Signale aus South Carolina
In South Carolina entscheidet sich am 24. Februar die republikanische Kandidatenwahl. Den Umfragen zufolge droht Nikki Haley, Trumps letzter innerparteilicher Rivalin, selbst in ihrem Heimatstaat eine Niederlage.
von Julien Brygo
Greenville, South Carolina, ein Sonntag im Oktober 2023. Die Baptistenkirche Long Branch ist gut besucht. Pastor Dogan, schwarzer Anzug, weißes Hemd und rosa Krawatte, steigt aufs Podium, wo schon ein sechsköpfiger Chor, zwei Klavierspieler und ein Schlagzeuger sitzen.
Als Erstes bittet er eine Frau vom National Council of Negro Women (NCNW) auf die Bühne. Der Verein zur Förderung von „Bildung, Gründergeist und Wirtschaftsstabilität“ wirbt für die Eintragung ins Wählerverzeichnis: „Wer hat sich schon registriert?“1 , fragt sie in die Runde. Der Großteil der Anwesenden (400 Schwarze und 2 Weiße) hebt die Hand. „Sehr gut. Und wer geht zur Wahl?“ Wieder die meisten. „Das sieht man gern. Kommt bei uns vorbei. Und sagt es weiter. Im November zählt jede Stimme!“ Dann sagt sie dem Pastor, dass sie sich auf seine Predigt freut, überreicht ihm einen Scheck für die Gemeinde und verlässt das Podium.
Bis zu den Präsidentschaftswahlen ist es noch lange hin, aber vieles spricht dafür, dass es im November 2024 erneut zum Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump kommen wird.
In South Carolina sind die Baptisten die größte Religionsgemeinschaft, doch Schwarze und weiße Gläubige haben noch immer getrennte Gemeinden. Und sie wählen auch verschieden: Die weißen Baptisten stimmen traditionell überwiegend für die Republikaner, die Schwarzen für die Demokraten.
In keinem Bundesstaat der USA ist der afroamerikanische Anteil an der Bevölkerung so hoch. Er liegt bei 26 Prozent, und obwohl die Schwarze Wählerschaft fast geschlossen für die Demokraten stimmt – 2008 zu 99 Prozent für Barack Obama –, gilt der „Palmetto State“ als fast uneinnehmbare republikanische Hochburg: Trump kam hier 2020 auf 55 Prozent.
Damals brachten die Vorwahlen der Demokraten in South Carolina für Joe Biden die Wende. Nachdem er in New Hampshire mit 8,7 Prozent der Stimmen auf dem fünften Platz gelandet war und Bernie Sanders schon hoffen konnte, als erster Linker ins Weiße Haus einzuziehen, stimmten in South Carolina 48,6 Prozent für Biden. Zum Dank sorgte Biden dafür, dass die ersten Vorwahlen der Demokraten nicht wie früher in New Hampshire, sondern in South Carolina stattfinden. Am 3. Februar stimmten 96,2 Prozent der Vorwahlteilnehmer für den Amtsinhaber.
Dogans Predigt handelt von der Geduld: „Ich weiß, dass Ihr mehr Geld wollt, aber mehr Geld sorgt oft auch für mehr Probleme.“ Applaus. „Ich weiß, dass Ihr dieses Baby wollt, aber es weint auch manchmal!“ Gelächter. „Seid geduldig. Gott arbeitet an den kleinen Dingen, die langsam wachsen.“ Begeisterte Zurufe aus der Gemeinde: „Yes Sir“, „Amen“, „Oh yeah“. Der Pastor ruft, fast außer Atem: „Was Ihr braucht, ist ein winziges bisschen Glaube, Hoffnung, Weisheit und Verständnis, den Rest überlasst Gott.“
Nach der Messe frage ich Dogan, ob seine Kirche das Wahlergebnis in South Carolina beeinflussen könne. Der Pastor antwortet reserviert: „Ich verrate Ihnen nicht, wen ich wähle. Darüber sprechen wir nicht in unserer Kirche. Wir sagen unseren Gemeindemitgliedern nie, wen sie wählen sollen.“ Aber dann erläutert er doch: „Joe Biden war Vize unter Obama und der ist in unserer Gemeinde immer noch sehr beliebt. Ich glaube, vor allem aus diesem Grund haben die meisten Biden-Wähler 2020 für ihn gestimmt.“
Auch die Christian Assembly Upstate ist eine Baptistenkirche; doch hier sind fast alle Gläubigen weiß, auch bei der von den Republikanern organisierten „Gebetsmatinee“. Etwa 15 Leute beten „für die Polizisten des County Greenville, damit sie uns beschützen – unsere Häuser, unsere Ehen, unseren Way of Life“. Yvonne Julian, die Vorsitzende des republikanischen Ortsvereins von Greenville, macht sich Sorgen: „Die Demokraten, die Homosexuellen, die Marxisten und die Militanten der Hamas haben sich gegen unsere jüdisch-christliche Kultur und unser Familienmodell verschworen.“ Sie empört sich über „Pro-Hamas-Demonstrationen“, wobei es tatsächlich nur eine einzige Kundgebung gab, bei der nicht einmal 100 Menschen im Stadtzentrum von Greenville ihre Solidarität mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen bekundeten.
Die Vorsitzende Julian redet sich immer mehr in Rage: „Hillary Clinton, Barack Obama und Joe Biden sind Linke, und sie attackieren uns. Wir wollen weniger Staat und mehr individuelle Verantwortung. Die ganze Indoktrination in den Schulen und Universitäten und dazu diese ständig wachsende Trans- und Homosexuellenbewegung – all das ist Teil eines großen Plans, um Amerikas Werte zu zerstören.“
Julian verweist auf die Universität Furman im Vorort Travelers Rest, die in ihren Augen ein Beispiel für das ist, was sie „wokeism“ nennt: „Das sind alle, die ihre Weltsicht, ihr Geschlecht und ihre Geschichte anderen aufzwingen wollen. Letzte Woche gab es dort einen Vortrag einer Frau, die marxistische und homosexuelle Bücher empfohlen hat!“
Sie meint damit den Vortrag einer Professorin zum Thema „Dekolonisierung zeitgenössischer Kunst“. „Die kam nur, um uns hier zu provozieren, an einer Universität, die von der Southern Baptist Convention2 gegründet wurde!“
Julian wird für Trump stimmen. Neben ihr steht Hausmeister Jeff Davis, der früher bei BMW gearbeitet hat. Er stört sich nicht daran, dass der Immobilienmagnat Trump in mehreren Fällen der sexuellen Belästigung beschuldigt und in einem Fall bereits verurteilt wurde: „Seine Sünden liegen doch schon lange Zeit zurück.“ Außerdem wähle man ja keinen Pastor, sondern einen Präsidenten. „Der letzte Pastor, der in dieses Amt gewählt wurde, war 1976 Jimmy Carter, und das war eine Katastrophe.“ Und Julian wirft ein: „Je öfter man Trump anklagt, desto beliebter wird er.“
Tatsächlich haben die vier Gerichtsverfahren mit insgesamt 91 Anklagepunkten die Bewunderung für ihren Helden offenbar nicht gemindert. Im Gegenteil: Bei den Republikanern lag Trump in allen Umfragen bereits klar in Führung, als er am 15. Januar bei den ersten Vorwahlen in Iowa 51 Prozent der Stimmen gewann. Der mit 7,7 Prozent abgeschlagene Unternehmer Vivek Ramaswamy erklärte sogleich seinen Rückzug und rief dazu auf, Trump zu wählen.
Vorher hatte bereits Chris Christie, der Ex-Gouverneur von New Jersey, wegen seiner schlechten Umfragewerte aufgegeben. Und Ron DeSantis, der in Iowa mit 21 Prozent auf dem zweiten Platz gelandet war (knapp vor Nikki Haley mit 19 Prozent) warf am 21. Januar das Handtuch. Damit gab es beim zweiten Vorwahltermin in New Hampshire am 23. Januar nur noch einen Zweikampf um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner. Hier lag Trump mit 54,3 Prozent der Stimmen vor Haley mit 43,2 Prozent (was Trump 12 und Haley 9 Delegierte für den Nominierungsparteitag einbringt).
Unsere Häuser, unsere Ehen, unser Way of Life
Der ehemaligen Gouverneurin von South Carolina (2011–2017) und Trumps UN-Botschafterin (2017/18) droht selbst in ihrem Heimatstaat eine Niederlage, denn auch hier ist der Ex-Präsident weiterhin sehr populär. Ein Trump-Auftritt in der Kleinstadt Pickens zog im Juli 2023 an die 50 000 Menschen an.
Haley entstammt einer Familie von Sikhs aus dem indischen Pandschab, die in South Carolina ansässig wurden, wo sie 1972 geboren und aufgewachsen ist. Haley ist die Favoritin der Großunternehmer. Unterstützt wird sie unter anderem von Ken Langone, Gründer der Möbelkette Home Depot, und seit November 2023 von der Interessengruppe „Americans for Prosperity“ (AFP), gegründet von den libertär-konservativen Milliardärsbrüdern Charles und David Koch. Aus Unternehmersicht bietet Haley eine „moderate“ Alternative zu dem unberechenbaren Trump.
Der Furman-Campus wirkt wie ein beschauliches Dorf. Es gibt einen künstlichen See, ein Footballstadion, eine Basketballarena und ultramoderne Seminarräume. Die Studiengebühren liegen bei 50 000 Dollar pro Jahr (ohne Wohnheimplatz). Vor der Mensa stehen Claire Jost, die Soziologie, und Will Sanders, der Anthropologie studiert: „Eine ‚woke‘ Uni? Ein Witz. Eine Erfindung der Rechten; niemand, der diskriminiert wurde, würde das Wort in den Mund nehmen.“
Die beiden sind in der Gruppe Young Democratic Socialists of America (YDSA) aktiv, die an ihrer Uni schon etliche Erfolge erzielt hat. Ein Highlight war für Claire, als die YDSA an der Uni bei einem Auftritt von Ron DeSantis, dem „homophoben“ Gouverneur von Florida, die Security austricksen und neben der Bühne eine Regenbogenfahne entrollen konnte.
2024 ist Claire, die sich selbst als queer bezeichnet, zum ersten Mal wahlberechtigt. „Ich stimme für Biden“, sagt sie, „er ist der erste Präsident, der sich bei einem Streik sehen ließ.“ Damit meint sie Bidens medienwirksamen Auftritt vom 26. September 2023 in Michigan, als er mit Gewerkschaftskäppi und Megafon die streikenden Arbeiter:innen der United Automobile Workers (UAW) ermutigte. „In seiner Amtszeit haben die sozialen Bewegungen Erfolge errungen: bei UPS, in Hollywood und in den Autofabriken.“
Will Sanders, auch er Biden-Wähler, berichtet von einer Aktion gegen die Autorin Mary Eberstadt. Eingeladen war die militante Abtreibungsgegnerin3 von der Tocqueville Society, einem privat finanzierten und der Uni angelagerten Institut. Als klar wurde, dass ihr in Furnam heftiger Gegenwind droht, sagte sie ihren Vortrag kurzfristig ab.4
In der Community Tap, einer hippen Bar gleich neben dem Campus, streiten die Professoren Nathan Brown und Brent Nelsen Monate später noch immer über den Vorfall. „Wir laden alle an die Furman ein, das ist doch die Aufgabe einer Universität!“, sagt Nelsen. „Da hast du recht“, entgegnet Brown, „aber du würdest auch keinen Rassisten auf den Campus einladen, damit er uns erklärt, dass Weiße klüger sind als Schwarze.“ Die beiden Professoren leeren ihr Bier und trennen sich mit einem gequälten Lächeln.
Brown ist ein Anhänger der Demokraten, will aber an den Vorwahlen der Republikaner in South Carolina am 24. Februar teilnehmen: „Ich werde für Nikki Haley stimmen, um Trump zu verhindern, weil sie sehr viel vernünftiger ist. Aber wenn ich bei den Vorwahlen mitmache, kriege ich danach tonnenweise E-Mails mit der Aufforderung, den Waffenbesitz zu verteidigen oder gegen Abtreibung zu kämpfen. Das nervt mich jetzt schon.“
Haley verdankt ihren relativen Erfolg – die knappe Niederlage in New Hamphshire – auch einem hohen Anteil demokratischer Wähler, die als Unabhängige bei den Vorwahlen der Republikaner mitstimmen durften – die Teilnahmeregeln für die Primaries sind von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden.5
Fahrt durch das ländliche South Carolina: Die Straßen gesäumt von Wäldern und den üblichen Billboards, ab und zu Wassertürme, dann wieder Holzhäuser mit Veranda, darauf ein Schaukelstuhl oder eine Bank. An manchen Fahnenstangen flattert die Konföderierten-Flagge – Symbol der ehemaligen Südstaaten.
Entlang des Highways nach Anderson im gleichnamigen County mehren sich die Billboards, auf denen Sprüche wie „Bekehrt Euch“ stehen, oder „Vergib uns unsere Sünden, Herr Jesus, rette unsere Seele“. Wir sind im weißen, christlichen, republikanischen „heartland“ der USA, wo die Mehrheit Trump wählt. In Anderson bekam er 2020 über 70 Prozent der Stimmen.
Vor dem Amtsgericht steht ein Konföderierten-Denkmal, in den Marmorsockel eingemeißelt die Inschrift: „The world shall yet decide in truth’s clear far-off light that the soldiers who wore the gray and died with Lee were in the right.“6 Nach dem Mord an dem Afroamerikaner George Floyd forderten Demonstrant:innen, das Denkmal zu entfernen. „Wir konnten aber nichts ausrichten“, klagt Chris Salley, ein 30 Jahre alter ehemaliger Investmentbanker, der aus New York zurück in seine Heimatstadt zog, um für die Demokraten Politik zu machen: „Dieses Denkmal repräsentiert uns Schwarze nicht, aber offensichtlich gefällt es vielen Leuten hier.“
Wenig zuversichtlich ist Salley auch beim Thema Wahlbeteiligung: „Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Schwarzen davon zu überzeugen, dass sie mitmachen sollen, aber wozu? Biden hat keine Konkurrenten, warum also soll ich meine Zeit damit vergeuden, Leute zur Wahl von jemand zu überreden, der sie gar nicht repräsentieren kann?“ Das größte Problem sieht Salley darin, dass viele nicht zur Wahl gehen, weil sie beide Parteien ablehnen. 2020 haben bei den Vorwahlen der Demokraten in seinem County von 120 000 registrierten Wahlberechtigten am Ende nur 13 300 ihr Votum abgegeben.
Ende Oktober ist Salley, der Vorsitzender der Demokraten in Anderson war, aus der Partei ausgetreten. Er wollte damit ein Zeichen gegen die Haltung der Parteiführung zum Gazakrieg setzen: „Ich kann nicht akzeptieren, dass sie sich weigern, einen Waffenstillstand zu fordern“, erklärt er. Trotzdem will er die Demokraten als Unabhängiger unterstützen.
Der 30-jährige Salley arbeitet halbtags in einer Stiftung, die sich für Tierrechte einsetzt. Die übrige Zeit engagiert er sich für die „einzige Gewerkschaft, die in South Carolina wirklich aktiv ist“: die Union of Southern Service Workers (USSW). „Ich gehe zu Ketten wie McDonald’s, Subway und Waffle House und erkläre den Angestellten, dass es eine Gewerkschaft gibt, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpft.“ In einem gewerkschaftsfeindlichen Umfeld wie in South Carolina ist das jedoch nicht so einfach: „Die Leute, mit denen ich rede, haben Angst, dass man sie entlässt, wenn sie mit einem Gewerkschafter gesehen werden.“ 2023 gab es in ganz South Carolina nur sechs Streiks, alle im Dienstleistungssektor. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt bei 1,7 Prozent, das ist der niedrigste in den USA.
Am 8. Juli 2023 legten Waffle-House-Beschäftigte mit Unterstützung der USSW ihre Arbeit nieder, weil das Unternehmen ihnen von ihrem ohnehin knappen Gehalt noch eine tägliche Essenspauschale von 3,15 Dollar abziehen wollte. Der gesetzliche Mindeststundenlohn liegt in South Carolina bei 7,25 Dollar. Doch nicht für alle: Bei Berufstätigen, die Trinkgelder einnehmen, darf der Arbeitgeber den Mindestlohn auf 2,17 Dollar reduzieren.
Der Aktivist Thomas Dixon erklärt uns, was man in South Carolina unter Streik versteht: „Höchstens eine kurze Arbeitsniederlegung oder Betriebsaktion von einer oder zwei Stunden, maximal einem Tag. Die Arbeitgeber haben das Recht, Beschäftigte grundlos zu entlassen, ganz gleich, ob sie dem Betrieb 15 Jahre oder 15 Minuten angehören.“ Ich treffe Dixon auf der Terrasse eines Starbucks in Charleston, hier liegt der Stundenlohn mittlerweile bei 15 Dollar. Das wäre noch vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen.
Anfang November mache ich auf einer Fundraising-Party der Republikaner die Bekanntschaft mit Matthew Leber. Der Ex-Soldat will im Juni für den Senat in Columbus kandidieren, sein Wahlslogan lautet: „Unter den Abgeordneten in South Carolina gibt es schon genug Anwälte, wir brauchen auch ein paar Fallschirmjäger.“
Leber erklärt mir, wie die Republikaner demokratische Hochburgen erobern wollen. Die zentrale Rolle spielt dabei „Gerrymandering“. So nennt man die legale Manipulation durch einen veränderten Zuschnitt der Wahlkreise, wie er 2022 in South Carolina erfolgte.7
Aber Leber und seine Frau stehen noch unter Schock. Tags zuvor hatte die United Auto Workers (UAW) nach einem landesweiten Streik einen großen Erfolg erzielt: Bis 2028 soll der Lohn bei Stellantis und General Motors um 25 Prozent steigen. „Die Autos werden mindestens 900 Dollar teurer!“, schimpft Leber. Bei den Vorwahlen der Republikaner am 24. Februar wollte er für Vivek Ramaswamy stimmen. Jetzt stimmt er für Trump, wenn auch nicht aus Überzeugung: „Die Republikaner wären ihn vielleicht schon längst losgeworden, wenn die Demokraten ihn nicht derart angegriffen hätten. Sie machen ihn zum Opfer, und die Leute scharen sich um ihn. Er profitiert von der Aura des unbeugsamen Kämpfers. Er wird schwer zu schlagen sein.“
Eine Versammlung im Hinterhof einer Bar, etwa 20 Frauen aus der Ortsgruppe der Demokraten scharen sich um den Ortsvorsitzenden Sam Skardon. In den kommenden Wochen und Monaten stehen 30 Wahlen an: Repräsentantenhaus und Senat von South Carolina, der Sheriff des County, der Gerichtsschreiber, das Schatzmeisteramt, das Wasserkomitee und am Ende der US-Kongress: „Die wahren Themen der nächsten großen Wahl sind Kitchen Table Issues: Steuern, Inflation, niedrige Löhne“, sagt Skardon, da könne man punkten: „Die wirtschaftliche Bilanz Joe Bidens ist die beste seit Franklin Roosevelt! Die Investitionen in die Infrastruktur und der Ausbau des High-Speed-Internets sind große Erfolge.“
2020 konnte Biden in diesem County den Stimmenanteil für die Demokraten gegenüber 2016 um 13 Punkte auf 55,5 Prozent steigern. „Wir müssen diesen Vorsprung halten und seine Wiederwahl im November sichern“, sagt Skardon. „Und deshalb brauchen wir euch Frauen! Sprecht mit euren Schwestern, Cousinen, Nachbarinnen, aber auch mit euren Bossen, damit sie euch für eurer politisches Engagement freistellen!“
Und wie soll man sich engagieren? Die Parteiaktivistin Merrill Towns Chapman hat schon einen konkreten Vorschlag: Morgen wollen sich die „Moms for Liberty“ in einem schicken Hotel in der Stadt treffen. Der ultrakonservative Verein wurde im Januar des Coronajahrs 2021 in Florida gegründet – aus Protest gegen die Maskenpflicht an Schulen. Inzwischen hat er nach eigenen Angaben über 110 000 Mitglieder in 45 Bundesstaaten. Keine imposante Zahl, verglichen mit den beiden Lehrergewerkschaften National Education Association und American Federation of Teachers mit zusammen 5 Millionen Mitgliedern. Doch in den Schulausschüssen und den öffentlichen Bibliotheken sind die „Moms for Liberty“ in aller Munde. „Die wollen die Geschichte der Schwarzen aus dem Lehrplan streichen oder Broschüren zur Sexualaufklärung aus öffentlichen Bibliotheken entfernen“, erklärt Chapman. „Kommt mit aufgeladenen Handys, wir brauchen sie als Taschenlampen!“
Einen Tag später bei Sonnenuntergang auf dem Hotelparkplatz. Im Licht der Autoscheinwerfer eine kleine Gruppe von etwa 15 Demonstrantinnen, flankiert von mehreren Polizisten. Die Frauen haben Zettel in die Bäume gehängt; auf bunten Plakaten fordern sie: „Verbannt die Intoleranz, nicht die Bücher“, „Stoppt den christlichen Nationalismus“ oder „Lass die Freiheit lesen“.
Die „Moms for Liberty“ haben seit den letzten Wahlen in den Schulausschüssen von Charleston und dem Nachbarcounty die Mehrheit. In der obersten Etage des Hotels präsentieren sie auf einem Tisch ein Dutzend Bücher. Shannon Berlinsky, die Neue im Schulausschuss, erklärt, noch bevor ich eine Frage stellen kann: „Wir sind keine Nazis, wir haben auch jüdische Mitglieder. Wir lieben Lehrer und Bibliothekarinnen! Wir haben auch nichts gegen Homosexuelle. Wir wollen nur, dass alles, was mit Sexualität zu tun hat, aus den Schulen unserer Kinder entfernt wird.“ Die Vereinsvorsitzende Tara Wood springt ihr bei: „Wir verteidigen die Unschuld unserer Kinder.“
Eine weitere Mutter schaltet sich ein: „Schauen Sie dieses Buch an, das ist doch ein regelrechter Aufruf zur Pädophilie!“ Sie wedelt mit einer Ausgabe der Graphic Novel „Flamer“ von Mike Curato. Die „Moms“ habe alle vermeintlich anstößigen Wörter in der Coming-out-Story gezählt. Allerdings steht das Buch, das 2021 mit dem Lambda Literary Award für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde, gar nicht im Lehrplan. Für die Republikaner steht der Kulturkampf im Zentrum der Präsidentschaftswahlen. Und zu ihren Lieblingsthemen gehört seit mindestens drei Jahren die angebliche „Woke-Zensur“.
Die Psychologin Bonnie Cleaveland, die ihren Job als Leiterin der Schulgesundheitspflege in Charleston County verloren hat, macht sich Sorgen um die Teenager: „Sexualunterricht ist untersagt. Auf diesem Gebiet ist South Carolina schon jetzt einer der konservativsten Staaten.“
Die puritanische Bigotterie hat fatale Folgen. Zwar ist – laut der Hilfsorganisation „Power to Decide“ – die Zahl der „teenage mothers“ zwischen 1991 und 2020 stark zurückgegangen, aber was die Anzahl ungewollter Schwangerschaften von Minderjährigen betrifft, so belegt South Carolina auf der Rangliste der 50 US-Bundesstaaten den elften Platz.8
Cleavelands große Sorge ist, dass die Republikaner „eine Autokratie“ errichten wollen: „Und sie wissen auch, wie man das schafft.“
2 Die Southern Baptist Convention (SBC) ist die größte protestantische Konfession in den USA.
8 Daten nach: powertodecide.org/what-we-do/information/national-state-data/south-carolina.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Julien Brygo ist Journalist.
Vom Blue State zum Red State
South Carolina war der erste von sieben Bundesstaaten, der im Dezember 1860 aus der Union austrat, weil er die Sklaverei nicht abschaffen wollte. Wegbereiter der Sezession war John Caldwell Calhoun (1782–1850), der im US-Senat als South Carolinas Vertreter die Pro-Sklaverei-Fraktion anführte.
Mit dem Angriff auf Fort Sumter begann im April 1861 der Bürgerkrieg zwischen den USA und den konföderierten Südstaaten South Carolina, Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana und Texas. Die Zahl der gefallenen Soldaten wird auf 600 000 geschätzt; unter der Zivilbevölkerung gab es etwa 100 000 Tote; in South Carolina starb ein Drittel der Männer im wehrfähigen Alter.
Fort Sumter lag auf einer künstlich aufgeschütteten Insel unweit von Charleston, der für den Sklavenhandel zentralen Hafenstadt: 40 Prozent der aus Afrika verschleppten Frauen, Männer und Kinder betraten hier zum ersten Mal amerikanischen Boden.
1865 stellten die Versklavten die Mehrheit der Bevölkerung in South Carolina. Nach dem Sieg der USA über die Südstaaten war die Sklaverei auch in South Carolina formell beendet, aber es wurde eine rigorose Rassentrennung etabliert, die nahezu allen People of Color das passive und aktive Wahlrecht vorenthielt. Noch bei der Präsidentschaftswahl von 1944, als Franklin D. Roosevelt mitten im Zweiten Weltkrieg für eine vierte Amtszeit kandidierte, gingen in South Carolina nur knapp 5 Prozent der Bevölkerung zur Wahl.
Wie die meisten Südstaaten war auch South Carolina lange eine Hochburg der Demokratischen Partei, die teilweise bis in die 1960er Jahre hinein in den Südstaaten von einem Großteil der weißen Wählerschaft immer noch als Partei der Rassentrennung wahrgenommen wurde. Seit aber die Demokraten für die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung eintraten, lag fast stets der republikanische Präsidentschaftsanwärter vorn; mit Ausnahme von Jimmy Carter, der 1976 das Rennen machte.
Heute hat South Carolina den höchsten Anteil Schwarzer Menschen in den gesamten USA: Laut dem letzten Zensus von 2020 sind 26,3 Prozent der insgesamt 5,3 Millionen Einwohner afroamerikanischer Herkunft. Die meisten von ihnen wählen demokratisch – dass mit Tim Scott einer von zwei republikanischen Senatoren des Bundesstaats ein Schwarzer ist, hat ihr Wahlverhalten nicht beeinflusst.
2012 votierten 99 Prozent der Schwarzen Wähler:innen für eine zweite Amtszeit von Barack Obama, 78 Prozent der weißen Wählerschaft hingegen für den Republikaner Mitt Romney, der damit in South Carolina vorn lag.
Der politische Graben verläuft in dem Bundesstaat zwischen Küste und Binnenland. Stadt und County Charleston sind traditionell demokratische Hochburgen: Hier konnte Joe Biden seinen Gegner Donald Trump 2020 haushoch schlagen. Es gab jedoch ein kleines politisches Erdbeben, als im November 2023 mit William Cogswell erstmals seit 1870 ein Republikaner das Rathaus von Charleston eroberte.
Das Binnenland, vor allem der Nordosten, ist republikanisches Terrain. „Im ganzen Bundesstaat gibt es nur vier oder fünf Wahlkreise, in denen ein echtes Duell stattfindet. Die übrigen stimmen regelmäßig im Verhältnis 70 zu 30 für den einen oder anderen Kandidaten. „Das liegt an der permanenten Neuaufteilung der Wahlkreise“, erklärt Sam Skardon, Vorsitzender der Demokratischen Partei in Charleston. Auf diese Weise gelingt es den Republikanern, ihre Herrschaft auszudehnen: 2022 wurden in der Region 30 000 afroamerikanische Wähler:innen vom 1. in den 6. Wahlkreis South Carolinas verschoben, um der Grand Old Party (GOP) bei künftigen Wahlen noch mehr Parlamentssitze zu verschaffen. Vor dem Obersten Gerichtshof ist derzeit eine Klage gegen die Neuaufteilung der Wahlkreise nach ethnischer Zugehörigkeit anhängig. ⇥J. B.