Transitstadt Lusaka
Viele afrikanische Flüchtlinge zieht es nach Südafrika. Auf ihrer Route liegt die sambische Hauptstadt
von Paul Boyer und Rémi Carton
Auf einem Parkplatz südlich von Lusaka stehen dutzende junge Männer mit Rucksäcken. Sie sind zwischen 16 und 30 Jahre alt und stammen aus Äthiopien, Somalia, dem Sudan oder der Demokratischen Republik Kongo. Sie beobachten die Busse, die von hier regelmäßig nach Südafrika fahren.
Einer der Männer ist bereit, mit uns zu sprechen. Er hat eine lange Narbe im Gesicht, sein rechtes Auge ist verletzt. „Ich wurde in Mogadischu angegriffen. Wegen der Gewalt habe ich Somalia verlassen.“ Der etwa 20 Jahre alte Mann kennt sein Land nur im Kriegszustand: Im Juni 1991 war der somalische Staat nach dem Sturz des Diktators Siad Barre zusammengebrochen; seitdem kämpfen Warlords um die Macht.1
Jeden Tag versuchen etliche jungen Männer sich im Laderaum eines Lkws zu verstecken, andere bezahlen Schlepper dafür. „Diese Lastwagen sollen eigentlich Lebensmittel nach Johannesburg bringen. Manche machen das aber nur zum Schein“, erzählt uns ein anderer Mann auf dem Parkplatz: „Die Schmuggler bauen verborgene Verschläge ein, in denen sich Dutzende Flüchtlinge nebeneinanderlegen können, damit sie unentdeckt durch die Grenzkontrollen kommen.
Das Problem: Es fehlt an Luft, nur die Stärksten überleben.“ Ein junger Mann, wahrscheinlich noch minderjährig, zittert vor Angst: „Es gibt keinen anderen Weg, um nach Südafrika zu kommen, also werde ich es so versuchen“, erklärt er entschieden und zeigt auf einen alten Sattelschlepper aus den 1970er Jahren.
Im südlichen Afrika sind die Migrationsbewegungen groß und komplex. Reichere Länder wecken hohe (meist zu hohe) Erwartungen. 2021 erzielte Südafrika ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 419 Milliarden US-Dollar. Damit steuerte es über zwei Drittel zum BIP bei, das in der gesamten Region südlich der Sahara erwirtschaftet wird. Kapstadt, Durban oder Johannesburg gelten bei zahlreichen Ausreisewilligen – selbst am weit entfernten Horn von Afrika – als Eldorado. Nach Nordafrika, das Nadelöhr nach Europa, ist Südafrika der zweite große Anziehungspunkt für die kontinentale Binnenmigration.
Sambia, die viertgrößte Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika (mit einem BIP von 22 Milliarden Dollar im Jahr 2021), ist von den Migrationsbewegungen in dreifacher Weise betroffen: als Auswanderungs-, als Transit- und als Einwanderungsland. Am 30. November 2023 wurden hier 94 326 Geflüchtete, Asylbewerber:innen und andere Vertriebene registriert.2 Die meisten stammten aus der DR Kongo (79,4 Prozent), Burundi (13,1) Somalia (5,2) und Ruanda (1,3).
89 Prozent dieser Menschen leben in den Flüchtlingslagern von Meheba, Mayukwayukwa und Mantapala. „Die Lager in Sambia sind zwar nicht überfüllt“, erklärt Preeta Law, UNHCR-Vertreterin in Sambia. „Aber die Geflüchteten haben kaum Zugang zu Trinkwasser, Strom und Gesundheitsversorgung. Das sind die gleichen Probleme, die auch die lokale Bevölkerung hat. Mit Unterstützung der Regierung und unserer Partnerorganisationen versuchen wir Schulen und Krankenhäuser mit Elektrizität auszustatten.“
Die Fluchtgründe sind unterschiedlich: Sie fliehen vor autoritären Regimen, wie etwa in Uganda, wo seit fast 40 Jahren Langzeitherrscher Yoweri Museveni an der Macht ist, oder vor politischer Instabilität wie in Mosambik, wo es immer wieder zu islamistischen Anschlägen kommt. Für die einen ist Sambia das Ziel ihrer Reise; für andere nur ein Zwischenstopp: Sobald sie wieder bei Kräften sind oder genug Geld haben, wollen sie über die Grenze nach Simbabwe und von dort weiter nach Südafrika.
Ali, der in Lusaka ein kleines Restaurant an einer Hauptverkehrsstraße betreibt, kam vor 13 Jahren aus Somalia: „Jeder Tag dort war die Hölle.“ Als islamistische Al-Shabaab-Milizen begannen, in seiner Nachbarschaft mitten auf der Straße wahllos Menschen umzubringen, wollte Ali nur noch weg und machte sich mit seiner Familie auf nach Sambia. Hier fühlt er sich wohl, hier möchte er bleiben: „Ich hab Arbeit und eine gültige Aufenthaltserlaubnis. Warum sollte ich nach Südafrika gehen? Ich bin in Lusaka zu Hause.“
Pogrome gegen die ruandische Exilgemeinde
Damit ist Ali eine Ausnahme; die meisten richten all ihre Hoffnungen auf Südafrika. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) überquerten im September 2023 täglich 191 Personen die Grenze von Sambia nach Simbabwe.3 Der mit Abstand meistfrequentierte Migrationskorridor südlich der Sahara liegt zwischen Simbabwe und Südafrika – im vergangenen September wurden täglich durchschnittlich 597 Durchreisen Richtung Süden gezählt.
„Südafrika ist ein wichtiges Migrationsziel, wenn man aus einem afrikanischen Land südlich des Äquators stammt und Englisch spricht“, bestätigt die Politologin Catherine Wihtol de Wenden vom französischen Forschungsinstitut CNRS.4 Die Südroute ist immer beliebter geworden – auch wegen der rassistischen Übergriffe in Nordafrika, die in Tunesien sogar vom Präsidenten verbal befeuert wurden.5 Laut Wihtol de Wenden glauben viele sich in Südafrika besser integrieren zu können: „Man spricht von der Regenbogennation, vom Land Nelson Mandelas. Diese Symbolik wirkt sehr stark auf dem afrikanischen Kontinent.“
Und Schreckensmeldungen wie diese gehen unter oder werden ignoriert: Am 11. Dezember 2022 entdeckte die Polizei am Stadtrand von Lusaka 26 Äthiopier, die an Hunger und Erschöpfung gestorben waren. Schleuser hatten die Leichen der jungen Männer am Straßenrand abgelegt. Unter den Toten lag ein einziger Mann, der noch atmete. Er wurde ins Krankenhaus gebracht.
2017 wurden über 150 äthiopische Migranten, die in Sambia zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, abgeschoben, nachdem der Präsident eine Amnestie erlassen hatte. Hintergrund ist ein Gesetz gegen Menschenhandel, das Sambia 2008 mit Unterstützung der IOM erließ – mit der absurden Folge, dass jeder Migrant ohne Papiere als „williges Objekt von Menschenhandel“ strafrechtlich verfolgt und zu hohen Haftstrafen verurteilt werden konnte.
Auf Druck des UN-Menschenrechtsrats und lokaler Vereine stimmte das sambische Parlament erst im November 2022 einer Gesetzesänderung zu. Seitdem gelten Personen, die zum Objekt von Menschenhandel werden, als Opfer. Mängel in der Gesetzgebung und die Haltung der sambischen Behörden geben dennoch Anlass zur Sorge. Am 3. März 2023 berichteten Experten des UN-Menschenrechtsrats von „Einschränkungen der Bewegungs- und Arbeitsfreiheit von Geflüchteten“ und beklagten Haftbedingungen, die „nicht im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards“ stehen.6
In den Wanderungsbewegungen spiegelt sich die politische und wirtschaftliche Lage der einzelnen Länder wider. So sind während des Bürgerkriegs in der autonomen äthiopischen Region Tigray Hunderttausende vor den Kampfhandlungen und einer Hungersnot geflohen.7 In der DR Kongo kommt es seit 2004 immer wieder zu bewaffneten Konflikten in der Provinz Nord-Kivu; nach Angaben von Human Rights Watch ist die von Ruanda unterstützte Rebellengruppe M23 „für illegale Exekutionen, Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen verantwortlich“.8 Im Sudan bekämpfen sich seit April 2023 Militärregierung und paramilitärische Gruppen. In den ersten 100 Tagen des Konflikts wurden 4 Millionen Menschen vertrieben.9
„Über eine Million Menschen haben seit Ausbruch des Konflikts den Sudan verlassen, die Leute hatten gar keine andere Wahl“, sagt Thierry Vircoulon von der Beobachtungsstelle für Zentral- und Südafrika am französischen Institut für internationale Beziehungen (Ifri). Weil das südliche Afrika eine der stabilsten Regionen auf dem Kontinent ist, wird es für viele zur Zufluchtsstätte. Neun von zehn Geflüchteten aus Subsahara bleiben auf dem Kontinent, und zwar meist in Nachbarstaaten.
Die Datenanalystin Merna Abdelazim hat sich auf die Südroute zwischen dem Horn von Afrika und Südafrika spezialisiert. Wir erreichen sie in der tansanischen Hafenstadt Tanga. Laut ihren Recherchen gibt es drei Hauptrouten: „Die erste führt von Somalia und Äthiopien nach Südafrika, die zweite von der DR Kongo, Uganda oder Burundi nach Tansania und weiter nach Südafrika. Die dritte verläuft aus dem südlichen Afrika, hauptsächlich aus Malawi und Simbabwe, nach Südafrika“.
Die Reise kann Monate, manchmal sogar Jahre dauern, in denen die Migranten lebensgefährlichen Gefahren ausgesetzt sind: Menschenhandel, sexuelle Übergriffe, Hunger und Durst. Die ungeregelte Migration Richtung Südafrika hat zwischen 2014 und 2023 mindestens 478 Todesopfer gefordert: „Die Dunkelziffer ist viel höher“, erklärt Abdelazim. „Manche Schmuggler lassen die Leichen verschwinden. Wir wissen, dass Migranten auch in Tanklaster klettern, um über Grenzen zu gelangen. Viele ersticken dabei und die Schmuggler verbrennen die Leichen.“
Für diejenigen, die ihr Ziel erreichen, klaffen Traum und Wirklichkeit weit auseinander. Im südlichen Afrika treffen die Geflüchteten auf Rassismus und Ablehnung durch die lokale Bevölkerung. In Sambia gibt es zwar vergleichsweise selten fremdenfeindliche Übergriffe, doch im Juni 2016 kam es in Lusaka zu Pogromen gegen die ruandische Exilgemeinde: Nachdem Gerüchte die Runde gemacht hatten, dass ein ruandischer Geschäftsmann an Ritualmorden beteiligt gewesen sei, wurden innerhalb von zwei Tagen über 60 Geschäfte angezündet. Zwei Menschen verbrannten bei lebendigem Leib.
In Südafrika hat die Fremdenfeindlichkeit in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Im April 2022 kam es in Diepsloot am Rande von Johannesburg zu gewaltsamen Übergriffen, vor allem gegen Geflüchtete aus Simbabwe. Sie waren ins Visier lokaler Bürgerwehrgruppen geraten.
Laut Sylvie Bredeloup, Expertin für afrikanische Binnenmigration und Forschungsdirektorin am französischen Institut für Entwicklungsstudien (IRD), setzen viele afrikanische Staatschefs vor allem aufgrund wirtschaftlicher Probleme auf eine immer strengere Migrationspolitik. „2013 brauchten 78 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner ein Visum, um in ein anderes afrikanisches Land zu gelangen – da kann man sich schon fragen, wie wirksam die Regionalabkommen über Reisefreiheit sind. Seit etwa 20 Jahren beobachten wir eine Externalisierung der Grenzen, sowohl in Europa wie in Afrika.“10
Viele Staaten auf dem Kontinent, darunter auch Südafrika, praktizieren inzwischen Pushbacks. Diese Methode hat sich erschreckend schnell verbreitet, seit auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ europäische und afrikanische Staatschefs 2015 bei einem Gipfeltreffen in Malta beschlossen, ihre Grenzkontrollen zu verschärfen. Im Gegenzug wurden „Entwicklungsprogramme“ versprochen. Doch im Dezember 2023 einigten sich EU-Parlament und -Rat mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (Geas) wieder einmal nur darauf, die Festung Europa auszubauen – mit Haftlagern an den Außengrenzen.
1 Siehe Gérard Prunier, „Terror und Misere“, LMd, November 2013.
2 „Operational Data Portal: Zambia“, UNHCR, 30. November 2023.
5 Siehe Thierry Brésillon, „Unerwünscht in Tunesien“, LMd, Mai 2023.
7 Siehe Laura Maï Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin, „Wer kämpft in Tigray?“, LMd, Juli 2021.
8 „DR Congo: Killings, rapes by Rwanda-backed M23 rebels“, Human Rights Watch, 13. Juni 2023.
9 „Sudan conflict displaces nearly four million: UN migration agency“, UN News, 2. August 2023.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Paul Boyer und Rémi Carton sind Journalisten. 2022 wurden sie für eine Reportage aus Haiti mit dem Lorenzo-Natali-Medienpreis ausgezeichnet.