Der Teufel wechselt die Seiten
Wie der Gazakrieg die politische Landschaft in Frankreich verändert
von Serge Halimi und Pierre Rimbert
In Frankreichs politischer Landschaft hat eine Verschiebung stattgefunden, die auf ein doppeltes Kunststück vonseiten der Regierung und der Leitmedien zurückzuführen ist: Einerseits verstießen sie die linke Partei La France insoumise (LFI), die als einzige der im Parlament vertretenen Parteien der militärischen Vergeltungsaktion der israelischen Regierung im Gazastreifen die Generalabsolution verweigerte, aus dem „republikanischen Spektrum“ (arc républicain); auf der anderen Seite nahmen sie den Rassemblement National (RN) in ebendieses Spektrum auf. Bislang galt die 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründete Rechtsaußen-Partei als regierungsunwürdig, die herrschenden Parteien riefen stets zur Abgrenzung auf.
Doch nun scheint der RN rehabilitiert und reingewaschen – durch seinen Schulterschluss mit der israelischen Regierung unter Netanjahu.
„Der Teufel hat die Seiten gewechselt“, konstatierte die wirtschaftsfreundliche Tageszeitung L’Opinion am 12. Oktober 2023: „Durch den Angriff der Hamas werden die Karten neu gemischt. Die Insoumise ist leichter zu hassen, der Rassemblement National schwerer zu bekämpfen.“ Im vergangenen Herbst begann sich das „republikanische Spektrum“ als ein proisraelisches Spektrum zu definieren. Und die geheimen Wünsche eines wachsenden Teils der französischen Eliten brachte der Journalist Brice Couturier von France Culture am 12. Dezember auf den Punkt: „Wenn wir an einer Machtbeteiligung des RN ohnehin nicht vorbeikommen (das zeigen alle Umfragen) – warum dann nicht im Rahmen einer Kohabitation?1 Im Élysée-Palast behält Macron außenpolitisch die Zügel in der Hand (kein Bruch mit EU und Nato), und 2026 löst er zu einem günstigen Zeitpunkt das Parlament auf.“
Die Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts geht einher mit der Einschränkung der freien Meinungsäußerung und des Demonstrationsrechts. Hier stoßen die meisten Medien – aus Gründen der Ideologie oder der geistigen Trägheit – in das gleiche Horn wie der Innenminister Gérald Darmanin und setzen propalästinensische Demonstrationen mit Antisemitismus gleich.
Die Krönung der Verschiebung nach rechts war das neue Einwanderungsgesetz, das am 19. Dezember mit den Stimmen der Präsidentenpartei, der Rechten und des Rassemblement National verabschiedet wurde und Ende Januar in Kraft trat, nachdem der Verfassungsrat Teile davon gekippt hatte. Das Gesetz macht den „Inländervorrang“ zu einer festen Einrichtung und sieht verschärfte Repressionen gegen Ausländer vor. Das Innenministerium nannte das Gesetz einen Schutzschild gegen die „Schädigung der fundamentalen Interessen des Staats“, gegen „Aktivitäten terroristischen Charakters“ und gegen Aufhetzung zu Gewalt.
Gebrodelt hatte es vorher schon – auch in anderen europäischen Ländern. In Frankreich allerdings vollzieht sich die autoritäre Wende unter der gemeinsamen Aufsicht eines journalistischen Corps,2 das sich als Hüter demokratischer Freiheitsrechte sieht, und einer Regierung, die gewählt wurde, um die extreme Rechte zu verhindern. Beide begründen ihr Handeln damit, dass man „das Selbstverteidigungsrecht Israels“ unterstütze, obwohl dieser Staat durch Kriegsverbrechen verhindern will, dass ein Volk eines Tages die Souveränität über sein eigenes Territorium erlangt.
Da lohnt ein genauer Blick auf den Informationskrieg, der am 7. Oktober begann. Dessen erste Phase war die Berichterstattung über die von der Hamas verübten Massaker, die als ein historischer Höhepunkt des Grauens beschrieben wurden; in der zweiten Phase wurde, zurückhaltend und untertreibend, über Israels schrankenlosen Krieg gegen die Palästinenser in Gaza berichtet.
Die mediale Darstellung der israelisch-palästinensischen Konflikts lässt sich in einem Koordinatenkreuz mit drei Achsen abbilden. Der Nullpunkt der Zeitachse ist die Ermordung von Israelis – der 7. Oktober –, nicht aber die Morde an Bewohnern des Westjordanlands und des Gazastreifens, die schon vorher stattgefunden haben. Die Besatzungsarmee tötete 2021 dort 349 Menschen, 2022 waren es 291 und 2023 (in den ersten neun Monaten) 227, ohne ein Presseecho. Die medienkritische Initiative Acrimed legte am 23. Oktober offen, dass der Konflikt in der Zeit vom 1. Januar bis 1. Oktober 2023 in der wichtigsten französischen Nachrichtensendung um 20 Uhr auf France 2 nur zehnmal Thema war. In diesen zehn Monaten kamen die Palästinenser auf 33 Sekunden Redezeit.
Wenn man jedoch die Ereignisse entlang der beschriebenen Zeitachse eintaktet, wird klar, welches Ereignis Schlagzeilen macht (das Massaker an Israelis), welche Protagonisten vorkommen (Hamas-Terroristen, israelische Opfer, die Racheengel der Armee) und wie der Ablauf gelesen wird: Auf das Grauen (vom 7. bis 26. Oktober) folgt „die Antwort“ gemäß dem „Recht Israels auf Selbstverteidigung“ (27. Oktober bis 10. Dezember). Zu kurz kommt der dritte Aspekt: die internationalen Proteste gegen einen Krieg, der potenziell Völkermordcharakter hat (seit 10. Dezember).
Der mediale Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt hat zudem einen bedeutsamen Ausgangspunkt: Tel Aviv wird als Verbündeter betrachtet, einer, der die Welt genauso sieht wie der Westen, dieselben Feinde hat und ebenso überzeugt ist, dass er einer überlegenen Zivilisation angehört – der Zivilisation der liberalen Demokratien.
Ob in Nahost „ein Kampf der westlichen Demokratien gegen den Obskurantismus des radikalen Islamismus“ stattfinde, fragte eine Journalistin des Paris Match am 4. Januar den Untergangsphilosophen Michel Onfray in einem Interview. (Der verneinte.) Und der ehemalige Chef von Charlie Hebdo, heute Redakteur beim Rechtsaußen-Radiosender Europe 1, erklärte am 9. Oktober: „Ich liebe Israel, weil in diesem Land der Geist Europas weht.“
Medien übernehmen ungeprüft und ohne Distanz die meisten Narrative der israelischen Regierung und der Armee; deren Sprecher kennen den Diskurs des Zielpublikums und seine journalistischen Codes sehr genau. Informationen von der Hamas – auch die Opferzahlen – werden prinzipiell angezweifelt. Die von der israelischen Armee verbreiteten Fake News, deren spätere Dementis weniger Aufmerksamkeit erzielen als die ursprüngliche Sensationsnachricht, werden von französischen Medien weiterverbreitet, ebenso wie die Kernbotschaft des offiziellen Narrativs der israelischen Regierung: Die Armee der einzigen Demokratie im Nahen Osten habe die Mission, ein inhumanes Monstrum zu vernichten, das die Bevölkerung des Gazastreifens als menschliches Schutzschild benutze; daher trage die Hamas die Verantwortung für alle Opfer des Konflikts.
Der beste Interpret dieser Sorte Propaganda ist der Publizist und Philosoph Bernard-Henri Lévy. „Israel verpflichtet sich zur Einhaltung der Menschenrechte“, erklärte er am 29. Oktober im Nachrichtensender La chaîne information (LCI). „Israel tut alles, was in seiner Macht steht, damit es möglichst wenige zivile Opfer gibt. Noch einmal: Israel wendet sich mit Flugblättern, telefonisch und mit allen möglichen Nachrichten an die Menschen im Gazastreifen und sagt ihnen: Bleibt nicht da! Lasst euch nicht länger von diesen Dreckskerlen in Geiselhaft nehmen, die euch seit fünfzehn Jahren manipulieren. Geht weg, flüchtet. Die Israelis tragen das humanitäre Recht genauso im Kopf und im Herzen wie die Fernsehzuschauer in New York, Paris oder Berlin.“ Alles in allem führe Israel, wie Netanjahu später ebenfalls behauptete, einen „Krieg von einer Moralität ohnegleichen“.
Nach und nach relativiert diese auf allen Nachrichtenkanälen wiederholte Mär die steigenden palästinensischen Opferzahlen und erweckt den Eindruck, es handele sich entgegen allem Anschein nicht um eine ethnische Säuberung, sondern um einen rechtmäßigen Gegenschlag.
Einen Monat nach dem Hamas-Angriff und 12 000 Tote später (16. November) war auf dem öffentlich-rechtlichen Sender France Inter zu hören: „Wenn Israel seine Kriegsziele schneller erreichen will, wird es mehr Zivilisten töten müssen, weil die Hamas sich unter die Zivilbevölkerung mischt“, so ein Experte. „Ich sehe nicht, wie die Armee eines anderen demokratischen Staats es besser machen könnte.“
Je nachdem, über welche Seite berichtet wird, kommt eine vermenschlichende oder entmenschlichende Wortwahl zum Einsatz: Die Hamas massakriert oder tötet ihre israelischen Opfer; die Palästinenser „sterben“, aber wer sie umbringt, wird nicht gesagt. Und wie immer nach einem Attentat in einem westlichen Staat zeichnet die Presse ergreifende Einzelporträts individueller Opfer3 und reduziert die Palästinenser vielfach auf Namenlose, die als Schatten durch die Trümmerwüste geistern. Auf der einen Seite Tote als Subjekte, mit denen man sich identifiziert; auf der anderen Seite Tote, die nur Objekte sind und an denen der Blick so wenig hängenbleibt wie an einer Kulisse.
Fast vier Monate nach Ausbruch des Konflikts hat noch kein französisches Leitmedium den journalistischen Umgang mit dem Krieg quantitativ unter die Lupe genommen. In den USA berichtete The Intercept am 9. Januar über die Auswertung von Artikeln, die zwischen dem 7. Oktober und dem 24. November 2023 in der New York Times, der Washington Post und der Los Angeles Times erschienen waren.4 „Der Begriff ‚Blutbad‘ wurde in Bezug auf israelische Opfer 60-mal häufiger verwendet als in Bezug auf palästinensische Opfer, das Wort „Massaker“ in Bezug auf Israelis 125-mal und in Bezug auf Palästinenser zweimal. Bei dem Wort „entsetzlich“ betrug das Verhältnis 36 zu 4.
Die Verfasser der Analyse weisen außerdem darauf hin, dass die Medien der ungeheuren Anzahl getöteter Kinder und Journalisten keine Beachtung schenken, obwohl diese beiden Gruppen üblicherweise das Mitgefühl westlicher Medien wecken. „Während die von der Hamas begangenen Morde an Zivilisten als Produkt einer bewussten Strategie dargestellt werden, schildern Journalisten die Morde an den Menschen in Gaza so, „als handelte es sich um eine Kette von Versehen, die sich tausendfach wiederholen“.
Dass für die einen ein emotionsgeladenes und für die anderen ein distanziertes Vokabular verwendet wird, bestätigt auch eine andere Studie, die sich auf die BBC bezieht.5 Die Forscher analysierten 90 Prozent der Inhalte, die der staatliche britische Sender zwischen dem 7. Oktober und dem 2. Dezember 2023 online gestellt hatte. Sie stellten fest, dass die Worte „Massaker“, „Morde“ und „Blutbad“ nahezu systematisch mit den israelischen Opfern verknüpft wurden, während die Palästinenser als „getötet“ oder „tot“ bezeichnet wurden. Außerdem ergab die Analyse, dass Verwandtschaftsbezeichnungen wie „Mutter“, „Großmutter“, „Töchter“, „Söhne“, „Ehemann“ und so weiter sehr viel häufiger in Bezug auf Israelis als in Bezug auf Palästinenser verwendet wurden.
Einhundert Tage nach dem Angriff der Hamas in Israel, bei dem es nach offiziellen Angaben 1139 Todesopfer gab – davon 764 Zivilisten – und etwa 240 Menschen als Geiseln verschleppt wurden, von denen 130 nach wie vor in Gaza festgehalten werden, hatte die israelische Armee 23 000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet (8000 weitere gelten als vermisst). Sie hat Krankenhäuser, Schulen, Gotteshäuser, kulturelle Einrichtungen, Archive, Straßen und Energieinfrastruktur bombardiert, 60 Prozent aller Gebäude in Gaza beschädigt oder zerstört, 85 Prozent der Bevölkerung vertrieben, systematisch eine Wasser- und Arzneimittelknappheit sowie eine Hungersnot herbeigeführt, die 40 Prozent der Bevölkerung gefährdet.
Es handelt sich um „einen der härtesten Straffeldzüge der Geschichte“, konstatiert der US-amerikanische Historiker Robert Pape und sagt, das Ausmaß der Zerstörung sei größer als im syrischen Aleppo, im ukrainischen Mariupol und – relativ gesehen – sogar größer als in den deutschen Städten, die im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten bombardiert wurden.6
Inzwischen schauen die Medien lieber weg
Und es handelt sich nicht um eine Aktion, die versehentlich aus dem Ruder gelaufen ist: Der Operation gingen offizielle Erklärungen voraus, in denen genozidale Töne anklangen – etwa von Staatspräsident Herzog („Es gibt da draußen eine ganze Nation, die verantwortlich ist“) oder Verteidigungsminister Joaw Gallant („Gaza wird nie wieder sein wie früher. Wir werden alles zerstören“).
Es braucht weder schonungslosen Investigativjournalismus noch eine semiologische Spezialausbildung, um zu erkennen, dass das Blutbad genau dem entspricht, was die Regierenden in Tel Aviv den „menschlichen Tieren“ (Gallant) zugedacht haben.
Lange haben die meisten französischen Journalisten ein Narrativ voller Ungereimtheiten verbreitet, dass das Schicksal der Palästinenser auf islamistischen Terror und die israelische Politik auf eine Reihe von „Antworten“ verkürzt, und dabei eine westliche Solidarität zur Schau gestellt, für die es kein Problem ist, den Freund als menschlich und dessen Gegner als wilde Tiere zu qualifizieren. Inzwischen haben sie sich entschieden, lieber wegzuschauen: Die mediale Beschäftigung mit dem Konflikt wurde zurückgefahren.7
Logisch und gerecht wäre gewesen, wenn die Kommentatoren und Entscheidungsträger, die im Oktober erklärt hatten, Israel habe das Recht sich zu verteidigen, sich den Folgen gestellt hätten, wenn sie Maßnahmen und Sanktionen gefordert hätten, um das Töten zu stoppen. Doch nichts davon geschah, wohl auch aus Angst vor einer medialen Steinigung.
Dabei drängen sich mit Blick auf die israelische Kriegsführung andere Vokabeln auf: „Deportation“, „ethnische Säuberung“ oder gar „Genozid“.Es ist aber nicht damit zu rechnen, dass die Presse einigen besonders eifrigen Unterstützern der israelischen Regierung vorwerfen wird, dass sie angesichts der Massaker an Zivilisten – diesmal in Gaza – blind seien, und dass sie diese Unterstützer auffordern wird, den Ton gegenüber ihrem Schützling zu verschärfen. Selbst in einer Zeitung wie Le Monde, die ausgewogener über den Konflikt berichtet hat als viele andere, waren keine Stimmen zu lesen, die sich dafür aussprechen, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in Palästina von der internationalen Gemeinschaft sanktioniert werden.
In seiner Neujahrsansprache hatte Präsident Macron für die über 22 000 Todesopfer in Gaza genau fünfzehn Worte übrig. Mitte Januar wurden zwei so gegensätzliche Politiker wie der Mitbegründer der linksgrünen Partei Place publique Raphaël Glucksmann und der Rechtsaußen Éric Zemmour ausführlich befragt – der eine bei France Inter, der andere bei Europe 1. Die einzige Gemeinsamkeit beider Sendungen war, dass Gaza in keiner der 50 Gesprächsminuten erwähnt wurde.
Vom 8. bis 21. Oktober, in den ersten beiden Wochen nach dem Hamas-Angriff, wurden mit zwei Ausnahmen alle Gäste der Morgensendung von France Inter zu den Massakern befragt oder äußerten von sich aus ihr Entsetzen. Zwei Monate später war diese moralische Pflichtübung abgeschafft.
Die Liste der Belege, dass der französische Journalismus zugunsten Israels voreingenommen ist, ließe sich beliebig verlängern. Ein besonders anschauliches Beispiel lieferte France Info am 12. Januar, als es live berichtete, wie Tel Aviv sich gegen den Völkermordvorwurf verteidigt, während über die südafrikanischen Plädoyers vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag am Tag zuvor nicht im gleichen Umfang berichtet worden war.
Es reicht jedoch nicht zu kritisieren, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, denn das würde nahelegen, dass es hier um eine Schieflage geht, die sich durch Nachjustierung korrigieren ließe. Tatsächlich ist der spezielle Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt aber Teil einer umfassenderen Transformation.
Vier Monate lang haben die führenden Köpfe der „Vierten Gewalt“ in Frankreich nicht nur einen Rassismus bedient, der wie zu Zeiten der Kolonialreiche den Westen zur Krone der Menschheit ernennt. Die große Mehrheit von ihnen hat die Haltung der extremen Rechten in Israel akzeptiert und der Ausgrenzung der Kriegsgegner im eigenen Land tatenlos zugesehen, wenn sie nicht gutgeheißen.
Damit haben sie die Aufnahme des Rassemblement National ins republikanische Spektrum beschleunigt; ähnlich wie sie zuvor die militärische und moralische Wiederaufrüstung Frankreichs gefeiert haben, als es um die Bedrohung durch Russland und oder den islamistischen Terror ging. Die liberalen Regierungen haben in dem Kampf, den sie seit fünfzehn Jahren gegen populistische Bewegungen und illiberale Regime führen, überraschend Verstärkung bekommen – durch die Entstehung und Etablierung eines autoritären Journalismus.
1 Wenn Präsident und Parlamentsmehrheit verschiedenen politischen Lagern angehören.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld