Streit um Tschiang Kai-schek
Wie Taiwan sich seine Geschichte erzählt
von Alice Hérait
Im Zentrum von Taipeh steht umgeben von einem Park die Nationale Tschiang-Kai-schek-Gedächtnishalle. Im Innern thront eine riesige Statue des früheren Diktators (1945–1975), der 1949 nach dem Sieg der Kommunisten die Regierung der Republik China nach Taiwan verlegt hatte. „Wenn man eine Statue betrachtet, kann man einfach nur eine Statue sehen. Man kann aber auch ein Symbol darin lesen. Das hängt vom Betrachter ab“, versucht ein Funktionär die heftigen Debatten um die Figur Tschiangs zu umreißen. Seinen Namen will er uns nicht verraten, noch was er persönlich vom großen Generalissimus hält. Das Denkmal sei gerade „ein sehr heikles Thema“.
Das Monument steht an einem symbolträchtigen Ort mitten im Verwaltungsbezirk und gegenüber der Nationalbibliothek. Man läuft durch ein fünfbögiges Tor, auf dem „Platz der Freiheit“ geschrieben steht, passiert das Nationaltheater und den Konzertsaal, zwei riesige Zwillingsgebäude in klassisch chinesischem Stil, steigt knapp hundert Stufen hinauf und erblickt schließlich die sitzende Bronzestatue des früheren Präsidenten. Sie wird von Soldaten mit spiegelblanken Helmen bewacht, der stündlich stattfindende Wachwechsel ist eine Touristenattraktion. Taiwaner:innen verirren sich allerdings nur selten hierher.
Die begleitende Ausstellung wurde in den letzten Jahren umgestaltet. Zwar erfährt man immer noch alles über das Leben und Wirken Tschiang Kai-scheks und es werden persönliche Gegenstände des Generalissimus ausgestellt. Aber auf der Hälfte der Fläche wird nun auch über die Einschränkung der Pressefreiheit und die Repressionen gegen Oppositionelle in der Zeit von 1949 bis 1987 informiert, in der in Taiwan das Kriegsrecht galt. Das ist ein echtes Novum, denn bisher galt es als Tabu, über den „weißen Terror“ zu sprechen, der die Zeit seiner Diktatur prägte – mit Hinrichtungen, Säuberungen und Geheimpolizei.
„So eine Ausstellung sollte in einem Spezialmuseum gezeigt werden, nicht in einer Gedenkstätte“, schimpft Yin Tai. Seit 20 Jahren bietet er ehrenamtlich Führungen an, hat dies nun aber – wie andere Freiwillige auch – aus Protest eingestellt. Yin ist 73 Jahre alt und stammt aus einer Familie, die mit den Truppen der Republik China 1949 vom Festland floh. Er ist Anhänger der Kuomintang (Nationalpartei Chinas, KMT), der Partei Tschiang Kai-scheks, die seit 2016 in der Opposition ist. Damals wurde Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) zur Präsidentin gewählt; im Januar 2024 gewann ihr Vize Lai Ching-te, ebenfalls von der DPP, die Präsidentschaftswahl und wird Tsai im kommenden Mai nachfolgen.
Die beiden Großparteien der taiwanischen Demokratie sind sich sowohl darüber uneins, wie das Erbe Tschiang Kai-scheks zu bewerten ist, als auch darüber, wie die Beziehungen zu Festlandchina gestaltet werden sollten. Doch anders, als man erwarten könnte, ist es nicht die Partei Tschiang Kai-scheks, die den Bruch mit der Volksrepublik vollzogen hat. Der Kuomintang-Führer verkörperte zwar die Opposition zu den Kommunisten, vertrat aber auch die Vorstellung einer gemeinsamen und weiter fortdauernden Identität der beiden Chinas. Und das ist bis heute die Sicht der KMT, der deshalb vorgeworfen wird, sich bei den einstigen Feinden anzubiedern. Die DPP hingegen strebt nach Unabhängigkeit und besteht auf der grundlegenden Verschiedenheit zwischen Chinesen und Taiwanern. Sie genießt angesichts der Auseinandersetzung zwischen Washington und Peking die Unterstützung des Westens.
„Tschiang Kai-schek hat Taiwan mehr Gutes als Schlechtes gebracht“, ist Yin überzeugt. Bei der Verteidigung des Diktators denkt er sicher an seine eigene Familie. Viele Nachkommen von Flüchtlingen sehen in der Volksrepublik China bis heute die verlorene Heimat.
Diese waìshēngrén (aus einer fremden Provinz Gekommenen), wie man sie zuweilen nennt, machen 14 Prozent der taiwanischen Bevölkerung aus. Nur 2 Prozent der Taiwaner:innen stammen von der Urbevölkerung ab, 84 Prozent sind vor und während der japanischen Kolonisierung (1895–1945) auf die Insel gekommen und gelten als Alteingesessene. Für viele von ihnen steht die Existenz Taiwans als unabhängiger Staat nicht mehr infrage. Deshalb wählt ein großer Teil von ihnen die DPP, die sich darum bemüht, eine taiwanische Identität zu entwickeln, die sich deutlich von der der Festlandchinesen unterscheidet.
Aber nicht alle Alteingesessenen folgen dieser Linie. Für eine Angestellte der Gedächtnishalle, die zu dieser Bevölkerungsgruppe gehört, liegen die Wurzeln der taiwanischen Identität in China. „Natürlich müssen wir Tschiang Kai-schek für sein Handeln verurteilen“, gibt sie zu. „Aber wir dürfen auch nicht vergessen, was er für die Gesellschaft geleistet hat. Im Zweiten Weltkrieg hat er zum Beispiel vielen Ländern geholfen und stand an der Seite der Alliierten, um gegen Japan und später die Kommunistische Partei zu kämpfen.“ Auch sie beklagt deshalb die Umgestaltung der Ausstellung: „Das wurde nicht gemacht, damit die Besucher die Geschichte besser verstehen, das Ziel ist rein politisch.“
Die Befürworter der Unabhängigkeit hingegen stoßen sich schon an der bloßen Existenz der Gedächtnishalle: „Ich finde, diesen Ort sollte es nicht geben“, erklärt zum Beispiel Shake. Die 45-jährige Künstlerin stammt aus einer Familie von waìshēngrén, hat also chinesische Wurzeln, aber sie verabscheut das Regime in Peking. Bekannt wurde sie durch einen riesigen aufblasbaren Panzer, den sie am 30. Jahrestag des Tiananmen-Massakers in Peking im Juni 2019 auf dem Platz vor der Gedächtnishalle aufstellte.1 „Das war vor der Pandemie. Damals durften chinesische Touristen noch nach Taiwan kommen. Und die Gedächtnishalle für Tschiang Kai-schek war ein Pflichttermin bei jedem Besuch.“
Der weiße Terror der Kuomintang
Für die Künstlerin war der Generalissimus nichts anderes als ein Diktator. „Ich glaube nicht, dass er irgendwie zur Entwicklung Taiwans beigetragen hat“, sagt sie. Wie viele Unabhängigkeitsbefürworter:innen führt sie den Aufschwung der Insel auf die Kolonisierung durch das japanische Kaiserreich zurück, trotz der brutalen Unterdrückung und der Massaker. „Die meisten Taiwaner hatten sich mit den Japanern arrangiert. Dann kam die KMT und plötzlich wurden wir in den chinesischen Bürgerkrieg reingezogen.“
Der taiwanische Nationalismus entstand in der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft. „Das erste Ziel bestand darin, die gleichen Rechte zu erhalten wie die Japaner, weil die Taiwaner Bürger zweiter Klasse waren. Aber es war keine Unabhängigkeitsbewegung“, erklärt Vladimir Stolojan, ein französischer Historiker, der an der Universität Tamkang in Taiwan arbeitet. „Es gab eine Phase der Unterdrückung und dann einen enormen Modernisierungsschub. Diejenigen, die sich noch an die Japan-Zeit erinnern, wurden in der weniger repressiven Phase geboren.“ Nachdem die KMT die japanischen Besatzer verjagt hatte, führte sie ein noch härteres Regime ein. Ein Sprichwort sagt: „Als die Hunde weg waren, kamen die Schweine.“
Als die KMT nach Taiwan kam, „entjapanisierte“ und „sinisierte“ sie die Insel im Eiltempo. Ab 1945 förderte sie eine „antikommunistische Literatur und Kunst“. In den 1960er Jahren folgte der Angriff auf die lokale Kultur. „Die lokalen Dialekte wurden in Schulen und öffentlichen Einrichtungen verboten“, schreibt Bi-yu Chang, die das Zentrum für Taiwan-Studien an der SOAS University of London leitet. „Das traditionelle taiwanische Theater und die Volkskunst wurden als grob und rückständig abgestempelt, die taiwanische Geschichte kam in den Lehrbüchern kaum vor.“2
Schon Japan hatte seit 1937 Maßnahmen zur gesellschaftlichen und kulturellen Assimilation unternommen, aber mit der Machtübernahme der Nationalisten entthronte die chinesische Kultur die japanische. „Die chinesische Kultur wurde mit Raffinesse, Schönheit und Erhabenheit assoziiert; die taiwanische galt hingegen als vulgär und dumm“, so Chang. Damals hegte die KMT noch die Hoffnung, Festlandchina zurückzuerobern. Nach dem Tod von Tschiang Kai-schek und vor allem nachdem 1987 das Kriegsrecht aufgehoben worden war, wurde diese Kulturpolitik aufgeweicht. Je mehr sich die Insel demokratisierte, desto größere Bedeutung bekam die taiwanische Sicht auf die Vergangenheit in Wissenschaft und Schulbildung.
„Als die Kuomintang nach Taiwan kam, verbreitete sie auf der Insel ihre Sichtweise auf Gegenwart und Zukunft“, erklärt Damien Morier-Genoud, Dozent an der Universität Grenoble-Alpes. Historische Studien, Lehrpläne und Schulbücher sollten den Mythos eines mehrtausendjährigen vereinten „Großchinas“ stützen. „Um sich dieser von Chauvinismus und chinesischem Nationalismus durchtränkten Indoktrinierung zu widersetzen, begannen Regimegegner und Wissenschaftler in den 1970er und 1980er Jahren neue historische Narrative zu erarbeitet.“
Was die Zeit der japanischen Herrschaft betrifft, ist zum Beispiel eine Begriffsverschiebung festzustellen: Während die Bücher früher von japanischer „Besatzung“ (rìjù) sprachen, ist seit den 1990er Jahren vom japanischen „Regime“ (rìzhì) die Rede. Im Hinblick auf das taiwanische „Wirtschaftswunder“ der 1960er Jahre, das früher ausschließlich positiv und als Verdienst der KMT dargestellt wurde, sprechen neuere Publikationen auch von dem Heer schlecht bezahlter Arbeiter, die den Aufschwung erst möglich machten.
In ihrer Antrittsrede 2016 hatte Präsidentin Tsai Ing-wen versprochen: „Die Geschichte wird Taiwan nicht mehr spalten.“ Sie hatte angekündigt, sich für die nationale Versöhnung einzusetzen und den Prozess der Vergangenheitsbewältigung fortzusetzen, den Präsident Lee Teng-hui (KMT) 1995 begonnen hatte. Er zielt auf die Entschädigung der Opfer der autoritären Periode (1947–1992) und vor allem des „weißen Terrors“ nach den Demonstrationen vom 28. Februar 1947, die unter dem Namen „228-Massaker“ bekannt wurden: Die Verhaftung einer Frau, die verdächtigt wurde, geschmuggelte Zigaretten verkauft zu haben, hatte damals eine Welle von Aufständen gegen die Diktatur ausgelöst, die blutig niedergeschlagen wurden und zehntausende Tote forderten.
„Viele Morde wurden nicht aufgeklärt, man weiß nicht, wer die Täter sind“, beklagt die Künstlerin Shake, die den Prozess der Aufarbeitung dieser Verbrechen für unzureichend hält. Damien Morier-Genoud relativiert die Kritik: „Zumindest wurden einige wichtige Archive geöffnet, um die Taten der Geheimpolizei von Tschiang Kai-schek und seinem Sohn Tschiang Ching-kuo aufzuklären. Aber diese Arbeit braucht Zeit. Es gibt gesetzliche und verfassungsrechtliche Vorgaben, und die Recherchen müssen mit Sorgfalt und Bedacht durchgeführt werden.“
Im französischen Fernsehsender France 5 begründete François Wu, der Vertreter Taiwans in Frankreich, im April 2023 den Anspruch auf Unabhängigkeit aus der Geschichte der Insel: „Man fängt immer bei Tschiang Kai-schek an, aber die Geschichte Taiwans beginnt viel früher.“ Die ersten Mächte, die sich in Taiwan niederließen, seien nicht Chinesen, sondern Europäer gewesen, behauptete Wu. „Außerdem müssen Sie bedenken, dass Taiwan auch früher nie rein chinesisch war, denn die Qing waren keine reinen Han.“3
Denjenigen, die weiter der Idee eines vereinigten Chinas anhängen oder die Annäherung an die USA kritisch sehen, stößt so eine Darstellung bitter auf. Ihre Haltung wird gern als „prochinesisch“ abgestempelt. Die DPP-Politiker Lin Fei-fan und Lii Wen bezeichnen diejenigen, die dem amerikanischen Verbündeten misstrauen, gar als Verschwörungstheoretiker. In der US-Zeitschrift National Interest bedauern sie, dass „Narrative im öffentlichen Diskurs in Taiwan auftauchen, die Amerikas Unterstützung für Taiwan mit Skepsis und Misstrauen betrachten“.4 Diese Sicht sei von Peking inspiriert und werde von der KMT verbreitet.
Dabei ist ihnen offenbar entgangen, dass an der Uneigennützigkeit der USA nicht nur in Peking gezweifelt wird.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Alice Hérait ist Journalistin in Taipeh.