei habe „keinen Plan, um die argentinischen Schulden zu reduzieren“, und die seien „die Hauptursache für die Inflation“, analysiert der Anwalt Carlos Maslaton, einer der einflussreichsten Liberalen des Landes und früherer Berater von Milei.
Die Rückzahlung der rund 44 Milliarden US-Dollar2 , die das Land dem IWF schuldet, verstärkt den Druck auf Argentiniens geringe Dollarreserven. Um sich Dollar zu beschaffen, ist das Land auf verstärkte Exporte angewiesen, die wiederum zur Entwertung des Pesos beitragen. Am 18. Oktober 2022 hatte die Regierung Fernández ein Devisenabkommen mit China ausgehandelt, um 6,5 Milliarden Dollar zur Bedienung ihrer Schulden zu erhalten. Nach Mileis Ankündigung, „mit dem kommunistischen China zu brechen“, hat Peking den Vertrag am 20. Dezember ausgesetzt. Xi Jinping ließ sich auch nicht durch ein Entschuldigungsschreiben von Milei umstimmen, in dem dieser ihn bat, die finanzielle Unterstützung fortzusetzen.3
Woher kommen dann die nötigen Dollar? Für Milei kommt es nicht infrage, den IWF zu enttäuschen. „Ich war ganz klar, die Schulden werden bezahlt“, hatte er am 14. September nach einem Treffen mit den Vertretern des IWF erklärt, als er noch Kandidat für das Präsidentenamt war. Den IWF freut es: Ohne auf die autoritären Entgleisungen des neuen argentinischen Präsidenten einzugehen, beglückwünschte er ihn am 11. Januar für seine „Schnelligkeit“ und „Entschlossenheit“.4
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Anne-Dominique Correa ist Journalistin.