Uber regulieren
Kommt die EU-Richtlinie für bessere Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten?
von Anne Dufresne
Am Vormittag des 22. Dezember 2023 kam es im Ausschuss der 27 ständigen Vertreter der EU-Staaten in Brüssel zu einem Paukenschlag. Auf der Tagesordnung stand die Verabschiedung einer europäischen Richtlinie, mit der die Arbeitsbedingungen der 28 Millionen Plattformbeschäftigten in der EU verbessert werden sollen.
Die Verabschiedung war eigentlich reine Formsache, nachdem Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten sich neun Tage zuvor bereits auf die neue Vorschrift geeinigt hatten. Wenn sie wie geplant Ende Januar 2024 in Kraft getreten wäre, hätte sie etwa 5,5 Millionen „Gig-Workern“ in Europa (Uber-Fahrer, Essenskuriere und so weiter) unter bestimmten Bedingungen Zugang zum Arbeitnehmerstatus und entsprechenden Ansprüchen (auf Kranken- und Arbeitslosenversicherung) verschafft.
Doch Frankreich und ein Dutzend weiterer Länder brachten den Entwurf im letzten Moment zu Fall – ein außergewöhnlicher Vorgang. Zur Begründung hieß es, die Neuregelung sei zu weit von den Forderungen der Digitalplattformen entfernt. Dazu muss man wissen, dass ein Uber-Fahrer als Solo-Selbstständiger etwa in Frankreich das Mindestlohnniveau erst erreicht, wenn er mehr als 13 Stunden am Tag arbeitet, und dass die privaten Versicherungen von Lieferdiensten genau darauf achten, dass sie keine Geldleistungen im Falle von Invalidität oder gar Tod zahlen müssen.
Der Richtlinienentwurf war ein Minimalkompromiss und sah vor, dass Verfahren zur Bestimmung des Beschäftigungsstatus nicht automatisch, sondern nur individuell auf Betreiben des Beschäftigten eingeleitet werden. Trotzdem versprach der Entwurf den bis dato vom Laissez-faire regierten Wirtschaftszweig zumindest ein bisschen zu regulieren.
Der jüngste Rückschlag zeigt in aller Deutlichkeit das Machtungleichgewicht zwischen den zwei Lagern: hier die Beschäftigten als diskriminierte Einzelkämpfer, die wegen der Hürden für eine Sammelklage individuell vor Gericht ziehen; dort die Plattformen und ihre Lobbyisten, die ihr Geschäftsmodell, das von der (Schein-)Selbstständigkeit ihrer Beschäftigten lebt, so schnell wie möglich auch rechtlich festschreiben wollen.
Die Kernfrage lautet: Wie ist die Beziehung zwischen den Plattformen und den Fahrern und Essensauslieferern zu definieren? Handelt es sich um ein Angestelltenverhältnis? Dann hätte die Beschäftigten eine ganze Reihe arbeitsrechtlicher Ansprüche (Mindestlohn, Höchstarbeitszeiten, Sozialversicherung, bezahlter Urlaub, Streikrecht). Handelt es sich hingegen um selbstständige Arbeit, können die Plattformen ihr Geschäft ganz regulär auf dem großen Angebot an Fahrerinnen und Fahrern aufbauen, und Letztere müssen sich damit abfinden, dass sie für die Zeiten zwischen den Einsätzen nicht bezahlt werden und dass ihnen die Errungenschaften des Angestelltenrechts verwehrt bleiben.
In Kalifornien hat sich das zweite Modell durchgesetzt, nachdem dort auf Betreiben von Uber ein 2019 verabschiedetes Gesetz gekippt worden war. Darin wurde zum ersten Mal vermutet, dass es sich um ein Angestelltenverhältnis handelt, wenn die Arbeit eines Beschäftigten der Kontrolle einer Plattform unterliegt. Ubers Albtraum schien wahr zu werden, zumal 2018 der Supreme Court ebenfalls in diesem Sinne geurteilt hatte.
Um diese Entwicklung zu stoppen initiierten die Plattformen eine Volksabstimmung. In der „Proposition 22“ wurde angeregt, einen „verbesserten“ Selbstständigenstatus speziell für „Gig-Worker“ einzuführen. Die Plattform-Lobby lancierte eine 200 Millionen US-Dollar teure Kampagne und am 3. November 2020 votierten 58 Prozent der kalifornischen Wählerinnen und Wähler für den Uber-Vorschlag.
Die „Verbesserungen“ des Selbstständigenstatus lassen bis heute auf sich warten. „In Zukunft werden wir noch energischer für gesetzliche Neuregelungen wie die Proposition 22 werben, weil sie nach unserer Auffassung die richtige Balance treffen“, erklärte Uber-Chef Dara Khosrowshahi nach dem Referendum. „Die Flexibilität, auf die die Fahrer so großen Wert legen, bleibt gewahrt, und alle Plattformbeschäftigten werden besser abgesichert als zuvor.“ In diesem Bereich mit den Regierungen der USA und auf der ganzen Welt zusammenzuarbeiten, habe hohe Priorität für Uber, sagte Khosrowshahi.1
Die starke Lobby von Bolt, Wolt und Deliveroo
Wie diese „Zusammenarbeit“ konkret aussieht, wurde im Juli 2022 bekannt: Ein ehemaliger Cheflobbyist von Uber, Mark MacGann, spielte dem britischen Guardian mehr als 124 000 interne Dokumente aus der Zeit von 2013 bis 2017 zu.2 Aus ihnen ging hervor, dass das Unternehmen ehemalige Funktionäre der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments als Manager oder Vorstandsmitglieder rekrutierte. Die Dokumente zeigten ebenfalls, dass wichtigen Entscheidungsträgern tendenziöse Studien und Analysen vorgelegt wurden und dass das Unternehmen eng mit einer Vielzahl von Anwaltskanzleien, Kommunikationsagenturen, Forschungsinstituten und europäischen Wirtschaftsverbänden vernetzt ist.
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2019 die Belange der Plattformbeschäftigten auf die politische Agenda setzte, und mehr noch 2021, als die Ausarbeitung der Richtlinie begann, verstärkten Uber, Deliveroo, aber auch Bolt, Wolt, Free Now, Delivery Hero und Glovo ihre Präsenz in Brüssel und intensivierten ihre Einflussnahme auf die Politik. Während der Entstehung des Richtlinienentwurfs gab es rund einhundert Treffen zwischen der Generaldirektion Beschäftigung der EU-Kommission und Vertretern der Plattformen.
Zwischen 2014 und 2022 vervierzehnfachte Uber seine Ausgaben für Lobbyarbeit.3 Das Unternehmen trat zunächst sehr offensiv auf, änderte dann aber seine Strategie und gab sich als vertrauenswürdiger Partner der Politik. Dass das Problem auf EU-Ebene gelöst werden soll, erleichterte den Plattformen die Arbeit: In Brüssel kommen auf 32 000 EU-Funktionäre 25 000 Lobbyisten.
Gegen diese dampfwalzenartige Übermacht regte sich Mitte der 2010er Jahre Protest. Während über die heftigen Auseinandersetzungen im Sektor der „privaten Mietfahrzeuge“ (PMF) regelmäßig in den Medien berichtet wurde,4 ist über den Kampf der Lieferfahrer:innen nach wie vor wenig bekannt. Sie werden auf primitivste Weise ausgebeutet, halten sich oft illegal im Land auf und haben nichts anderes zu verkaufen als die Kraft ihrer Waden.
Diese Gruppe wurde zur Speerspitze des Widerstands. Ihr Protest begann im August 2016 zeitgleich mit dem Umstieg vom Stundenlohn auf Bezahlung pro Auftrag: In London erhielten die Beschäftigten von Deliveroo statt 7 Pfund (8,20 Euro) pro Stunde und 1 Pfund pro Lieferung fortan eine Pauschale von einheitlich 3,75 Pfund pro Auftrag. Die Fahrer:innen traten massenhaft in den Streik und hatten Erfolg.
Daraufhin entstand eine transnationale Bewegung von Lieferfahrern und prekär Beschäftigten. Im Jahr darauf kam es zu mindestens 40 Protestaktionen in rund 15 europäischen Städten. Überall war die Bewegung stark dezentralisiert und verbündete sich mit meist kleineren Gewerkschaften. Es kam zu spontanen Blockaden und Demonstrationen vor dem Firmensitz der jeweiligen Plattform.
Im Oktober 2018 erklärte ein Lieferfahrer, der der Independent Workers Union of Great Britain (IWGB) angehört, zum Auftakt der ersten europäischen Generalversammlung der Kurierfahrer in Brüssel: „Wir sind hergekommen, weil wir das Zusammengehörigkeitsgefühl neu beleben wollen. Uns als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, gibt uns Kraft.“ Die Forderungen der aus ganz Europa angereisten Protestgruppen betrafen den Schutz personenbezogener Daten, die Transparenz der Algorithmen, aber auch einen garantierten Mindeststundenlohn.
Die Vergütungsfrage stand von Anfang an auf der Agenda, aber nicht immer stellten die Fahrer:innen einen Zusammenhang zum Selbstständigenstatus her, obwohl er der Grund ist, warum sie pro Auftrag und nicht nach Stunden bezahlt werden. Erst aus der Forderung nach einem Stundenlohn ergab sich deshalb der Ruf nach einem Angestelltenstatus, dessen zentrale Bedeutung vielen zuvor nicht bewusst gewesen war.
Als 2019 die Arbeitsbedingungen und die Vergütung noch schlechter wurden, veränderte sich der in diesem Wirtschaftszweig arbeitende Personenkreis. Die Situation der Beschäftigten, oft Zuwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis, wurde immer prekärer. Sie wurden in eine Überlebenswirtschaft gezwungen und scheuten sich, für ihre Rechte einzutreten. Die Gemeinschaftsaktionen wurden weniger, aber dafür wurde die Auseinandersetzung auf Initiative der Gewerkschaften verstärkt mit juristischen Mitteln geführt. Ab 2014 zogen Beschäftigte in mehreren Ländern vor Gericht, um ihren Selbstständigenvertrag als Anstellungsvertrag einstufen zu lassen.
Schon im Juni 2018 erkannte das Arbeitsgericht im spanischen Valencia den Kurierfahrern der Plattform Deliveroo den Arbeitnehmerstatus zu und begründete dies damit, dass „die tatsächliche Vertragserfüllung stärkeres Gewicht hat als die von den Parteien festgelegte Vertragsform“.5 Mit anderen Worten: Auch wenn die Plattform sich formal nur als Vermittler sieht, übt sie de facto eine Kontrolle über den Kurierfahrer aus.
In dem Urteil wurden zahlreiche Anhaltspunkte für ein Unterordnungsverhältnis angeführt: GPS-Tracking, Preisfestlegung, Einsatzzeiten und -orte, Eigentum an den Produktionsmitteln Website und App, Tragen des Firmenlogos. Gerichte in anderen Ländern zogen mit ähnlichen Urteilen nach. In Frankreich befand der Kassationsgerichtshof im November 2018, zwischen der Plattform Take Eat Easy und ihren Fahrer:innen bestehe ein Unterordnungsverhältnis. 2020 konstatierte das oberste Gericht Spaniens ein „Beschäftigungsverhältnis“ zwischen einem Fahrer und der Firma Glovo und machte damit Druck auf die Regierung, die rechtliche Stellung der Lieferfahrer zu regeln.
Ergebnis war das „Rider-Gesetz“ (Ley Rider), das am 12. August 2021 in Kraft trat und nach dem alle Lieferfahrer von Glovo automatisch als Angestellte einzustufen sind. Die Vorschrift war im Vorfeld hart umkämpft und erwies sich in der Praxis häufig als wirkungslos, weil die Plattformen sie umgehen. Dennoch war sie ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Scheinselbstständigkeit.
Der EU-Richtlinienentwurf, den Frankreich und seine Verbündeten nun gestoppt haben, ist weitaus weniger ambitioniert: Er sieht die Einführung eines Mindestsockels sozialer Schutzrechte vor. Dahinter steht die Idee, für diese Beschäftigtengruppe ein spezielles Rechtskonstrukt und damit eine Unterkategorie des Angestelltenrechts zu schaffen. So wollen es die Plattformen und ihre politischen Unterstützer wie der französische Präsident Emmanuel Macron.
Im Herbst 2020 hatten die juristischen Erfolge der Kurierfahrer, die Arbeit der EU-Parlamentarierin Leïla Chaibi im Rahmen der Vereinigten Europäischen Linken und die des Europäischen Gewerkschaftsbunds dazu geführt, dass nach dem ersten Richtlinienentwurf vom 9. Dezember 2021 die „Gig-Worker“ als Arbeiternehmer eingestuft werden sollten. Die beiden Kernforderungen lauteten: Transparenz der Algorithmen und Angestelltenstatus.
Letzteres wurde allerdings von fünf Kriterien abhängig gemacht, die definieren, ob die Plattform eine Kontrolle über die Beschäftigten ausübt oder nicht: Festlegung der Vergütung oder einer Vergütungsobergrenze; Überwachung der Arbeitsleistung – auch durch elektronische Mittel; Beschränkungen bei der Wahl der Arbeitszeiten; Festlegung von Regeln in Bezug auf das Erscheinungsbild und Verhalten der Fahrer; Einschränkung der Möglichkeit, für Dritte zu arbeiten. Sind mindestens zwei der fünf Kriterien erfüllt, sollte die Plattform als Arbeitgeber gelten.
Das Parlament gab dem Entwurf einen linkeren Touch: Es strich die Voraussetzungen für die Vermutung der Arbeitnehmereigenschaft, sodass diese de facto automatisch greifen sollte, und übertrug wie das „Rider-Gesetz“ die Beweispflicht, dass kein Angestelltenstatus vorliegt, auf die Plattformen. Der Rat wiederum gab dem Entwurf einen Rechtsdrall: Er machte die Einleitung gerichtlicher Einstufungsverfahren von noch mehr Kriterien abhängig und ließ Ausnahmen vom Grundsatz zu, dass ein Angestelltenstatus vermutet werde kann.
In Kraft tritt die Richtlinie erst, wenn das Europäische Parlament und die im Rat versammelten Vertreter der Mitgliedstaaten zugestimmt haben. Nach der Ablehnung im Ausschuss der Ständigen Vertreter und einem erfolglosen Trilog-Treffen am 30. Januar ist völlig offen, ob noch vor dem Ende der Legislaturperiode im Juni eine Einigung erzielt werden kann. Die Zeit spielt für Uber.
4 Sophie Bernard, „UberUsés, Le capitalisme racial de plateforme à Paris“, Paris (PUF) 2023.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Anne Dufresne ist als Forscherin für die Groupe de Recherche pour une Stratégie économique alternative (Gresea) in Brüssel tätig.