07.12.2023

Bulgariens Wächter

zurück

Bulgariens Wächter

Die engen Bande zwischen Staat, Justiz und Sicherheits­branche

von Charles Perragin

Die Gruppe „Justice for Everyone“ beim Anti-Borissow-Protest im Oktober 2020 ARTUR WIDAK/picture alliance/nur photo
Audio: Artikel vorlesen lassen

Niemand zieht mehr nach Nowo Schelesare. Die Silos rosten in der Sonne, die Bauernhäuser verfallen. Zur Mittagszeit ist keine Menschenseele zu sehen – nur Dimitar Gargow, der mit seinem dichten, grauen Schnurrbart wie ein amerikanischer Sheriff aussieht. Der Wachmann der Sicherheitsfirma Traffic Sot dreht manchmal spontan eine Runde durchs Dorf, wenn er nicht gerade Lebensmittel, Medikamente oder Holz für den Winter ausliefert. „Wenn Sie hier krepieren, würde es monatelang niemandem auffallen“, sagt er und trommelt an eine Tür.

Penka Litowa öffnet in Trauerkleidung die Tür. Sie kam vor 20 Jahren aus dem Nachbardorf, um ihren kranken Eltern zu helfen: „Seit 13 Jahren bin ich allein, meine Kinder sind nach Großbritannien ausgewandert. Es gibt nicht mal mehr einen Bus. Dabei ist die nächste Apotheke einen Tagesmarsch entfernt.“ Dimitar und sein Team fahren sie zum Arzt und leisten der Einsamen ein wenig Gesellschaft. Manchmal bringen sie ihr auch Blumen. „Sie sind zu meiner Ersatzfamilie geworden“, sagt Litowa.

In ganz Bulgarien, wo 6,7 Millionen Menschen leben, arbeiten etwa 130 000 für private Wach- und Schließgesellschaften, doppelt so viele wie bei der Polizei (29 000) und der Armee (37 000) zusammengenommen. Neben der Sicherung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden bietet die Branche in hunderten von abgelegenen Dörfern soziale Dienstleistungen an – insbesondere seit der Coronapandemie, berichtet Tihomir Beslow, Kriminologe am Zentrum für Demokratiestudien (CSD) in Sofia.

Nur eine Autostunde südlich von Nowo Schelesare liegt das geschichtsträchtige Plowdiw. Die zweitgrößte bulgarische Stadt, in der noch ein antikes Stadion aus der Römerzeit steht, war 2019 Kulturhauptstadt Europas. In der Küche des Bulgarischen Roten Kreuzes koordiniert Tanja Georgiewa die Verteilung von Lebensmitteln und anderen Produkten des täglichen Bedarfs. Auch hier fungiert Traffic Sot als Lieferant.

„Sie helfen alleinstehenden Menschen bei Behördensachen; ja sogar bei der Körperpflege und auch psychologisch“, berichtet Georgiewa, die das Plowdiwer Rotkreuzbüro leitet. Die Sicherheitsfirma übernimmt selbst Krankentransporte. Im Flur wartet schon die 93-jährige Anna: „Ich komm nicht mehr allein aus dem Haus“, klagt sie. „Seit drei Jahren fährt mich Traffic Sot regelmäßig ins Krankenhaus.“

Überall, wo der Staat ausfällt, treten Firmen wie Traffic Sot an seine Stelle. In mehreren EU-Staaten fördern die Behörden den Einsatz privater Sicherheitsdienste bei „Straftaten von geringer Intensität“ oder zur Entlastung der Ordnungskräfte.1 In Bulgariens ländlichen Regionen haben sie inzwischen sogar die Polizei ersetzt.

Im August 2015 verlagerte die Regierung Polizeieinheiten an die türkische Grenze, um Mi­gran­t:in­nen auf­zu­hal­ten.2 Zur gleichen Zeit legte das Arbeitsministerium ohne rechtlichen Rahmen und ungeprüft ein Programm auf, das die Kommunen dazu ermuntert, weitere Aufgaben an Sicherheitsfirmen outzusourcen. In einigen Kleinstädten wie Widin im Nordwesten Bulgariens bieten private Firmen mit behördlicher Hilfe eine Art Sicherheitsabo an: Mehrere Haushalte zahlen gemeinsam dafür, dass private Milizen in ihrer Gemeinde für Ordnung sorgen. Offiziell dürfen sie nur bestimmte Orte wie Häuser, Schulen oder Parks bewachen.

Tatsächlich kontrollieren die Wachleute mittlerweile ganze Gemeindeverbände und sogar die Grenzregion zu Rumänien, inklusive Fahrzeugkontrollen, Durchsuchungen oder Verhaftungen. Manchmal sind sie bei der Kriminalitätsbekämpfung effizienter als die Polizei, vor allem bei Einbrüchen.3

Auf dem Land ersetzen Securityfirmen die Polizei

2018 ging die konservative Regierung noch einen Schritt weiter und erlaubte den Bürgermeister:innen, private Verträge zur Überwachung größerer Gebiete abzuschließen. Tatjana Iwanowa war damals bei der Industrie- und Handelskammer für die Branche zuständig: „Das war eine Privatisierung der Polizei, eine Rückkehr zum Feudalismus, wo die lokalen Behörden ihre eigenen Aufseher bezahlen konnten. Ich habe den Präsidenten persönlich gewarnt, dass wir die Kontrolle verlieren.“ Das Gesetz wurde schließlich nach sechs Monaten etwas revidiert. De facto aber, berichten Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, wird in ländlichen Gebieten nach wie vor keine Polizei sta­tio­niert und niemand überprüft den Einsatzbereich der privaten Dienste.

In der kleinen Industriestadt Haskowo, unweit der türkischen Grenze, hängen an vielen Geschäften und Häusern die Plaketten von den jeweiligen Firmen, die sie schützen. Darunter auch die von Dejan Jordanow, einem Ex-Ringer, der seit 1995 hier lebt: „Die Leute geben zwar weniger für Sicherheit aus, aber kleine Firmen wie wir stellen immer noch ein, etwa Studenten oder Senioren, die nur eine kleine Rente beziehen“, sagt er. „Außerdem spenden wir für die Kirche und diverse Einrichtungen wie den Karateverein.“ Auf den Plätzen der Stadt sieht man nicht selten ältere Herren in Uniform herumspazieren. „In den kleineren Städten gibt es nicht viele Arbeitgeber. Bis vor Kurzem waren hier viele noch Bauern, aber die Agroindustrie hat sie verdrängt“, sagt Atanas Rusew, Sicherheitsexperte des Zentrums für Demokratiestudien.

In Bulgarien ist das Sicherheitsgewerbe nach wie vor die Branche mit den meisten informellen Arbeitsplätzen. Es ist verhältnismäßig einfach, einen der prekären Jobs zu ergattern. Vor einigen Jahren hätten beispielsweise die Wasserwerke von Haskowo dem Sicherheitspersonal ein Gehalt ausgezahlt, das 16 Prozent unter dem bulgarischen Mindestlohn lag. „Ich nehme keine öffentliche Aufträge mehr an“, sagt Jordanow. „Man wird geradezu gezwungen, das Gesetz zu brechen. Um Geld zu sparen, entlassen manche Chefs vorübergehend ihre Angestellten, bevor Sozialabgaben fällig werden.“

Die privaten Wachleute schützen auch die gesamte Schattenwirtschaft, die vom Verband der bulgarischen Industrie 2020 auf über 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt wurde. „Der informelle Sektor schrumpft stark“, wiegelt Rusew indes ab. „Die starke Migration nach Westeuropa hat die Arbeitslosenquote auf 4 Prozent gesenkt. Die Zahl der Stellenangebote schießt in die Höhe, und die Armen wählen besser bezahlte, reguläre Arbeit statt Jobs in der Schattenwirtschaft.“

Die private Sicherheitsbranche hat nun zwar weniger Kunden, aber tatsächlich auch weniger illegal Beschäftigte. Nach Rusews Schätzungen dürfte die Branche in den letzten sechs Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel ihrer Arbeitskräfte verloren haben. Nichtsdestotrotz ist der offizielle Jahresumsatz der Unternehmen (zwischen 500 und 800 Millionen Euro) seit 2012 um 80 Prozent gestiegen.

Der Staat kurbelt das Geschäft an, indem er selbst zum größten Kunden wird, insbesondere durch Verträge zur Bewachung kritischer Infrastruktur wie Kraftwerke, Häfen und sogar Militär­stand­orte. Bis 2013 unterhielt das Innenministerium noch seinen eigenen Sicherheitsdienst – laut Iwanowa quasi selbst schon „eine private Einheit“, die sich nicht an die Regeln halten musste, die normalerweise für Polizisten gelten.

Nach deren Auflösung heuerte die alte Crew bei den Privaten an. Doch diese Firmen sind für solche Aufgaben mitunter nicht ausreichend qualifiziert. „Es fehlt ihnen an der Kompetenz, um sensible Orte wie inter­na­tio­na­le Häfen zu überwachen, wo man mit Drogen- und Waffenhandel oder sogar Menschenschmuggel konfrontiert ist“, warnt der Soziologe und ehemalige Staatssekretär im Innenministerium Philip Gunew.

Im Juli 2022 explodierte in der Nähe von Karnobat ein Munitionslager der Firma Emco. Die politische Führung verdächtigte den russischen Geheimdienst. Bereits ein Jahr zuvor hatte die bulgarische Staatsanwaltschaft sechs Russen identifiziert, die zwischen 2011 und 2020 vier Explosionen in Waffenlagern ausgelöst hatten, in denen Munition für die Ukraine und Georgien lagerte. Einige bulgarische Unternehmen wie Emco haben sich auf die Herstellung moderner Muni­tion spezialisiert, die mit ukrainischen Waffen sowjetischer Bauart kompatibel ist. Seit dem russischen Angriff boomen die bulgarisch-ukrainischen Militärgeschäfte. Im August 2022 verbot das bulgarische Verteidigungsministerium privaten Unternehmen die Sicherung von Militärstandorten.

Der ehemalige Militär Ilijan Pantschew macht sich trotzdem keine Sorgen um seine Branche: „Wir sind billiger als die Polizei. Wir kontrollieren, wir deeskalieren, wir sammeln Beweise. Bald wird die Untersuchung von Strafsachen direkt von unserem Haus ans Gericht gehen“, meint der Vorsitzende von Nafots, dem zweitgrößten bulgarischen Verband privater Sicherheitsfirmen.

In ländlichen Gebieten übernehmen diese Firmen teilweise schon jetzt Aufgaben wie die Beschattung von Verdächtigen. „Wenn der Staat reich wäre, wäre ich nicht damit einverstanden, dass er seine hoheitlichen Befugnisse delegiert. Aber er hat keine große Wahl“, sagt Pawel Widenow, Leiter von Sot 161, dem mit über 4000 Beschäftigten größten Sicherheitsunternehmen des Landes.

Der Kriminologe Anton Koschucharow macht sich vor allem wegen der Rechtsunsicherheit Sorgen, weil die Lizenzen an Unternehmen vergeben werden statt an Einzelpersonen. So seien die Befugnisse der Wachleute überhaupt nicht geklärt, insbesondere was die Anwendung von Gewalt betrifft. Wegen solcher Ungenauigkeiten, etwa im Umgang mit Straftätern, „handeln wir uns viele Prozesse ein“, sagt Widenow.

In der Gegend rund um die Kleinstadt Radnewo im Süden Bulgariens wird vor allem Braunkohle abgebaut, die in die drei Kraftwerke Mariza-Ost geht – darunter auch der Komplex 2, der als die umweltschädlichste Anlage Europas gilt. Für Borislaw Binew, Manager einer lokalen Sicherheitsfirma in Radnewo, ist der Fall klar: „Sobald öffentliche Gelder fließen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du machst Verluste oder krumme Geschäfte.“

Der staatliche Kohlekonzern Mini Mariza Istok AG wurde schon mehrfach bei der Manipulation von Ausschreibungen ertappt. Als beispielsweise 2014 der Werkschutz ausgeschrieben werden sollte – ein Auftrag im Wert von 50 Millionen Euro –, berief sich der Energiekonzern auf höhere Gewalt. Der Standort wurde als kritisch eingestuft, und so konnte er seinen Auftragnehmer ohne Aus­schreibung selbst bestimmen. Zwei Jahre später setzte das Unternehmen durch, dass ein Vertrag als Staatsgeheimnis eingestuft wurde. Es ging dabei um eine Dienstleistung, für die eine Firma, die dem Abgeordneten und Oligarchen Deljan Peewski nahestand, 15 Millionen Euro in Rechnung stellte. Selbst die Regierung stufte die Summe, nachdem sie bekannt ­geworden war, als viel zu hoch ein.4

Laut Iwanowa geht es bei öffentlichen Ausschreibungen in zwei von drei Fällen nicht mit rechten Dingen zu – wegen der alten Verbindungen zwischen privaten Sicherheitsdiensten und Politik, sagt Philip Gunew. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes entstand eine neue Bourgeoisie: Ehemalige Mitglieder des Staatsapparats nutzten ihre Netzwerke und stiegen in die Sicherheitsbranche ein.

Laut Rusew sind 80 Prozent der Manager ehemalige leitende Beamte des Innenministeriums und 15 Prozent ehemalige Offiziere. „Konkurrenten haben mir gedroht, mich aus Radnewo rauszuschmeißen“, berichtet Borislaw Binew, der auch Stadtrat war. „Das ist ein Teufelskreis. Du veruntreust Gelder, lässt dich in der Stadt nieder und machst Angebote zu Dumpingpreisen, um kleinen Firmen wie uns die Kunden wegzuschnappen und öffentliche Aufträge an Land zu ziehen. Im Gegenzug betreibst du politische Einflussnahme.“

Die Politologin Nadège Ragaru spricht sogar von einer „Übernahme“ des bulgarischen Staats: „Die hohen Beamten sind mit der Privatwirtschaft eng verbandelt und können große öffentliche Aufträge vergeben. Damit bauen sie sich ihre lokalen Klientelbeziehungen auf. Das gilt für alle Bereiche der Wirtschaft.“ Die Sicherheitsfirma Delta Guard etwa wurde dabei erwischt, wie sie bei den Kommunalwahlen 2019 im Dorf Gorna Orja­cho­wi­za im Auftrag der konservativen Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) Stimmen gekauft hat.

Der Abgeordnete Iawor Boschankow, der erst kürzlich wegen seiner Bemerkung, Russland werde den Krieg nicht gewinnen, aus der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) ausgeschlossen wurde, deckte den Fall damals auf: „Das lief nach altbewährter Methode“, erzählt er. „Sobald sie ihre Stimme abgegeben haben, gehen die Wähler in den örtlichen Lebensmittelladen, und der Verkäufer gibt ihnen zu viel Wechselgeld heraus. Die Wachleute wiederum schützen das Geschäft vor unerwünschten Schnüfflern.“ Ein Kandidat brauche auf dem Land nur 1000 Stimmen zu kaufen, um in einer Gemeinde zu gewinnen.

Theoretisch soll eine dem Innenministerium angegliederte Behörde die Sicherheitsfirmen überwachen und ihnen bei Verstößen die Lizenz entziehen. Nur sieben Beamte würden derzeit tausende von Firmen überwachen. „Das heißt, der Markt wird de facto nicht kontrolliert“, sagt der Kriminologe Koschucharow. Und sein Kollege Bes­low ergänzt: „Die Polizisten schauen weg. Viele von ihnen heuern nach ihrer Pensionierung bei privaten Sicherheitsdiensten an. Besser man verscherzt es sich nicht mit seinem zukünftigen Arbeitgeber.“

Zwischen 1994 und 2004 wurde drei Gesetze verabschiedet, um die illegalen Praktiken einzudämmen: die besagte Einführung einer vom Innenministerium kontrollierten Zulassungspflicht, ein rechtlicher Rahmen für Sicherheits- und Versicherungsunternehmen und eine verpflichtende Mindestausbildung für Wachleute. Unternehmen änderten daraufhin ihren Namen oder tauschten ihre Führung aus, einige verschwanden auch komplett von der Bildfläche, während andere die illegalen Geschäfte tatsächlich eingestellt haben.

Der Chefermittler ist untergetaucht

Es war eine Normalisierung, die einige Erfolge zeitigte: Die Zahl der Beschäftigten in der Branche, denen Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgewiesen werden konnten, sank zwischen 1995 und 2003 um den Faktor 4,3. Vor allem dank ihrer guten Kontakte konnten die Sicherheitsunternehmer ihre Geschäfte neu ausrichten und betätigten sich fortan hauptsächlich in der Energie- und Glücksspielbranche, im Tourismus oder bei großen Bauvorhaben.5

Einige sind auch in die Politik gegangen – wie der ehemalige Karatekämpfer Boiko Borissow, der schon 1991 das Sicherheitsunternehmen Ippon-1 gründete. 2005 wurde er in Sofia zum Bürgermeister gewählt; 2006 gründete er die Partei GERB, und zwischen 2009 und 2021 war er dreimal hinter­ein­an­der Ministerpräsident Bulgariens.

Borissows Machtzentrum liegt immer noch in der Hauptstadt, wie uns Nikolaj Stajkow in Sofia erklärt, als wir gegenüber der Municipal Bank stehen. Der frühere Journalist und Mitgründer der NGO Anticorruption Fund (ACF), die seit 2017 zahlreiche Korruptionsskandale in Bulgarien aufgedeckt hat, zeigt auf zwei grimmig dreinschauende Männer, die vor der Filiale hin und her tigern: „Um diese Zeit warten sie auf den Geldtransporter. Diese Typen und die, die das Bargeld transportieren, gehören zu Borissows Firma Ippon-1, die er immer noch leitet. Sie sichern auch die Tanklager von Lukoil Neftohim, der größten Raffinerie auf dem Balkan. Und wir wissen heute, dass ein großer Teil dieser Kraftstoffe auf dem Schwarzmarkt verkauft wird.“ Der bulgarische Öl- und Gasverband schätzt die Menge auf 20 bis 30 Prozent.

Stajkow bekam Morddrohungen, nachdem er unter anderem Petjo Pe­trow, bis 2015 Chefermittler der Generalstaatsanwaltschaft, auf die Schliche gekommen war. 2020 hatte dieser versucht, dem Fahrstuhlunternehmer Ilja Slatanow zwei Fabriken abzuluchsen. Petrow sei dabei von seinen Freunden im Justizapparat gedeckt worden, berichtet Stajkow: „Von einem Tag auf den anderen konnte Slatanow keinen Fuß mehr in seine Firma setzen, die von Delta Guard, der Sicherheitsfirma im Dienste Petrows, okkupiert wurde.“ Nach den Enthüllungen von Stajkows Team und der gegen ihn eingeleiteten Strafverfolgung tauchte Petrow unter.

Einige Sicherheitsfirmen dienen den Mächtigen als Privatmiliz, die öffentliche Gelder veruntreut, Stimmen kauft und Unternehmer erpresst. Und all das unter dem Schutz der Staatsanwaltschaft, eines allmächtigen Staats im Staat, dem nachgesagt wird, alle Strafverfolgungen gegen korruptionsverdächtige Oligarchen, die Borissow nahestehen, zu blockieren.6

„Die politischen Reformen der Wendezeit haben der Justiz eine enorme Unabhängigkeit verliehen, um die politische Einmischung der Kommunisten zu verhindern“, erklärt Ragaru. „Aber wenn man einem Staatsanwalt viel Macht gibt, ohne Kontrolle, kann man nicht viel tun, wenn er informelle Beziehungen zu Akteuren in der Privatwirtschaft unterhält.“

Im Juli 2020 kam es zu einem großen Volksaufstand gegen Borissow, Generalstaatsanwalt Iwan Geschew und „die Mafia-Diktatur“. Zwischen April 2021 und April 2023 sind die Bul­ga­r:in­nen fünfmal zur Wahl gegangen, weil sich die Parteien nicht auf eine Koalition einigen könnten. Nach einer Reihe von Übergangsregierungen einigten sich schließlich Borissows konservative GERB und das liberale Bündnis PP-DB von Kiril Petkow, dem Zweitplatzierten bei den letzten Wahlen, auf die Bildung einer neuen Regierung unter Ministerpräsident Nikolaj Denkow, der am 6. Juni 2023 vereidigt wurde.

Als Petkow 2022 die Führung einer kurzlebigen Regierung übernommen hatte – bevor er vom Parlament wieder gestürzt wurde –, hatte er noch ein gegen Borissow und dessen Vertraute gerichtetes Antikorruptionsprogramm aufgelegt.

Immerhin wurde im Zuge dieser widernatürlichen Koalition Iwan Geschew von den GERB-Vertretern im Obersten Justizrat fallen gelassen. Dies war eine der beiden Bedingungen für das Bündnis – neben dem Versprechen einer Justizreform und einer stärkeren richterlichen Kontrolle des Generalstaatsanwalts – inklusive der Option, gegebenenfalls eine unabhängige Untersuchung gegen diesen einleiten zu können. Nicht alle sind überzeugt, dass sich wirklich etwas ändert. Denn Geschews Nachfolger, Borislaw Sarafow, war früher dessen Stellvertreter.

Kenner der Sicherheitsbranche fordern vor allem eine Gesetzesreform: „Wir müssen die absurden Bestimmungen von 2018, zum Beispiel das Verbot der Auftragsvergabe an Subunternehmer, abschaffen“, meint der Kleinunternehmer Pantschew. Die Maßnahme zur Kontrolle des informellen Sektors ­treffe nur die kleinen Firmen, schimpft er. Tatjana Iwanowa findet, „der private Sicherheitssektor sollte nicht mehr dem Innenministerium unterstellt sein, sondern als eine Wirtschafts­tätigkeit wie jede andere behandelt werden“.

Unklar ist, ob das ausreicht, um die systemische Korruption zu beseitigen. Philip Gunew gibt zu bedenken, dass die engen Bande zwischen Sicherheitsfirmen, Politik und Wirtschaft allen staatlichen Maßnahmen zum Trotz seit Ende der 1990er Jahre weitestgehend stabil geblieben sind. Einige mischten früher in der organisierten Kriminalität mit. Heute verdienen sie ihr Geld, weil Staatsunternehmen und lokale Behörde ihnen Aufträge gegen Gefälligkeiten und Bestechungsgelder vergeben. Einst mögen die privaten Sicherheitsfirmen nur die Polizei ersetzt haben. Inzwischen sind sie eine unverzichtbare Stütze jeder politischen Macht.

1 „La participation de la sécurité privée à la sécurité générale en Europe“, Weißbuch, CoESS/INHES, Dezember 2008.

2 Franziska Klopfer und Nelleke van Amstel, Case studies from Southeast Europe“, DCAF, Genf 2016.

3 Franziska Klopfer und Nelleke van Amstel, „A Force for Good? Mapping the private security landscape in Southeast Europe“, DCAF, Genf 2015.

4 Klopfer/van Amstel, „Private Security in Practice“, siehe Anmerkung 3.

5 Felia Allum und Stan Gilmour, „Handbook of Organised Crime and Politics“, Cheltenham (Edward Elgar Publishing) 2019.

6 Jean-Baptiste Chastand, „Le procureur général,,intouchable‘ figure du système judiciaire bulgare“, Le Monde, 13. Oktober 2020. Zu den gewachsenen mafiösen Strukturen in Bulgarien siehe auch Laurent Geslin, „Staat und ­Mafia in Bulgarien“, LMd, Dezember 2013.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Charles Perragin ist Journalist.

Vom Beamten zum Mafioso

Nach 35 Jahren uneingeschränkter Macht trat der bulgarische Staatschef Todor Schiwkow am 10. November 1989 zurück. Innerhalb kürzester Zeit brach der kommunistische Staatsapparat zusammen. Das wirkte sich auch auf den Personalstand bei Armee und Polizei aus, der rapide schrumpfte. Die Anzahl der Verurteilungen ging bis 1993 um zwei Drittel zurück; die Kriminalitätsrate verdoppelte sich – vor allem die Zahl der Diebstähle nahm dramatisch zu.

Die wachsende Sicherheitsnachfrage traf auf ein reiches Angebot aus frisch entlassenen Polizisten oder Militärs. Zudem mussten etliche einst vom Regime gehätschelte Sportler (Boxer, Ringer, Gewichtheber) ihre Karriere neu ausrichten. Ab 1991 wurden Häfen, kleine Geschäfte oder Behörden von privaten Wach- und Schließgesellschaften gesichert. Außerdem betätigte sich ein Teil der ehemaligen kommunistischen Nomenklatura inzwischen als Unternehmer, die ihre Aktivitäten – legale, informelle oder kriminelle – absichern wollten.

Der junge Ilija Pawlow (1960–2003), ehemals leitender Beamter im Kulturministerium, war dabei ein Vorreiter. 1990 gründete er Multigrup, eines der ersten bulgarischen Privatunternehmen. Zunächst verdiente er sein Geld mit Ausstellungen und Konzerten, später kaufte er Kasinos auf. Der ehemalige Ringer Mladen Michalew, Gründer der Sicherheitsfirma Sic, stellte ihm Chauffeure und Bodyguards zur Verfügung. Bei Sic arbeiteten auch Ex-Polizisten, die ihre Erfahrungen mit Schmugglernetzwerken insbesondere während des EU-Ölembargos gegen Slobodan Milo­še­vić zu nutzen wussten. Im Auftrag der Multigrup-Tochter Bartex organisierten Sic-Mitarbeiter in den 1990er Jahren außerdem einen großen Zuckerschmuggel über den Hafen von Burgas.

Zwischen 1994 und 1997 vervierfachte sich die Anzahl der Sicherheitsfirmen, deren Angestellte nicht nur Rathäuser und Großbanken bewachten, sondern auch Schutzgeld eintrieben. Für große Konzerne genauso wie für Mafiabanden schalteten sie Konkurrenten aus, sicherten Bargeldtransfers und bestachen oder erpressten Parlamentarier mit Verleumdungskampagnen.

Ehemalige Mitglieder der Antiterroreinheiten gründeten 1994 Apollo Security. Einer der beiden Firmenpartner, Slatomir Iwa­now, genannt „Slatko, das Barett“, stieg innerhalb kürzester Zeit zu einem der größten Drogenbosse Bulgariens auf. Sein Spezialgebiet war die als Versicherung von Eigentum (Haus, Auto, Geschäft) getarnte Schutz­geld­er­pres­sung (pizzo). Das System verbreitete sich rasant. So versicherten ab 1995 vier Unternehmen, darunter Apollo Security und Sic, 90 Prozent aller importierten Neuwagen. Die Organisation der Diebesnetzwerke und der Autohandel lagen in einer Hand. Kein Wunder, dass diese Firmen für ihre Kunden beim Auffinden der gestohlenen Fahrzeuge weitaus effizienter waren als die Polizei.

In die Pizzo-Falle kann vom großen Unternehmer bis zur öffentlichen Einrichtung jeder geraten. Laut Philip Gunew, Soziologe und Ex-Staatssekretär im Innenministerium, schuf dieses Erpressungssystem dauerhafte Verbindungen zwischen Finanzbranche, Mafia und politischer Klasse.

Le Monde diplomatique vom 07.12.2023, von Charles Perragin