Eine Zeitung gegen den Strich
Vor 70 Jahren wurde in Paris Le Monde diplomatique gegründet
von Benoît Breville und Pierre Rimbert
Am 19. Oktober 2022 erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament: „Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden – sind reine Terrorakte. Und als solche müssen wir sie benennen.“
Diese Regel gilt nicht länger. Zumindest dann nicht, wenn die „gezielten Angriffe“ von einem Verbündeten der westlichen Staatengemeinschaft ausgeführt werden. Nach den von der Hamas am 7. Oktober verübten Massakern an über 1200 Menschen im Süden Israels, die Mehrheit von ihnen Zivilist:innen, kündigte der israelische Verteidigungsminister Joav Gallant eine vollständige Belagerung des Gazastreifens an: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und dementsprechend handeln wir.“
Bis zum 2. Januar wurden im Gazastreifen 22 600 Menschen getötet. Die israelische Armee bombardiert Wohnhäuser, Schulen und Redaktionsräume unter dem Vorwand – der in der Ukraine auch von der russischen Armeeführung vorgebracht wird –, dass sich darin feindliche Kämpfer verschanzen.
Dass sich die französischen Medien in erster Linie auf die von der Hamas verübten Kriegsverbrechen fokussieren, hat zu einer Umdeutung des gesamten Nahostkonflikts geführt: Als Kernproblem des Konflikts erscheint plötzlich der islamistische Terrorismus. In einem Land wie Frankreich, das von zahlreichen islamistischen Anschlägen erschüttert wurde, hat eine solche Umdeutung zur Folge, dass die Medien ihre Rolle nicht mehr darin sehen, zu informieren, sondern darin, den neuen harten Kurs der Regierung mitzutragen und gegen diejenigen vorzugehen, die diesen Kurs infrage stellen.
In den Wochen nach dem Angriff der Hamas beschnitt die französische Regierung grundlegende Freiheitsrechte, die schon einmal, und zwar während der Lockdowns in der Coronopandemie, ausgehöhlt worden waren. Solidarische Kundgebungen für Palästina wurden verboten, ohne dass die selbsternannten Hüter der Demokratie dagegen Einspruch erhoben hätten. Am 10. Oktober wies Justizminister Éric Dupond-Moretti die Staatsanwaltschaft an, gegen die Verbreitung von Botschaften vorzugehen, „die zu einer positiven Bewertung der Hamas oder des Islamischen Dschihad ermutigen“. Das gelte auch, wenn solche Äußerungen „im Kontext einer Debatte von öffentlichem Interesse getätigt werden und den Anspruch erheben, Teil des politischen Diskurses zu sein“.
Das Who’s who der schreibenden Zunft stürzte sich sofort in eine eigene „Debatte“ – allerdings ging es darin nicht um die Meinungsfreiheit, obwohl sie behaupteten, diese zu verteidigen. Es wurde vielmehr gefordert, politische Gruppierungen strafrechtlich zu belangen oder zu verbieten, die den palästinensischen Widerstand, der seit seinen Anfängen mit dem Label „Terrorismus“ versehen wurde, rechtfertigen oder zu erklären versuchen. Übrigens waren hier sowohl Charles de Gaulle als auch Jacques Chirac einst anderer Meinung.
Dass sich die Redaktionen so klar auf eine Seite schlagen, rührt weniger von Duckmäusertum als echter Verblendung. Ihnen doppelte Standards vorzuwerfen, hieße darüber zu jammern, dass sie von einem Standard abweichen, den sie schon lange über Bord geworfen haben: die Gleichbehandlung und gleiche Würde für alle menschlichen Wesen.
Der ehemalige Starmoderator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, David Pujadas, brachte am 11. Oktober im TV-Sender LCI auf den Punkt, was viele Koryphäen seines Metiers denken: Sollten wir die Bewohner:innen des Gazastreifens als Komplizen der Hamas betrachten, so wie die Menschen in Russland möglicherweise Komplizen des Kreml sind?, fragte er sich. Oder sollten wir die übermenschliche Anstrengung unternehmen, Mitgefühl zu zeigen: „Sollten wir sagen, ‚ein Zivilist in Gaza ist dasselbe wie ein Zivilist in Israel‘?“
Die Antwort von John Simpson, Leiter der BBC-Auslandsredaktion, hätte Pujadas wohl verblüfft. Auf die Kritik, die Hamas nicht als Terrororganisation zu bezeichnen, antwortete er: „Unsere Aufgabe ist es, unseren Zuschauern die Fakten zu präsentieren, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.“1
Nach den verheerenden Terroranschlägen vom 13. November 2015 mitten in Paris und am 14. Juli 2016 auf der Promenade des Anglais in Nizza haben sich die französischen Nachrichtenredaktionen gewissermaßen selbst radikalisiert und verurteilen seitdem automatisch jede Kritik an den Regierenden in Washington, Brüssel oder Paris als provokant, wenn nicht gar justiziabel. Bericht erstatten bedeutet für sie, die Fakten durch eine atlantische Brille zu betrachten. Die „internationale Gemeinschaft“ ist für sie eine westliche Bruderschaft.
Zu Recht prangern sie nach der Ermordung eines Journalisten in Moskau das autoritäre Regime an; doch die Ermordung dutzender palästinensischer Journalisten entlockt ihnen nur ein müdes Achselzucken.2 Tausende Artikel beschäftigen sich mit den Desinformationen, die von Russland oder der Hamas verbreitet werden. Kommen die Fake News hingegen aus der Ukraine oder Israel, werden sie ungeprüft übernommen.
Eine weitere Konstante in der Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt ist die Verschleierung der historischen Zusammenhänge. Das Thema schafft es ohnehin nur dann in die Schlagzeilen, wenn es einen palästinensischen Angriff gegeben hat. Und dann wird geflissentlich ausgeblendet, was zuvor geschah – Kolonisierung, Vertreibung, Morde, die Zerstörung von Brunnen und Ernten, Demütigungen. Israel wird kategorisch als Opfer dargestellt, das sich selbst verteidigt. „Israel reagiert. Die israelische Regierung sagt, dass dies eine Reaktion ist“, insistierte der Journalist Benjamin Duhamel am 13. Oktober auf dem Sender BFMTV mit Blick auf die Bombardierung Gazas.
Le Monde diplomatique wurde in Opposition gegen diese Art redaktioneller Apartheid gegründet. Von seiner Gründung 1954 bis in die 1980er Jahre hinein unterstützte es zunächst die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien und dann die Bewegung der Blockfreien, also jene Staatengruppe, die sich weder dem US-amerikanischen noch dem sowjetischen Lager anschließen wollte und auf ihrer nationalen Unabhängigkeit und einer eigenständigen Entwicklung – häufig unter dem Banner des Sozialismus – beharrte.
Damals war Le Monde diplomatique mit dieser Haltung nicht allein. Doch heute ist es kaum noch vorstellbar, dass Zeitungen wie L’Express, Le Nouvel Observateur und Le Monde einst in der Lage waren, Verständnis für die „Terroristen“ der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) zu haben – die ebenfalls Massaker an Zivilisten begingen –, ja sogar FLN-Sympathisanten zu Wort kommen ließen.
Diese drei Blätter haben sich seitdem immer weiter „nach Westen“ orientiert. Und der Globale Süden, der heute den westlichen Block herausfordert, hat nur noch wenig gemein mit der neuen Welt, die vor einem halben Jahrhundert das koloniale Joch abschüttelte: Auch hier herrscht mittlerweile der freie Markt. Der Globale Süden ist fragmentiert und hat jegliches emanzipatorische Potenzial verloren. Er fordert zwar ein neues Gleichgewicht der Kräfte, das aber vor allem, um sich im Wettbewerb mit dem Globalen Norden auf dessen angestammtem Terrain eine bessere Position zu verschaffen.
Für eine Zeitung wie unsere ist es heute schwieriger denn je, sich nicht von der westlichen Bubble mitreißen zu lassen: Außerhalb von Krisenzeiten interessieren sich immer weniger Menschen für internationale Nachrichten. Für progressive Ideen wird die Luft dünn, da die politische Welt immer geschlossener auf US-Linie einschwenkt. Und das Aufkommen neuer Informationstechnologien hat leider auch nichts dazu beigetragen, diesen Trend umzukehren.
Der Daumen wischt reflexhaft übers Display, scrollt endlos durch Videoclips – zuerst durch die, nach denen wir gesucht haben, dann durch solche, die ein Algorithmus generiert hat, und dann durch wieder andere, ohne jeglichen Bezug zum ursprünglichen Thema. Während die Bilder vorbeiziehen, schaltet der Verstand ab und wird stumpf. Und trotzdem ist da dieses unbändige Verlangen, das unser Auge an den Bildschirm fesselt.
Die Digitalindustrie würde die Nachrichtenkonsument:innen gern in eine Zombiearmee verwandeln, die zwischen Katzenfotos und Bildern von Massakern hin und her taumelt. Fast unbemerkt haben sie die Art und Weise, wie wir uns Wissen aneignen, grundlegend verändert: Immer seltener geschieht dies lesend, immer häufiger über Bilder.
Für die Investoren aus dem Silicon Valley ist Lesen nicht nur unzeitgemäß, es ist auch gefährlich: Es frisst Zeit, Aufmerksamkeit und Konzentration und ist ein Ausdruck der Selbstbestimmung darüber, wie wir was und wann wir lesen. Warum lesen?, fragen diejenigen, die unser Gehirn monetarisieren wollen: Schau dir stattdessen doch einfach Bilder an!
Seit der Übernahme von YouTube durch Google 2006 und dem Aufstieg der sozialen Medien sind redaktionell unbearbeitete (und oft brutale) Videoclips zur dominanten Nachrichtenform geworden. Diese Clips, von einem Protagonisten oder Zeugen per Smartphone, von einer Drohne oder Überwachungskamera gefilmt und aus jeglichem Kontext gerissen, wecken starke Emotionen – positive wie negative – und den Impuls, zu reagieren ohne vorher nachzudenken. Wenn etwas viral geht, klingeln die Kassen.
Die Anschläge und Massaker des IS von 2015 und 2016 haben zu einer Normalisierung dieser Videos beigetragen: Die visuellen Manifestationen dieses obszönen Terrors fluteten die Bildschirme der Nachrichtensender ebenso wie die individuellen Feeds von Social-Media-Usern. Kurze Clips – heißen sie nun reels, stories, shorts oder snaps –, die in schneller Abfolge Geburtstagsfeiern, Tanzeinlagen, Fußballtore und Mordszenen zeigen, dominieren heute Instagram und Tiktok, aber auch Plattformen wie X (vormals Twitter), die sich ursprünglich auf das geschriebene Wort konzentrierten.
Angesichts der Konkurrenz durch Social Media und 24-Stunden-Nachrichtenkanäle zeigen die meisten großen Zeitungen heute ähnliche Formate auf ihren Websites, um ein jüngeres Publikum anzuziehen als ihre – in der Regel – alternde Leserschaft. Vom anonymen X-User bis zur politischen Entscheidungsträgerin, alle reagieren mittlerweile auf Bilder, als wären diese die Ereignisse selbst: „Was war Ihre Reaktion, als Sie zum ersten Mal diese Bilder gesehen haben?“, fragte am 13. Oktober Libération die Vorsitzende der französischen Grünen. „Diese Bilder, die jeder sehen konnte, zeigen den absoluten Horror des von der Hamas verübten Terroranschlags.“
Auf schockierende Bilder nicht sofort zu reagieren, gilt heute als sonderbar. Oder schlimmer: als möglicher Beweis für einen Mangel an Empathie. Thomas Legrand, Journalist bei France Inter und Libération, berief sich auf die Werte dieser „Impulspolitik“, um Politiker:innen von La France insoumise vorzuwerfen, dass sie nicht schnell genug Gefühle gezeigt haben: „Die wahre Natur einer politischen Bewegung kann an ihrer ersten Reaktion auf ein tragisches Ereignis abgelesen werden, wenn es um grundlegende Prinzipien geht und noch keine Zeit war, alle Aspekte abzuwägen“ (Libération, 10. Oktober 2023).
Dies ist eine erstaunliche Entwicklung: Politische Entscheidungsträger haben sich lange Zeit damit gebrüstet, ihre eigenen Gefühle außen vor zu lassen, um die Ursachen und Folgen eines Ereignisses mit dem Maßstab der Vernunft zu beurteilen.
Kann sich eine Zeitung dieser Dominanz der Instantreaktionen und Emotionalisierung der Berichterstattung widersetzen? In Anbetracht der Tatsache, dass es überall – manchmal zu Unrecht – heißt, die jüngere Generation informiere sich ausschließlich über soziale Medien und durch Influencer, könnte man meinen, dass die Tage von Le Monde diplomatique gezählt sind. Doch das ist mitnichten der Fall: Wie die vergangenen 70 Jahre – im Mai 1954 erschien die erste Ausgabe – möchten wir unsere Leserinnen und Leser ermuntern, mit uns die internationalen Nachrichten zu analysieren und sich dieser anspruchsvollen Tätigkeit mit Scharfsinn, Muße und Aufmerksamkeit zu widmen.
Statt Sensationslust bieten wir historische Perspektiven, Reportagen von Expert:innen und engagierte, aber gut belegte Analysen. Auch wenn wir unsere Meinung nicht hinter einer vorgeblichen Objektivität verstecken, sind wir stolz darauf, andersdenkende Leser:innen zu haben. Diese sind vielleicht nicht immer unserer Meinung, aber sie schätzen es, dass wir ihnen statt Belehrungen geprüfte Informationen liefern, die sie anderswo nicht so leicht finden.
Diese Ernsthaftigkeit mag keine leichte Kost sein: Wir veröffentlichen keine Videodebatten, keine Sofa-Interviews, keine Promiporträts, bieten keinen Newsfeed und keine Produkttests der besten Reisekissen. Unsere Website, mit der wir im Februar 1995 vor allen anderen online gegangen sind, ist nicht dazu da, Anzeigenplätze zu verkaufen oder Nutzerdaten an Werbeagenturen zu verscherbeln, sondern um Artikel zum Lesen bereitzustellen. Wir verzichten auf derlei Einnahmen und sind trotzdem noch am Leben: Unsere Auflage ist in den letzten Jahren weitestgehend stabil geblieben, während andere Zeitungen eingegangen sind.
Das einzigartige Geschäftsmodell von Le Monde diplomatique hat uns geholfen, diesen Weg zu gehen und autonom und unabhängig zu sein: 1996 haben Leser:innen die Vereinigung Les Amis du Monde diplomatique gegründet und 25 Prozent des Kapitals erworben; die Pariser Redaktion als Teil der Gunter Holzmann Association (benannt nach einem großzügigen Spender3 ) hält weitere 24 Prozent der Anteile. Zusammen haben diese beiden Parteien bei wichtigen Geschäftsentscheidungen ein Vetorecht. Eine Besonderheit ist außerdem, dass unser Direktor alle sechs Jahre neu gewählt wird, und zwar vom gesamten Team in der Avenue Stephen-Pichon und nicht nur von den Redakteur:innen.
Ignacio Ramonet und Bernard Cassen, die damals die Zeitung leiteten, waren mutig genug, die Frage nach den Eigentumsverhältnissen in der Medienbranche zu einer Zeit aufzuwerfen, in der das Thema bei den französischen Leitartiklern geradezu Schnappatmung auslöste. „Die Behauptung, man sei nicht frei, sobald ökonomische Interessen ins Spiel kommen, ist absolut haltlos“, erklärte Laurent Joffrin im Juni 1999 auf Canal+. Patrick Poivre d’Arvor sprach von „intellektuellem Terror“ und Franz-Gilvert Giesbert von einem „Krypto-Populismus à la Le Pen“ – ein vermintes Gebiet, auf dem wir uns bewegten.
25 Jahre später ist allgemein bekannt, dass 90 Prozent der französischen Medien im Besitz von neun Milliardären sind. Le Monde diplomatique hat maßgeblich zu diesem Wissen beigetragen. Die Infografik „Wem gehört was?“ gehört seit langem zu unseren meistgelesenen Veröffentlichungen.4
Als die Grafik 2007 das erste Mal erschien, wurde sie unter der Hand weitergereicht. Damals setzten die meisten Medien auf einen Code of Conduct, Vereinbarungen mit den Aktionären oder andere zahnlose Maßnahmen, um Einflussnahmen zu verhindern. Wie naiv das war, zeigt die Übernahme von I-Télé durch den Unternehmer Vincent Bolloré 2016, der den Nachrichtenkanal unter dem Namen CNews in eine Bastion der extremen Rechten verwandelte. Ähnlich erging es dem Wochenblatt Le Journal du Dimanche, das seit 2021 in Bollorés Besitz ist. Wie real die Gefahren sind, zeigte sich auch, als Elon Musk Twitter übernahm und ideologisch neu ausrichtete.
Hinter dem Erfolg unserer Grafik zu den Eigentumsverhältnissen in der französischen Medienlandschaft verbirgt sich allerdings ein Missverständnis. Le Monde diplomatique schlägt eine strukturelle Veränderung vor: Obwohl Nachrichten eine unverzichtbare öffentliche Dienstleistung sind, werden sie heute wie Billigware produziert. Stattdessen sollten sie sowohl der Zensur des Marktes als auch der des Staates entzogen werden und vergesellschaftet werden.
Doch viele, die das derzeitige Medienmonopol kritisieren, wollen das Spiel an sich nicht ändern. Sie haben nichts dagegen, wenn Zeitungen wie ein Sack Kartoffeln gekauft und verkauft werden, solange sich die neuen Aktionäre zu benehmen wissen.5 Bernard Arnault (Le Parisien, Les Échos und Radio Classique): ja. Vincent Bolloré (C8, CNews, Europe1, Le Journal du Dimanche): nein. So reduziert sich in gebildeten Kreisen die Kritik an der Kommerzialisierung der Medien auf den Kampf gegen rechtsextreme Medien, der, selbst wenn er erfolgreich wäre, die zugrundeliegende Struktur nicht antastet.
Der Schrecken über die „neun Milliardäre“ verdrängt allerdings eine andere Fehlentwicklung, die sich nicht mit der Macht der Aktionäre erklären lässt: Die gleichförmige Berichterstattung über Themen wie die Corona-Lockdowns oder den Ukrainekrieg bei den Öffentlichen (France Télévisions, France Inter), Privaten (TF1, RTL), Unabhängigen (Médiapart) oder solchen, die einem Industriekonzern gehören (Libération, Le Figaro).
Die Gewöhnung an eine immer einseitiger werdende prowestliche und emotional wie visuell überfrachtete Berichterstattung, automatisierter Clickbait-Journalismus und die Dezimierung des Vertriebsnetzes sind Le Monde diplomatique sicherlich nicht zuträglich. Unsere Abozahlen, die während der Lockdowns in die Höhe geschnellt waren, sind zwei Jahre später gesunken; die Kioskverkäufe stagnieren. 2023 ist die Gesamtauflage der französischen Ausgabe im Vergleich zum Vorjahr um 8 Prozent gesunken und hat sich bei knapp über 160 000 Exemplaren pro Monat eingependelt. In den Kündigungsbriefen werden immer wieder zwei Gründe benannt: Zeit und Geld. Warum soll ich mir eine Zeitung kaufen, die dann ungelesen auf dem Couchtisch liegen bleibt? Und wenn die Inflation die Kaufkraft schwächt, ist dann eine Monatszeitung, die die weite Welt zum Thema hat, wirklich unverzichtbar?
Viele französische Zeitungen kämpfen mit ähnlichen Schwierigkeiten. Im August 2023 lagen die Einzelverkäufe der überregionalen Tageszeitungen um 8,6 Prozent niedriger als im Vorjahresmonat, bei Wochenzeitungen gingen sie sogar um 10,4 und bei Monatszeitungen um 12,1 Prozent zurück. Auch die Regionalzeitungen leiden und haben im vergangenen Jahr viele Mitarbeiter:innen entlassen – was auch den Vertrieb weiter schwächt. Gab es 2011 noch 28 579 Verkaufsstellen, waren es 2022 nur noch 20 232.
Wenn Zeitungskioske schließen, erzeugt das einen Teufelskreis. Sinkende Verkaufszahlen lassen weitere Kioske verschwinden, was wiederum die Sichtbarkeit der Druckerzeugnisse verringert und es weniger wahrscheinlich macht, dass sie neue Leser:innen finden. Die Verlage setzen deshalb auf Digitalisierung und bieten, wie zum Beispiel Libération oder Le Monde, Abos zu Spottpreisen an, wenn sich die Neukund:innen mit ihrem Google-Konto anmelden. Die Abonnent:innen können dann Links zu Artikeln öffnen, die sie auf Social Media finden, und die Tech-Konzerne dürfen fleißig Daten sammeln. Das Ziel ist nicht länger, aus einer Haltung heraus ein Argument zu entwickeln – das wäre ein redaktionelles Anliegen –, sondern Artikel im großen digitalen Ozean treiben zu lassen.
Obwohl als Antwort auf die Zeitungskrise angepriesen, könnte diese Strategie scheitern: Mehrere Plattformen haben ihre Algorithmen zum Nachteil des Journalismus geändert, weil sie es leid waren, für Publikationsrechte zu zahlen und dafür kritisiert zu werden, die politischen Gräben zu vertiefen (wie etwa nach dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021). So bevorzugt X jetzt dubiose Influencer gegenüber journalistischen Inhalten und Facebook setzt wieder mehr auf Beiträge von Freunden und Familienmitgliedern.
Tests haben gezeigt, dass Facebook in der Lage ist, den Traffic zu Websites etwa der New York Times oder des Wall Street Journal um 40 bis 60 Prozent zu minimieren. Bei der linken US-Monatszeitschrift Mother Jones, die sich vorwiegend politischen und sozialen Themen widmet, brachen die Facebook-Besucherzahlen 2022 um 75 Prozent ein.6
Auch Le Monde diplomatique bekommt die Folgen dieser digitalen Manipulationen zu spüren. Selbst wenn wir nicht sonderlich abhängig sind von sozialen Medien, haben wir früher viele neue Leser:innen über diese Plattformen gewonnen. Zugegebenermaßen, wenn in der Welt Dramatisches geschieht, finden die Leser:innen von dort aus auch weiterhin zu unseren Artikeln. Doch die Reichweite von Le Monde diplomatique ist nicht groß genug, um unsere blockfreie Weltsicht, die den aktuellen Trends in der französischen Presse zuwiderläuft, einem breiteren Publikum nahezubringen. Dass wir bemüht sind, einen Schritt zurückzutreten und aktuelle Ereignisse in ihre historischen Kontexte einzubetten, folgt unserer Maxime, alle Argumente den publizistischen Regeln getreu zu präsentieren.
In einer Zeit, in der sich der Diskurs leicht von Trends, Hot Takes und Scheindebatten beeinflussen lässt, gibt Le Monde diplomatique nicht bestimmte Themen auf, weil sie von Kräften, gegen die wir kämpfen, vereinnahmt und verzerrt wurden. Marine Le Pen und Éric Zemmour kritisieren die EU und den Euro und preisen den Protektionismus; Donald Trump und Viktor Orbán wettern gegen die Nato; die Alt-Right in den USA behauptet die Meinungsfreiheit gegen die Zensur der Tech-Konzerne zu verteidigen …
Statt sich aus dem Kampf der Ideen zurückzuziehen unter dem Vorwand, das Gelände sei vermint, bleibt Le Monde diplomatique standhaft und entlarvt die Heuchelei der Konvertiten: Die Alt-Right verteidigt die Meinungsfreiheit im Netz, nur um weiter rassistische Beleidigungen rauszuhauen, verbietet aber progressive Schulbücher und verbannt die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar aus dem außenpolitischen Ausschuss, weil sie es gewagt hat, die Palästinenser zu verteidigen.
Doch wer aufrecht bleibt, dem bläst der Sturm ins Gesicht. „Rot-braune“, „Verschwörungstheoretiker“, „Journalistischer Schiffbruch“, „prorussisches Käseblatt“, „Feinde des Westens“, „Freunde der Terrorgruppe Hamas“, „Eine Zeitung, die schon immer Verbrechen verteidigt hat“: Solche Anschuldigungen kursieren in den Social-Media-Kanälen, und sie werden nicht immer von unseren erklärten Feinden verbreitet.
Wer versucht, zu analysieren, warum diejenigen gespalten sind, die eigentlich für eine gemeinsame Sache kämpfen könnten, wer versucht, politische Niederlagen zu verstehen, anstatt immer auf einen künftigen Sieg zu hoffen, mag jene irritieren und entmutigen, die lieber glauben wollen als einzusehen, dass Zweifel angebracht sind. Das ist der Preis der Klarheit. Welchen Wert hat eine Zeitung, die ihre Leser:innen nur in ihren Überzeugungen bestätigt? Wie Jean-Paul Sartre einmal schrieb, müssen wir manchmal „die Richtigkeit einer Idee an dem Unmut messen, den sie in uns hervorruft.“
Eine internationale Zeitung herauszubringen, ist nur durch Ihren Einsatz und Ihre Unterstützung möglich. Jedes Mal, wenn diese Zeitung in schwieriges Fahrwasser geriet, hat uns Ihr Elan zum Weitermachen inspiriert. Wir wenden uns auch heute an Sie, die „Diplo“ Menschen näherzubringen, die sie noch nicht kennen, und sie zum Abschluss eines Abos zu ermutigen.
Wenn X, Facebook und Instagram ihre Algorithmen verändern und journalistische Inhalte weniger sichtbar werden, trifft uns das kaum, denn unsere Leser:innen sind unser stärkstes soziales Netz. Und vielleicht können Sie viel besser als wir beschreiben, was diese einzigartige Zeitung ausmacht. Oft werden Sie vielleicht hören: „Ich hab keine Zeit.“ Doch selbst diese seltene Ressource, die wir nicht selten für News in Dauerschleife und Social Media verschwenden, kann zurückgewonnen werden.
„Sich zu informieren ist anstrengend“, schrieb Ignacio Ramonet. Das ist wahr, aber es ist die Voraussetzung dafür, sich ein eigenes klares Urteil bilden zu können und die Grundlage kollektiver Emanzipation.
1 John Simpson, „Why the BBC doesn’t call Hamas ‚terrorists‘ “, 11. Oktober 2023.
3 Siehe Ignacio Ramonet, „Gunter Holzmann – ein Nachruf“, LMd, Februar 2001.
5 Siehe Benoît Bréville, „Frankreichs Medienmilliardäre“, LMd, September 2023.
Aus dem Französischen von Anna Lerch