Israels falsche Strategie
Seit Jahrzehnten kritisiert der ehemalige Geheimdienstler Matti Steinberg die Politik gegenüber der Hamas
von Charles Enderlin
Es hatte viel geschneit in Jerusalem an diesem 15. März 2003. Avi Dichter, Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, musste deswegen die Strecke zu Matti Steinbergs Haus im Viertel Beit Hakerem teilweise zu Fuß zurücklegen. Dichter sollte seinem besten Palästina-Experten, der jahrzehntelang erst für den militärischen Geheimdienst Mossad und dann für Schin Bet gearbeitet hatte, mitteilen, dass seine Dienste nicht mehr gewünscht seien.
Steinberg hatte kritisiert, dass Ministerpräsident Scharon die Friedensinitiative des saudischen Kronprinzen Abdallah zurückwies, die dieser im März 2002 auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut vorgestellt hatte.1 Der Plan – bis heute die offizielle Position der Liga – zielte auf eine vollständige Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. Im Gegenzug sollte sich Israel aus den seit dem Sechstagekrieg von 1967 besetzten Gebieten zurückziehen. Die Golanhöhen sollten wieder an Syrien gehen und im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem ein palästinensischer Staat entstehen.
Steinberg war davon überzeugt, dass die politische Führung mit ihrer Fixierung auf die Sicherheitspolitik langfristig die Zukunft seines Landes aufs Spiel setzte. Israel könne nur dann ein demokratischer und jüdischer Staat bleiben, wenn es die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staats ermögliche.
Mittlerweile ist Matti Steinberg ein renommierter Wissenschaftler, der nach wie vor kein Blatt vor den Mund nimmt.2 2005 versuchte er Israels militärischen und politischen Entscheidungsträgern klarzumachen, dass der von Scharon beschlossene einseitige Rückzug aus Gaza und die Auflösung der Siedlungen eine strategische Katastrophe nach sich ziehen würden. Scharons Berater Dov Weissglas hatte am 8. Oktober 2004 gegenüber der Tageszeitung Haaretz erklärt, der Rückzug bedeute das Einfrieren des politischen Prozesses, damit sei die Gründung eines palästinensischen Staates und jede Diskussion über Flüchtlinge, den Grenzverlauf und Jerusalem unterbunden.
Im Dezember 2005 übernahm Ariel Scharons Stellvertreter Ehud Olmert die Regierungsgeschäfte für den schwer Erkrankten. Im Juli 2007 wurde der israelischen Armee untersagt, die Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in ihrem Kampf gegen die Hamas in Gaza zu unterstützen.
Die Verantwortlichen in Israel setzten darauf, dass die Selbstverwaltung der Hamas in Gaza die PA unter Mahmud Abbas im Westjordanland schwächen würde. Laut Steinberg ließen sie außer Acht, dass die Ambitionen der Hamas sehr viel weiter gingen als Gaza: Die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem ist für sie das Herzstück des zu erobernden Territoriums.
Als 2009 Benjamin Netanjahu erneut an die Macht kam, setzte er die Strategie fort, die Hamas in Gaza an der Macht zu halten; er bewilligte ihre Finanzierung durch Katar, und erklärte 2019, wer einen palästinensischen Staat verhindern wolle, müsse die Hamas und ihre Finanzierung unterstützen.3
Im Dezember 2022 bildete Netanjahu die rechteste Regierung, die Israel je hatte. Damit wurde Bezalel Smotrich, ein Rechtsextremist aus der Siedlerbewegung, Finanzminister und außerdem zuständig für die zivile Verwaltung des Westjordanlands, das heißt für den Siedlungsbau. Smotrich hatte bereits 2017 als Abgeordneter einen Plan vorgelegt, nach dem „Araber in Judäa und Samaria“, also im Westjordanland, „als Individuen im jüdischen Staat bleiben und leben“ dürfen. Wer jedoch an nationalen Ambitionen festhalte, werde eine „Unterstützung erhalten, damit er in einen der vielen arabischen Staaten auswandern kann“.
Mit Sorge verfolgte Steinberg die palästinensischen Reaktionen auf solche Provokationen – etwa auf den Webseiten der Hamas, wo apokalyptische Diskurse stark zunahmen. Bereits 1998 hatte Hamas-Gründer Scheich Ahmed Yassin (1937–2004) verkündet, das „zionistische Gebilde“ werde im Jahr 2027 nicht mehr existieren. Steinberg warnte, die Hamas-Theologen seien entschlossen, die Prophezeiung vorzeitig wahr werden zu lassen.
Der stellvertretende Vorsitzende des Hamas-Politbüros und Mitbegründer der Kassam-Brigaden, Saleh al-Aruri, wurde am 2. Januar in Beirut getötet. Am 25. August 2023 hatte er sich in dem der Hisbollah nahestehenden libanesischen Fernsehsender Al Mayadeen geäußert: „Bezalel Smotrich will einen großen Konflikt, der es ihm ermöglicht, die Palästinenser aus dem Westjordanland und den 1948 besetzten palästinensischen Gebieten zu vertreiben. Ich sehe für die unmittelbare Zukunft einen harten Kampf voraus, dessen Ausgang starke Auswirkungen auf die Situation in Palästina und in der Region haben wird.“
In diesem Interview sprach al-Aruri ausschließlich über das Westjordanland und verlor kein Wort über Gaza. War das eine bewusste Auslassung, mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit Israels von dem abzulenken, was in Gaza vorbereitet wurde? Matti Steinberg jedenfalls war sie nicht entgangen.
Am Morgen des 7. Oktober erlitt Israel die größte militärische Niederlage seiner Geschichte. Tausende bewaffnete Hamas-Kämpfer überwanden die Sperranlagen um Gaza und eroberten die benachbarten Militärposten. Anlässlich des Feiertags Simchat Tora hatte der israelische Generalstab Soldaten von der Gaza-Grenze abgezogen, um die Sicherheit der Siedler im Westjordanland zu gewährleisten.
Warnungen vor einem Guerillakrieg
Die Angreifer drangen in 22 israelische Ortschaften ein, nachdem sie Dutzende Soldatinnen und Soldaten getötet oder gefangen genommen hatten, verübten Massaker an Zivilisten jeden Alters. Die Bilanz des terroristischen Angriffs vom 7. Oktober: 1139 Menschen wurden von der Hamas getötet und etwa 240 als Geiseln verschleppt, (105 von ihnen wurden während der Waffenruhe im November freigelassen). Knapp 1000 Hamas-Angreifer wurden getötet. Die Armee benötigte vier Tage, um die vollständige Kontrolle über die Grenze wiederzuerlangen.
Zum ersten Mal seit 1973 rief die Regierung die allgemeine Mobilmachung aus und aktivierte 360 000 Reservisten. Erklärtes Ziel war die Zerstörung der militärischen und politischen Strukturen der Hamas und die Befreiung der Geiseln, von denen (Stand 2. Januar) noch 128 im Gazastreifen gefangen sind. Nach intensiven Luftangriffen begann die israelische Armee mit einer groß angelegten Bodenoffensive in Gaza.
Über eine Luftbrücke wird die israelische Armee dabei mit Raketen und Munition aus US-Arsenalen versorgt. Bis zum 5. Januar zählte das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza 22 600 Tote, 57 910 Verletzte und rund 1,9 Millionen Binnenvertriebene (85 Prozent der Bevölkerung in Gaza). 65 Prozent der Gebäude sind komplett zerstört.4
Angesichts der rasant steigenden zivilen Opferzahlen mahnte US-Präsident Biden am 12. Dezember: „Diese wahllosen Bombenangriffe führen dazu, dass Israel seine internationale Unterstützung verliert.“ Netanjahu solle seine „Regierung ändern“, forderte Biden. „Ben-Gvir und seine Leute wollen nichts, was auch nur annähernd einer Zweistaatenlösung gleichkommt. Sie wollen nicht nur Vergeltung an der Hamas für das, was sie getan hat, sondern Vergeltung an allen Palästinensern. Sie wollen keine Zweistaatenlösung.“
Netanjahu reagierte noch am selben Tag, indem er einem palästinensischen Staat eine Absage erteilte. Auch eine Übernahme des Gazastreifens durch die PA komme nicht infrage. „Ich werde nicht zulassen, dass Israel die Fehler von Oslo wiederholt. Ich werde nicht erlauben, dass jene Zugang zu Gaza erhalten, die Terrorismus lehren, unterstützen und finanzieren“, sagte Netanjahu und fügte hinzu: „Gaza wird weder Hamastan noch Fatahstan werden.“
Und wie steht die israelische Bevölkerung dazu? Anfang Dezember veröffentlichte das Israel Democracy Institute das Ergebnis ihrer sechsten Umfrage seit Kriegsbeginn, die vom 27. bis 30. November durchgeführt wurde und unter anderem folgende Frage enthielt: „Sollte Israel das Prinzip der Zweistaatenlösung akzeptieren, um weiterhin amerikanische Hilfe zu empfangen?“ 35 Prozent der 600 interviewten jüdischen Israelis bejahten die Frage; 52 Prozent antworteten mit Nein.5
„Die Israelis sind von den Zerstörungen in Gaza nicht sonderlich erschüttert, denn die Stimmung ist extrem aufgeheizt“, sagt Professorin Tamar Hermann, die für die Umfrage mit zuständig war. „Jeden Tag gibt es Meldungen von getöteten Geiseln, unsere Soldaten sterben im Kampf.“ Ihrer Meinung nach wäre es besser gewesen, „wenn die Armee weniger zerstörerische Mittel eingesetzt hätte“. Hermann bezweifelt allerdings, dass dies an den internationalen Reaktionen gegenüber Israel etwas geändert hätte.
„Unabhängig von den moralischen und rechtlichen Überlegungen muss man sagen, dass Rache ohne Strategie keine Politik sein kann“, sagt Matti Steinberg. „Der Armee gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza freie Hand zu lassen, stellt eine Gefahr für Israel dar.“ Indem sie eine Überreaktion Israels provozierten, so Steinberg, versuchten die terroristischen Organisationen das Land in den Augen der internationalen Gemeinschaft zu delegitimieren. „Im Umkehrschluss erhalten sie selbst dadurch eine Art Legitimation.“
Wenn Israel sich nicht aus dem Gazastreifen zurückziehe, werde es mit einem allgegenwärtigen Guerillakrieg fertig werden müssen, meint Steinberg: „Dessen Ziel wird es sein, die Israelis in eine Situation ähnlich der im Südlibanon zu verstricken. Das würde die Beziehungen zu Ägypten und Jordanien gefährden. Und es könnte sogar dazu kommen, dass die Friedensverträge infrage gestellt werden. Die Hamas würde daraus gestärkt hervorgehen.“
In Israel werden gerade täglich Soldaten zu Grabe getragen, die in Gaza umgekommen sind; die Bevölkerung ist durch die Ereignisse vom 7. Oktober traumatisiert. Überlegungen wie die von Matti Steinberg spielen in der öffentlichen Meinung da kaum eine Rolle.
Jeden Samstagabend versammeln sich Menschen zu Tausenden auf dem Platz vor dem Kunstmuseum in Tel Aviv, den sie in „Platz der Entführten“ umbenannt haben. Sie demonstrieren ihre Solidarität mit den Familien der Geiseln und fordern von der Regierung, die Befreiung der verbliebenen Geiseln zur obersten Priorität zu machen.
Vor der Knesset in Jerusalem haben mehrere Familien, deren Angehörige von der Hamas ermordet wurden, ein Zelt errichtet. Sie wollen so lange bleiben, bis die Regierung Netanjahu zurücktritt. Die ist nicht nur wegen des Krieges angezählt, sondern auch wegen des Urteils des Obersten Gerichts, das das Kernstück ihrer geplanten Justizreform am 1. Januar gekippt hat. Initiator der Proteste vor Ort ist der 74-jährige Yaacov Godo, dessen Sohn am 8. Oktober im Kibbuz Kissufim getötet wurde, als er seine Frau und seine drei Töchter beschützte. Die vier überlebten.
Godo ist Mitglied der NGO „Looking the Occupation in the Eye“. Im Jordantal hat er regelmäßig an Aktionen zum Schutz palästinensischer Hirten teilgenommen, die von jüdischen Siedlern angegriffen wurden. „Dieser Krieg ist sinnlos“, sagt er. „Er hätte schon längst aufhören sollen. Er hat kein definiertes Ziel. In Gaza gibt es schreckliche Zerstörungen mit unvorstellbar vielen Toten. Auch unsere Soldaten sterben.“ Die Geiseln zu befreien sei natürlich das Hauptziel, sagt Godo. „Aber ich sehe nicht, dass diese Regierung und der, der sie anführt, dazu in der Lage sind.“
Den Demonstranten hat sich auch Brigadegeneral David Agmon angeschlossen, der 1996 kurzzeitig Netanjahus Kabinettschef war. Unterstützt werden sie von vielen Israelis, von Likud-Anhängern allerdings werden sie oft beleidigt, bedroht und als „linke Verräter“ beschimpft. Einer hat sogar versucht, ihr Zelt anzuzünden, bevor er von der Polizei gestoppt wurde.
Ähnliche Angriffe rechter und rechtsextremer Aktivisten zielen auf die Organisation der Angehörigen von Hamas-Geiseln. Es gibt Anhänger eines zionistischen Messianismus, die den Krieg als Zeichen der bevorstehenden Erlösung deuten. Yoel Elitzur, Linguistik-Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, veröffentlichte auf der religiösen Website Srugim einen Artikel, in dem er das Massaker vom 7. Oktober als Teil eines göttlichen Plans zur Bestrafung der Israelis beschrieb. Denn die hätten „die unermessliche Weite ihres Landes und die Städte ihrer Vorfahren aufgegeben und eitle Werte gewählt, indem sie sich sexuellen Abscheulichkeiten hingegeben haben“.
Nach einem öffentlichen Aufschrei musste Elitzur seinen Text zurückziehen. Aber in diesem Milieu gewinnt die Idee, in Gaza wieder Siedlungen zu errichten, immer mehr Anhänger. Der Historiker und Aktivist Tomer Persico, der derzeit am Jerusalemer Shalom-Hartman-Institut forscht, befürchtet, dass die nationalistische Rechte gestärkt aus dem Krieg hervorgehen wird. „Der aktuelle Konflikt wird in einen politischen Prozess in der Region münden“, vermutet er. „Wenn Israel ihn nicht akzeptiert und sich regional rehabilitiert, wird es in dem Teufelskreis der Netanjahu-Jahre verharren.“ Die Folge wären Isolation und der wirtschaftliche wie soziale Zusammenbruch.
1 Siehe Ignacio Ramonet, „Sabotierter Friede“, LMd, April 2002.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Charles Enderlin ist Journalist und Autor in Jerusalem. Zuletzt erschien von ihm „Israёl. L’agonie d’une démocratie“, Paris (Seuil) 2023.