11.01.2024

Tren Maya – mehr als ein Zug

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Tren Maya – mehr als ein Zug

Umweltschützer, indigene Aktivisten und Behörden streiten um das große Infrastrukturprojekt in Südmexiko

von Luis Reygada

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Der Flughafen von Cancún auf der Halbinsel Yucatán ist mit rund 500 Flügen täglich die Nummer eins in Lateinamerika. 2022 gab es mit mehr als 30 Millionen Fluggästen einen neuen Rekord. Aus der ganzen Welt, vor allem aus den USA, reisen die Touristen an die Riviera der mexikanischen Karibikküste.

Direkt neben dem Flughafen entsteht der Bahnhof Cancún-Flughafen, Herzstück des künftigen Eisenbahnnetzes Tren Maya. Das gigantische Lieblingsprojekt von Präsident Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, wird umgerechnet mehr als 19 Milliarden Euro kosten. Mit einer Schienenlänge von 1554 Kilometern soll es dieses Jahr in Betrieb gehen. In vielen Windungen wird sich die Bahn durch Campeche, Yucatán und Quintana Roo schlängeln, Mexikos drei Bundesstaaten auf der Halbinsel, und dann über Tabasco bis nach Chiapas führen.

Der Tren Maya soll die größten Städte der Region verbinden und mit 42 Zügen bis zu drei Millionen Fahrgäste im Jahr befördern. Er soll vor allem dazu beitragen, dass sich die Touristenmassen verteilen, die sich immer noch an der Küste konzentrieren. Man hofft damit einen Entwicklungsschub in Gang zu setzen für die vom Staat bislang stets vernachlässigte Region. Laut ihrer offiziellen Website geht es der Regierung darum, „die Wirtschaft zu stimulieren und folglich die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern“. Dieses „folglich“ allerdings überzeugt nicht alle.

Schon vor fast 50 Jahren formulierte der mächtige Fondo Nacional de Fo­men­to al Turismo (Nationalfonds zur Förderung des Tourismus, Fonatur) genau das gleiche Versprechen bei der Planung von Cancún, einem auf dem Reißbrett entworfenen Badeort. Die heutige Stadt war damals ein Fischerdorf inmitten von unberührtem Dschungel und einsamen Stränden. Mittlerweile geben Touristen hier jedes Jahr mehrere Milliarden Euro aus. Doch hinter dem Postkartenpanorama des prächtigen Hotelviertels verbirgt sich das Scheitern des Projekts – vor allem in sozialer Hinsicht.

Abseits der Frühstücksbüfetts in den Luxushotels und der überdimensionalen Kreuzfahrtschiffe, die im Hafen anlegen, frisst sich ein Elendsgürtel von mehr als zweihundert irregulären Siedlungen immer tiefer in den Urwald. 250 000 Menschen leben hier ohne fließendes Wasser oder Kanalisation, manchmal ohne Strom, oft in behelfsmäßigen Hütten. Und die Jobs in den All-inclusive-Hotels – mit einer Arbeitsteilung nach Klassen und ethnischer Zugehörigkeit – gibt es nur zu ausbeuterischen Bedingungen, wie Renaud Lariagons Film „Mayapolis“1 von 2023 dokumentiert hat. Dass der linksnationalistische und erklärt antineoliberale Präsident Amlo das Projekt Tren Maya ausgerechnet dem Fonatur anvertraut hat, schürt sogar in seinem eigenen ­politischen Lager große Befürchtungen.

„Neben dem Tourismus berücksichtigen wir auch soziale und Umweltfragen“, versicherte 2019 Fonds-Direktor Rogelio Jiménez Pons und führte Cancún als abschreckendes Beispiel an.2 Als Beweis für die guten Absichten der Regierung diente die enge Zusammenarbeit mit verschiedenen UN-Organisationen. Die Unesco schrieb damals von einem „umfassenden Gestaltungsprojekt für das Gebiet, die Infrastruktur, das ökonomische Wachstum und nachhaltigen Tourismus, der dem sozialen Wohlergehen der Bewohner dient“.3

Massentourismus an der karibischen Riviera

Die tropische Region ist zu 80 Prozent von dichter Vegetation bedeckt. Umweltschützern, die vor den ökologischen Folgen warnten, entgegnete Jiménez Pons: „Der Mensch hat Vorrang. Ein Land hat nichts zu gewinnen mit wohlgenährten Jaguaren und hungernden Kindern – es muss ein Gleichgewicht geben.“4

Bundesautobahn 307, Richtung Süden. Die Riviera Maya empfängt ihre Besucher mit riesigen Werbeplakaten für Gated Communities und 5-Sterne-Resorts wie das im Dezember eröffnete Royalton Splash Riviera: tausend Zimmer, zwölf Restaurants und ein Erlebnisbad, exklusiv für Hotelgäste.

Parallel zur Straße entsteht ein 110 Kilometer langes Teilstück des Tren Maya. Das ist eine jener Strecken, die von den Umweltschützern heftig kritisiert werden. Für ihren Bau musste ein 60 Meter breiter Streifen entwaldet werden: 2,2 Millionen Bäume wurden, nach Angaben von Fonatur, gefällt oder versetzt – „unter Missachtung mehrerer mexikanischer Umweltgesetze und internationaler Abkommen“, klagt Greenpeace Mexiko.5

Dort, wo in wenigen Monaten der erste Bahnhof dieses Abschnitts stehen soll, sieht man bisher nur eine staubige Baustelle. Man kann sich gut vorstellen, wie die riesigen Maschinen inmitten der dichten Vegetation hektarweise Leere schaffen. Unter den Kränen entlang der künftigen Strecke kreuzen Lastwagen zu Dutzenden den Weg von Pick-ups, auf deren Ladeflächen die Arbeiter unter der erbarmungslosen Sonne hin und her gekarrt werden. Das ist „Abschnitt 5 Nord“, wie ein Transparent in den Farben einer Pioniertruppe verkündet: Wie schon bei anderen Megaprojekten hat der Präsident dem Verteidigungsministerium die Zuständigkeit für die Bauarbeiten übertragen. Die Armee übernimmt den Bau von einem Drittel der Gleise (550 Kilometer) sowie von sechs großen Hotels, mit fast 30 000 Soldaten und mehr als 2000 Baggern und Bulldozern.

Wir haben kaum Zeit, ein paar Fotos zu machen von den baulichen Fortschritten an dem Viadukt, als uns schon ein Soldat auffordert, uns zu entfernen. Das Projekt wurde von Amlo persönlich als „sicherheitsrelevant“ eingestuft, unter anderem wegen der verdächtigen „Gruppen von Pseudo-Umweltschützern“, die angeblich von der US-Regierung finanziert werden.6

Als solches ist es von bestimmten bürokratischen Formalitäten befreit und vor den juristischen Verfahren geschützt, mit denen Aktivisten versuchen die Bauarbeiten zu verzögern. Über eine halbstaatliche Gesellschaft wird sich die Armee auch um den Betrieb des Gesamtnetzes kümmern – wenn es denn so weit ist. Das Verteidigungsministerium garantiere „eine ordentliche Verwaltung und bewahrt vor der Gefahr einer Privatisierung“, erklärte Amlo Ende 2021. Eine erstaunliche Aussage in einem für seine Korruption berüchtigten Staat.7

Ein paar Kilometer weiter erfrischen sich die Arbeiter in ihrer Pause mit Tamarindensaft und geeister Erdmandelmilch. Die Architektin Gabriela Reyes, Angestellte einer Vertragsfirma des Verteidigungsministeriums, zweifelt nicht daran, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, um die Umweltschäden durch den Bahnbau zu begrenzen: „Vor Beginn der Arbeiten haben wir mit Teams vom Umweltministerium die Fauna und Flora inventarisiert.“ Die gefundenen Krokodile, Schildkröten, Schlangen und Frösche seien in Begleitung von Tierärzten in Reservate umgesetzt worden.

Einer ihrer Kollegen weist darauf hin, dass die Strecke wegen der Bedenken der Umweltschützer mehrfach geändert worden sei: „Hier verlaufen die Gleise als Hochbahn, damit die Vegetation wieder wachsen kann. Und über weite Strecken werden bereits vorhandene Trassen genutzt, da mussten wir gar nicht entwalden.“

Laut dem Mexikanischen Zentrum für Umweltrecht (Cemda) wurden bei dem Projekt insgesamt „2500 Hektar tropischer und tropophiler Regenwald“ vernichtet und 20 Naturschutzgebiete sind direkt betroffen.8 Gegner des Projekts, die von einem „Ökozid“ sprechen, werden sowohl von der mexikanischen Rechten unterstützt, die neuerdings ihr Umweltbewusstsein entdeckt hat, als auch von interna­tio­nal bekannten Persönlichkeiten wie Yakú Perez, dem indigenen Menschenrechtsaktivisten und früheren Präsidentschaftskandidaten Ecuadors. Die Amlo-Regierung entgegnet ihren Kritikern dann immer, dass sie das weltweit größte Aufforstungsprogramm lanciert habe, mit 500 Millionen neu gepflanzten Wald- und Obstbäumen auf fast 450 000 Hektar.

„Sie haben auch Naturschutzgebiete vergrößert und sogar neue ausgewiesen. Allerdings sind nicht alle davon durch natürliche Korridore verbunden, weshalb sie für den Erhalt einiger endemischer Arten nichts bringen“, erklärt Raul Padilla, Co-Direktor des Jaguar Wildlife Center, einer Organisation zur Umwelterziehung. Gemeinsam mit der Bürgerinitiative Selvame del Tren (Rette mich vor dem Zug) wirft Padillas Verein der Regierung vor, verfälschende Stu­dien in Umlauf zu bringen, in denen zum Beispiel die Jaguare nicht vorkommen, obwohl sie eine bedrohte Art sind. Außerdem wolle die Regierung die Bedrohung der riesigen Unterseegrotten kleinreden, deren fantastische Karsthöhlen von Forschern aus aller Welt bestaunt werden.

Padilla befürchtet eine regionale Umweltkatastrophe: „Der Zug wird ein kaum kontrollierbares urbanes Wachstum auslösen“, warnt er und lässt die Aufnahmen seiner Livekameras auf dem Bildschirm vorbeiziehen: Pumas, Rehe, Tayras, Opossums. „Die Entwaldung wird sich verstärken, egal was die Regierung behauptet.“

Stromanschluss für 130 Ortschaften

Auf dem Hauptplatz des beschaulichen Badeortes Puerto Morelos schimpft Raymundo Almarte auf die Leute, die sich über ein Projekt beklagen, „das endlich den Mexikanern helfen will“. Er arbeitet seit 20 Jahren im Tourismus und organisiert Quad-Touren durch den Dschungel. „Als die Europäer und die Gringos hier alles zerstört haben, hat sich niemand beklagt“, sagt er empört. „Den großen spanischen Hotelketten gehört fast die gesamte Küste, seit Jahrzehnten fällen sie Bäume, bauen direkt am Ufer und verschmutzen das Wasser, das in die Karibik fließt. Wie viele tausend Hektar Mangrovenwald die schon zerstört haben!“

Almarte befürchtet bloß, dass seine Stadt durch einen massiven Touristenzustrom kaputt gemacht wird: „Wir wollen nicht, dass es hier wird wie die Playa del Crimen“ – „Strand des Verbrechens“: So wird der nahe gelegene quirlige Ort Playa del Carmen oft genannt. Das heutige Zentrum der Riviera hat ein rasantes Wachstum erlebt. 1980 hatte die Ortschaft noch keine tausend Einwohner, mittlerweile sind es mehr als 300 000. Die Besucherströme wecken die Begehrlichkeiten der organisierten Kriminalität. Am Strand, über den elektronische Musik dröhnt, sind Patrouillen mit Sturmgewehr inzwischen ein ganz normaler Anblick.

15 Kilometer südlich von Puerto Morelos steuert Quetzal Tzab, der marginalisierten Gemeinschaften hilft, einen Geländewagen über die staubige Piste. Am Straßenrand stehen Vermessungsingenieure mit ihren Ta­chy­me­tern auf neongelben Stativen. „Die meisten Gemeinschaften freuen sich, dass der Zug kommt“, versichert er. „Auf jeden Fall muss die Regierung sie berücksichtigen, auch wenn die Bewohner keine Eigentumstitel haben.“

Neben den 3,9 Milliarden Euro, die der Region 2023 für Sozialprogramme (Renten, Stipendien, Beihilfen und diverse Subventionen) zur Verfügung standen, sind laut dem Fonatur-Fonds für die Bewohner von 130 Ortschaften entlang der Bahnstrecke 388 Bauprojekte und Maßnahmen eingeplant, wie Straßenreparaturen, Wiederherstellung öffentlicher Räume, Installation von Stromleitungen und Kanalisation und der Bau von Gewerbeflächen und Wohnungen.

In Vida y Esperanza, einem kleinen, wenige Minuten von der künftigen Bahn entfernten Dorf, gibt es ebenso viele evangelikale Kirchen wie fantastische Wunderpflanzen. Unter einer rissigen Plane steht Miguel Gongora hinter einer Art Marktstand. Was er eigentlich verkauft, ist nicht ganz klar. Er bietet uns in köstlichen Honig eingelegte Macauba-Früchte an. „Man kann den Fortschritt nicht verhindern, also müssen wir zusehen, dass wir auch etwas davon haben“, sagt er. Mit dem Zug, der auch dem nichttouristischen Verkehr dienen wird, hofft er, dass junge Leute von hier eine Ausbildung bekommen „und Ingenieure werden“. „Die Leute in der Stadt wissen nicht, wie es ist, in einem Dorf am Ende der Welt aufzuwachsen.“

Der Gemeindevorsteher Alberto hat gerade das Geflügel gefüttert und empfängt uns in seinem Gemüsegarten. „Durch den Zug werden wir an das Stromnetz angeschlossen!“ Alberto und die Vertreter der Nachbargemeinden hätten von Fonatur und dem Verteidigungsministerium die Zusicherung bekommen, „dass die Wege aufgeschüttet und asphaltiert werden“.

In den sozialen Netzwerken und in der Presse, insbesondere in der internationalen, finden die Bedenken der Umweltschützer große Verbreitung, und mexikanische Promis wie Sängerinnen oder Schauspieler schließen sich an. Von den meisten Menschen, denen wir vor Ort begegnen, werden diese Bedenken nicht geteilt. „Das ist vor allem eine Medienkampagne, die von bestimmten Gruppen ausgeht, aber keineswegs eine soziale Bewegung“, meint Étienne Von Bertrab, der am University College London Umweltentwicklung lehrt und eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zu den Auswirkungen des Tren Maya mitgegründet hat.

Der Mexikaner Von Bertrab bekundet offen seine Sympathien für den gegenwärtigen Präsidenten. Die Halbinsel Yucatán werde nicht von Konflikten zerrissen, betont er, obwohl es sich „unzweifelhaft um ein Riesenprojekt mit starken Auswirkungen“ handelt. „Wir haben erlebt, dass viel weniger spektakuläre Projekte auf große soziale Widerstände getroffen sind. Hier wird deutlich, dass die Sorgen anderer Art sind.“ In den Städten, die bald einen Bahnhof erhalten, beklagen sich viele über steigende Lebensmittelpreise und höhere Mieten. Mittelfristig fürchtet man sich am meisten vor wachsender Unsicherheit durch die Drogenkartelle und vor Immobilienspekulation.

Dafür kann der Badeort Tulum als abschreckendes Beispiel dienen. Nach dem Muster seiner beiden großen Schwestern Playa del Carmen und Cancún beherbergt das einstige Fischerdorf heute 11 000 Touristenbetten. 1,8 Mil­lionen Feriengäste waren im letzten Jahr hier, angezogen von der besonderen Atmosphäre der exklusiven Beach Clubs mit spirituellen, neoschamanistischen Angeboten.

Dazu ein weißer Sandstrand, Palmen und die Ruinen einer alten Maya-Festung auf einem Felsen über dem türkisblauen Meer: Tulum ist ein Paradies der Instagrammer, aber auch der Immobilienentwickler. „Traumstrände, lebendige Kultur, exponentielles Wachstum: der ideale Ort für hohe Renditen“, schwärmte der Mexikanische Immobilienverband am 23. Juni auf Facebook.

Die Stadt ist das Opfer eines ungeregelten Wachstums, das die Natur zerstört und die ursprünglichen Bewohner beraubt. Aber sie wächst immer weiter in den Urwald hinein, getrieben von Hotelbesitzern, die in ihren Werbebroschüren ausgerechnet auf dem Ökotrip surfen. Die öffentlichen Dienstleistungen – Straßenbau, Elektrifizierung, Kanalisation, Transportmittel – kommen kaum noch hinterher. Doch die lokalen Behörden setzen auf den Zug – und auf einen neuen internationalen Flughafen. Man rechnet mit 5,5 Millionen Fluggästen im Jahr. Bei den sogenannten flankierenden Maßnahmen verlassen sie sich auf den „guten Willen“ der Immobilienentwickler, „die wir bitten, nachhaltig zu investieren und die Umweltnormen zu respektieren“, wie uns ein Beamter im Rathaus versichert.

Doch in einem Land, wo nach allgemeiner Überzeugung alles käuflich ist, auch die Umgehung der Gesetze, kann man sich kaum vorstellen, dass der hemmungslosen Vermarktung des Bodens irgendetwas entgegenstehen könnte. Und zwar trotz der löblichen Ambitionen der Regierung bei der Planung des Tren-Maya-Projekts. „Die Regierung bemüht sich sehr, die brutalsten Instinkte des Kapitalismus in der Region zu bändigen, aber guter Wille hat noch nie gereicht, wie wir aus Erfahrung wissen“, sagt Von Bertrab. „Vielleicht gibt es da eine gewisse Naivität gegenüber einer äußerst gierigen Tourismusindustrie.“

Weiter südlich, in der Nähe von Felipe Carillo Puerto – 30 000 Einwohner und ebenfalls in Erwartung eines Bahnhofs – empfängt uns Ángel Sulub. „Neben dem Verlust unseres Landes drohen vor allem schlimme Auswirkungen auf unsere kulturelle Identität: unsere Sprache, unsere Bräuche, unsere soziale Organisation“, befürchtet er.

Sulub ist Mitglied des Nationalen Indigenen-Rats. Er engagiert sich weniger aus Umweltgründen als aus einer „antikapitalistischen und antikolonialistischen Position“ heraus gegen den Zug. „Es ist nicht nur der Tourismus. Es wird auch Güterverkehr geben, sie wollen uns mit dem Transisthmischen Korridor verbinden.“ Dahinter steckt das Megaprojekt einer Eisenbahnverbindung vom Atlantik zum Pazifik, in Konkurrenz zum Panamakanal. „Diese Projekte dienen nur dem Extraktivismus und den multinationalen Konzernen.“

Ihn wundert es nicht, dass die große Mehrheit der lokalen Bevölkerung den Zug befürwortet. Wie könnte es nach einem Jahrhundert Assimilationspolitik durch den mexikanischen Staat anders sein? Vor einer Wand mit Plakaten, die an die Geschichte des Maya-Widerstands im sogenannten Kastenkrieg (1847–1901) erinnern, macht Sulub dem „neokolonialen Tourismus“ den Prozess.

Kahlschlag im Biosphärenreservat Calakmul

„Er wird uns als Fortschrittsfaktor präsentiert, die ländliche Welt mit der Vergangenheit gleichgesetzt“, schimpft Sulub. „Die jungen Leute wollen studieren, damit sie an der Riviera arbeiten können, und wer wollte es ihnen übelnehmen? Die Bildung steht im Dienst des Staates, der im Dienst der Unternehmen steht. Sie haben uns erfolgreich eingeredet, dass das Leben in den Slums von Cancún besser sei als das unserer Vorfahren, autonom und gemeinschaftlich inmitten der Natur.“

Über die Autobahn 186 geht es in den Bundesstaat Campeche. Vor uns brettern Schwerlaster durch das Biosphärenreservat Calakmul im Herzen des zweitgrößten noch bestehenden Tropenwaldes von Amerika nach dem Amazonas. In seinem Innern liegen hunderte prähispanische Ruinen, darunter die gewaltige Maya-Stadt, von der das Reservat seinen Namen hat und die zum Unesco-Welterbe gehört.

Hier ist Eleazar Ignacio Dzib Ek aufgewachsen. Er ist stolz auf seine Maya-Wurzeln. Mit dem Jura-Examen in der Tasche hat er beschlossen, in seine Heimatregion zurückzukehren, wo er aktiv am Leben der Gemeinschaft teilnimmt. „Ich verstehe und respektiere meine indigenen Brüder, die um die möglichen Folgen des Zuges fürchten. Aber wir leben in einer globalisierten Welt und können nicht so tun, als wären wir vom Rest der Welt abgeschnitten.“

Die Bundesstraße, die neue Bahnlinie, das Internet: Wer wolle darauf verzichten? „Die 84 Gemeinschaften von Calakmul unterstützen das Projekt des Präsidenten“, egal ob sie Tzotzil, Maya oder Zapoteken seien, versichert der Jurist. Er gehört der 2014 von Amlo gegründeten Partei Morena an und wirkt etwas gereizt: Man sage dem Zug alles Schlechte nach, sagt er und stellt dann die rhetorische Frage: „Und was ist denn mit illegaler Entwaldung, unkontrolliertem Bergbau, der mit gentechnisch manipulierten Organismen und Pestiziden gedopten Agroindustrie oder dem exponentiellen Städtewachstum? Mit oder ohne Zug, diese Probleme gab es doch schon vorher!“

Für den Anthropologen Marco Almeide Poot stehen sich bei dem Bahnprojekt zwei Weltsichten gegenüber: eine entwicklungspolitische und eine globalisierungskritische Position. Dazu gebe es im Hintergrund den Streit über das Wesen und die Repräsentation des Maya-Seins. „Wer entscheidet denn, dass eine Maya, die im Tourismus arbeitet oder ein Geschäft aufmacht, weniger Maya ist als eine oder einer, der sein Land bestellt? Es stimmt, manche indigenen Bevölkerungsgruppen leiden unter dem Tourismus, aber andere arbeiten aus freien Stücken in der Branche und entscheiden selbst, wie stark sie sich engagieren und weiterentwickeln wollen.“

Auf der Grundlage von Werten wie kollektivem Landbesitz, gerechter Ressourcenverteilung und umweltfreundlichem Geländeschutz bietet der gemeinschaftsbasierte Tourismus eine nachhaltige und sozial verantwortliche Alternative zum Massentourismus. Fonatur hatte sich am Anfang auf diesen Weg verpflichtet. Vor allem sollten die lokalen Gemeinden die neue, mit den Bahnhöfen verbundene Dynamik für sich nutzen. Doch als Direktor Pons Anfang 2022 von seinem Posten entfernt wurde, weil es Verzögerungen im Zeitplan gab, war trotz beachtlicher Fortschritte in diese Richtung und trotz eines Abkommens mit der Allianz für den gemeinschaftlichen Tourismus plötzlich Schluss damit. Für Amlo ist die Infrastruktur das Wichtigste.

Ist es nur eine Pause wegen der Prioritäten auf der politischen Agenda oder ist dieser Anspruch endgültig in der Versenkung verschwunden? „Wir bekommen keine offizielle Antwort“, beklagt Mario Tuz May, Schatzmeister einer ökotouristischen Kooperative, die traditionelle ländliche Unterkünfte vor den Toren der einstigen Mayastadt Ek Balam im Osten von Yucatán anbietet. „Wir wissen nur, dass sich der neue Direktor nicht an den von seinem Vorgänger unterschriebenen Vertrag hält. Dabei war der genau das richtige Instrument, um die Cancúnisierung der ganzen Halbinsel zu verhindern.“

Der Tren Maya wird Amlos politisches Vermächtnis sein – als echter Hebel der Emanzipation für die Bewohner des mexikanischen Südostens oder als vergiftetes Geschenk für zukünftige Generationen.

1 Verfügbar auf YouTube.

2 Juan Luis Ramos, „Será el Tren Maya polo de desarrollo: Jiménez Pons“, El Sol de México, 2. Januar 2019.

3 „El trabajo de la ONU en relación con el proyecto del Tren Maya“, Unesco, 18. Juli 2020.

4 „Fonatur: ‚Obvio‘ que habrá daño al medio ambiente“, Diario de Yucatán, Mérida, 6. Februar 2019.

5 Greenpeace Mexico, „Reporte Técnico del Análisis de la Manifestación de Impacto Ambiental Modalidad Regional del Proyecto Tren Maya Tramo 5 Sur“, 16. August 2022.

6 „Tren Maya fue declarada obra de seguridad nacional por intervención de EU, afirma AMLO“, El Financiero, Mexico, 25. Juli 2022.

7 Emmanuel Carrillo, „Entrega de obras de infraestructura al Ejército es para evitar su privatización: AMLO“, Forbes México, 4. November 2021.

8 „Todo le que tienes que saber sobre el tren Maya“, cemda.org.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Luis Reygada ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2024, von Luis Reygada