Die israelische Linke nach dem 7. Oktober
Im Inland attackiert, vom Ausland verlassen
von Dahlia Scheindlin
Nachdem die Hamas am 7. Oktober die schlimmsten Terrorangriffe in Israels Geschichte verübt hatte, musste sich die politische Linke des Landes auf wütende Beschuldigungen aus dem rechten Lager gefasst machen. Obwohl die Linke seit fast 23 Jahren nicht mehr an der Macht gewesen ist, lassen die Kommentatoren der tonangebenden Medien selten eine Gelegenheit aus, um sie für alle Übel im Lande verantwortlich zu machen.
Kaum war der erste Schock vorbei, brachten einflussreiche Stimmen der Rechten – wie die von Kalman Liebskind, Kolumnist der Tageszeitung Maariv – den Angriff der Hamas ursächlich mit einer Politik in Verbindung, die in Israel gemeinhin mit linken Vorstellungen assoziiert werden. Das gilt etwa für den Teilrückzug aus den besetzten Gebieten im Rahmen der Osloer Abkommen in den 1990er Jahren, aber auch für das „Disengagement“ aus Gaza im Jahr 2005, als Israel die dortigen Siedlungen auflöste, zugleich aber eine umfassende Kontrolle über den Küstenstreifen beibehielt.
Obwohl die Zweistaatenlösung nie umgesetzt wurde, twitterte Jischai Fleischer, Sprecher der jüdischen Siedler in Hebron, auf X, über „das Große Gaza-Giveaway“: Der Rückzug von 2005 sei ein Ergebnis der Zweistaatendenke gewesen: „Gaza wurde von Juden geräumt (judenrein), der Palästinensischen Autonomiebehörde übergeben, bald darauf von der Hamas übernommen; und jetzt haben wir das Massaker vom 7. Oktober.“
Der rechte israelische Jurist Eugene Kontorovich schrieb: „Man stelle sich vor, was sie mit einem eigenen Staat hätten anrichten können … Wir hätten 100 x mehr Tote.“ Und im noch rechteren Newsportal Channel 7 verbreitete ein Kommentator die Ansicht, mit ihrem Drängen auf Beendigung der Besatzung habe die Linke Israel eine „Horrorshow“ beschert. Während das Land von der Trauer in den Krieg taumelte, wurde allein die Idee, man könnte Palästinensern vertrauen oder sie als Gleiche behandeln, für viele Menschen unerträglich.
Die israelische Linke hat sich im Laufe der Jahre an die Ressentiments und die offene Feindseligkeit der Rechten gewöhnt. In linksgerichteten Kreisen herrscht eine Art trotziger Stolz, mit dem sie ihre Arbeit fortsetzen. Aber die friedensbewegte, besatzungskritische Linke war schon vor dem 7. Oktober auf einen kleinen Teil der Bevölkerung zusammengeschrumpft. Was an diesem Tag passierte, könnte auch diesen letzten Rest auslöschen; oder aber, im Gegenteil, ihren Werten eine neue Dringlichkeit verleihen.
Im politischen Spektrum Israels bezeichnet „links“ zuallererst eine Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt und zu den jüdisch-arabischen Beziehungen. Alle übrigen und andernorts üblichen sozialen und wirtschaftlichen Bezüge – oder auch nur liberale und progressive Anliegen – sind demgegenüber sekundär. Im israelischen Kontext steht „links“ für die Idee, dass Palästinenser und Israelis ihre Differenzen überwinden und ihr Land miteinander teilen können; dass sie friedlicher, wenn auch nicht ohne Probleme, zusammenleben und sich vielleicht eines Tages sogar aussöhnen können. Ich habe diese Ansichten mein gesamtes Erwachsenenleben vertreten und mit politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Medien zusammengearbeitet, die für diese Ziele eintreten – manchmal bis an den Rand der Verzweiflung.
Die Israelis, die sich dieser Vision verschrieben haben, sind durch die Verluste des 7. Oktober, wie das ganze Land, zutiefst erschüttert. Viele der Kibbuzim im Süden, die vom Angriff der Hamas am schwersten getroffen wurden, waren linksgerichtet, in manchen lebten bekannte Friedensaktivisten.
Ziv Stahl, die Leiterin von Jesch Din, einer Vereinigung von Jurist:innen, die gegen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebiete kämpft, überlebte mit ihrer Familie in einem Versteck, während die Hamas in ihren Kibbuz Kfar Aza wütete und mehr als 50 Bewohner umbrachte, darunter Familienmitglieder und langjährige Freunde. Der Haaretz-Journalist Amir Tibon überlebte zusammengekauert mit seiner Familie im Kibbuz Nahal Oz, über viele Stunden, die er als „grauenhaft“ beschrieb.
Von der Hamas ermordet wurde ein junger arabischer Sanitäter, der während des Angriffs auf das Supernova-Musikfestival vor Ort blieb, um Verwundete zu versorgen; wie auch ein Aktivist von Breaking the Silence, jener NGO von Ex-Soldaten, die über die Übergriffe in den besetzten Gebieten aufklären; wie auch ein in der Friedensbewegung engagierter Politikwissenschaftler. Und Vivian Silver, eine unbeugsame 74-jährige Friedensaktivistin aus dem Kibbuz Be’eri, die in der Bewegung überaus beliebt war. Zunächst hatte man angenommen, sie sei entführt worden. Erst fünf Wochen später hat man ihre sterblichen Überreste identifiziert.
Anders als die meisten Israelis haben manche der Friedens- und Menschenrechtsaktivisten auch Freundinnen, Partner und Mitstreiterinnen in Gaza. Das atemberaubende Ausmaß der Zerstörung dort – die kollektive Bestrafung und die massenhafte Vertreibung – setzt ihnen ungeheuer zu. Nach einer ersten Phase des Schocks und der Lähmung haben einige dieser linken Gruppen erste tastende Schritte unternommen, werden wieder aktiv, beziehen kritische Positionen.
Ziv Stahl schrieb in Haaretz, dass sie heute überzeugter sei denn je, dass die Zerstörung Gazas das Blutbad nur verlängern werde. Tami Yakira von der progressiven, vom New Israel Fund geförderten NGO Shatil sagte mir am Telefon, dass der „Antibesatzungsblock“, der bei den Protesten gegen die antidemokratische Justizreform Netanjahus im vergangenen Jahr erstmals, aber nur schwach vertreten war, bis zum Krieg stetig an Zulauf gewonnen hatte.
Bei den Gesprächen, die Yakira gleich nach dem 7. Oktober mit Friedensaktivistinnen, Besatzungskritikern und Menschenrechtsgruppen führte, ging es vor allem darum, „die Trauer über die Gewalt auszudrücken und um die Notwendigkeit, als Juden und Araber zusammenzuarbeiten, die Geiseln zu befreien und die Besatzung zu beenden“. Und darum, „dass wir an die Demokratie glauben“ und „für einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung eintreten“.
Jeder Ansatz zu solchen Aktivitäten stieß auf heftige Ablehnung. Professor Adam Shinar, Verfassungsrechtler an der Reichman-Universität in Herzliya, beklagte auf X die gravierende Einschränkung der Redefreiheit. Das sei besonders bedenklich, weil es gezielt gegen eine Seite gerichtet sei: „gegen die Linke und die arabische Gemeinschaft“. Und Ran Goldstein, der Leiter des Civil Society Protection Hub, sagte mir: „Die derzeitige Verfolgung linker Juden und Araber ist mit nichts zu vergleichen, was mir aus früheren Gazakriegen erinnerlich ist.“
Lehrer wegen Pazifismus entlassen
Linke Aktivisten – insbesondere palästinensische Bürger – werden von Rechtsextremen bedroht und drangsaliert, wenn sie öffentlich den Krieg kritisieren oder Mitgefühl mit den Opfern in Gaza zeigen. Ihre alten Social-Media-Posts werden von rechtsradikalen Trollen durchkämmt; einige arabische Israelis, die Posts gegen den Krieg verfasst haben, wurden vernommen, verhaftet oder von ihrem Arbeitgeber gefeuert.
Aktivisten haben eine Datenbank eingerichtet, in der hunderte Fälle dokumentiert sind, wie Araber in Israel durch Zivilisten, Polizisten oder die Armee schikaniert wurden. Goldstein berichtete mir von einem arabischen Lehrer, der kürzlich verhaftet wurde, weil er auf einem fünf Jahre alten Foto mit „Palästinensertuch“ zu sehen ist. Und vermerkte, dass es keine vergleichbare Maßnahmen gegen Leute gibt, die dazu aufrufen, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, oder die massenhafte Umsiedlung von Palästinensern verlangen oder behaupten, im Gazastreifen gäbe es keine Unschuldigen.
Auch jüdische Israelis werden bedroht und eingeschüchtert. Am 13. Oktober postete der bekannte linke Journalist Israel Frey (ein orthodoxer Charedi) ein Video, in dem er für die Opfer des Krieges betet und dabei die Zivilbevölkerung von Gaza einschloss. In der folgenden Nacht demonstrierte ein Mob vor seinem Haus, Leuchtraketen durchschlugen das Fenster einer Nachbarwohnung, mitten in der Nacht musste Frey unter Polizeischutz flüchten.
Ein anderer Aktivist, dessen Eltern von der Hamas ermordet wurden, rief in einem Podcast-Interview zu dauerhaftem Frieden auf, damit der ewige Kreislauf von Blutvergießen und Trauer durchbrochen wird. Das Medienunternehmen, das den Podcast aufgenommen hatte, bekam sofort Drohanrufe, später wurden die Büroräume verwüstet. Ein jüdischer Geschichtslehrer wurde aus dem Schuldienst entlassen und festgenommen, wegen Texten gegen den Krieg, die er gepostet hatte – die meisten vor dem jetzigen Gazakrieg.
Rechtsradikale Israelis verbreiten private Informationen über Linke, um sie zu bedrohen und einzuschüchtern. Die Haaretz berichtete, dass die personenbezogenen Daten eines linken Filmemachers auf einem Telegram-Kanal veröffentlicht wurden, nachdem er sein Bedauern über den Tod von Zivilisten in Gaza geäußert hatte, obwohl er zugleich die Freilassung der israelischen Geiseln gefordert hatte.
Die Inhalte dieses Kanals sind eine Mischung aus Obszönitäten und präzisen Informationen: Ein Beitrag zeigt die Posts eines jüdischen Israeli, der sich gegen Besatzung und Krieg ausspricht, einer davon aus dem Jahr 2021; es folgt ein Foto seines Hauses (eventuell von Google Streetview), mit Ortsangabe, Namen, Ausweis- und Telefonnummer, Geburtsdatum und Angaben über seinen Arbeitsplatz. Ein Post auf demselben Kanal enthält die Aufforderung: „Zeigt uns, wo wir die Terrorsympathisanten finden“; ein anderes lautet: „Gebt mir Araber zum Ficken.“
„Es läuft eine Hexenjagd auf alle, die nicht auf Linie sind“, sagt Goldstein. Israels Polizeichef Schabtai drohte öffentlich, Solidaritätsdemonstrationen für den Gazastreifen würden nicht geduldet; in einem über die sozialen Medien verbreiteten Video erklärte er, wer sich „mit Gaza identifiziert“, den werde er „in Busse setzen und dort hinschicken“.1
Mitte Oktober löste die Polizei in Haifa eine Antikriegsdemonstration zur Unterstützung der Menschen in Gaza auf und verweigerte Genehmigungen für Kundgebungen in den arabischen Städten Umm al-Fahm und Sachnin. Einsprüche gegen diese Anordnung hat das Oberste Gericht abgewiesen; doch die Polizei sagte inzwischen zu, die Anträge im Einzelfall zu prüfen. Die Regierung hat auch durchgesetzt, dass die Regeln für den polizeilichen Einsatz von Schusswaffen bei Demonstranten gelockert werden.
All das hat jene Menschen entmutigt, die offen gegen Israels frühere Kriege protestiert haben und sich heute für ein Ende der Kämpfe einsetzen würden. Die Linke musste noch weitere, weniger offensichtliche, aber vielleicht folgenreichere Rückschläge einstecken: Die rechtsgerichtete Gruppe NGO Monitor, die seit langem gegen jede ausländische Unterstützung linker Gruppen kämpft, brüstete sich jüngst damit, sie habe die Schweizer Regierung erfolgreich dazu gedrängt, ihre gesamte Finanzierung israelischer Menschenrechtsorganisationen auszusetzen. Das betrifft unter anderem die NGO Gisha, die sich vor allem für die Einhaltung der Menschenrechte in Gaza einsetzt.
In Krisenzeiten wenden sich die Israelis im Allgemeinen nach rechts. Die Grundpositionen der Linken – für politische und territoriale Kompromisse mit den Palästinensern, wechselseitige Anerkennung der nationalen Bürgerrechte und Einsatz für den Frieden – sind im Verlauf der letzten 20 Jahre bei einer Mehrheit der Israelis in Verruf geraten. Der Oslo-Prozess Mitte der 1990er Jahre, von dem sich seine Befürworter einen dauerhaften Frieden erhofften, mündete stattdessen in eine Spirale der Gewalt; man denke an die Terrorattacke des jüdischen Israelis Baruch Goldstein, der in Hebron ein Massaker an betenden Palästinensern anrichtete, und an eine Serie grauenhafter Selbstmordattentate der Hamas. Anfang November 1995 erschoss ein rechtsradikaler Extremist Premierminister Jitzhak Rabin, der auf israelischer Seite den Friedensprozess vorangetrieben hatte; sechs Monate später versagten die israelischen Wähler dem Nachfolger Rabins die Gefolgschaft und stimmten mehrheitlich für Netanjahu.
Ehud Barak war der letzte Premierminister, den die meisten Israelis als links bezeichnen würden. Er kam im Juli 1999 an die Regierung. Ein Jahr später scheiterten seine Friedensverhandlungen mit PLO-Chef Jassir Arafat, was den zweiten großen Palästinenseraufstand, die Al-Aksa-Intifada, und eine Welle von Selbstmordattentaten gegen zivile Ziele in Israel auslöste. Barak verlor die Wahlen vom Februar 2001 mit gewaltigem Abstand.
Danach bewegte sich, wie meine eigenen Meinungsumfragen zeigten, die Hälfte der sich als links sehenden Israelis in Richtung Mitte. Die Rechte wurde immer stärker: In den 2010er Jahren bezeichnete sich noch die Hälfte der jüdischen Israelis als rechtsgerichtet; mittlerweile liegt dieser Anteil zwischen 64 und 68 Prozent. Nach Meinungsumfragen der letzten fünf Jahre rechnen sich nur noch zwischen 11 und 15 Prozent der jüdischen Israelis der Linken zu; die Anschläge vom 7. Oktober dürften dieser Anteil weiter schrumpfen lassen. Ende Oktober ist er, nach einer Umfrage des A-Chord-Forschungsinstituts der Hebrew University, bereits auf 10 Prozent gefallen. Demnächst könnte er im einstelligen Bereich liegen.
Die Mehrzahl dieser linken jüdischen Israelis bezeichnet sich als „gemäßigt links“. Sie sehen sich selbst als Zionisten und hoffen, dass eine Zweistaatenlösung die jüdische Bevölkerungsmehrheit in Israel erhalten, aber auch die Besatzung beenden werde. Die Parteien der Mitte benutzen den Ausdruck „Zweistaatenlösung“ nicht mehr, und selbst linke Parteien machen mit diesem Thema kaum noch Wahlkampf.
Wer sich heute noch als „links“ oder „entschieden links“ definiert – nur wenige Prozent der Gesamtbevölkerung –, hält Menschenrechte und Demokratie für wichtiger als eine nationale jüdische Identität und ist gegen die Besatzung. In ihrer Mehrzahl würden sie zur Not eine Zweistaatenlösung akzeptieren, aber manche sähen lieber einen einzigen demokratischen Staat für alle Bürger. Diese Idee hat jedoch nie große Resonanz gefunden, und heute findet man selbst unter radikalen Linken kaum Leute, die sie vertreten, und noch weniger, die sie abnehmen würden.
Stattdessen haben in der Linken alternative föderalistische Formen eines Zweistaatenmodells beträchtlich an Unterstützung gewonnen. Die Gruppe „A Land for All“, deren Vorstand ich angehöre, ist für eine Konföderation aus zwei Staaten, deren Bürger sich in beiden Gebieten frei bewegen und niederlassen können und die sicherheitspolitisch, wirtschaftlich sowie bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen kooperieren. Und Jerusalem wäre statt einer geteilten eine gemeinsame Stadt. In der letzten Umfrage, die ich im Dezember 2022 für das „Palestine/Israel Pulse“-Projekt durchgeführt habe, befürworteten zwei Drittel aller linken jüdischen Israelis die Idee einer Konföderation zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Staat.
Gleichwohl werden solche alternativen Modelle im öffentlichen Diskurs totgeschwiegen. Bei den Knesset-Wahlen der letzten Jahre hatten viele Linke die Hoffnung auf Frieden bereits aufgegeben. Am wichtigsten war ihnen die Ablösung Netanjahus, weshalb sie für Parteien der politischen Mitte stimmten. Bei der Wahl im November 2022 hat Meretz, eine der beiden linken zionistischen Parteien, erstmals in ihrer 30-jährigen Geschichte den Einzug ins Parlament verpasst. Die nationalistischen und populistischen Parteiführer haben eine ganze Generation von Israelis dazu erzogen, Linke als Heuchler oder Verräter anzusehen.
Ein Großteil dieses Volkszorns entzündet sich an der Verbindung der Linken mit internationalen Akteuren, die die Besatzung kritisieren. Die werden alle – von Roger Waters bis zur UN-Generalversammlung – in einen Topf der notorischen Israel-Kritiker geworfen. Selbst gemäßigte Israelis erregen sich inzwischen über Landsleute, die das Ansehen ihres eigenen Landes „in der Welt“ beschmutzen. Diese Anschuldigung haben verschiedenen Regierungen seit 2009 immer wieder benutzt, um ihre aggressive Politik zu rechtfertigen, Menschenrechts-NGOs ihre Legitimität abzusprechen und ihre internationale Unterstützung zu untergraben.
Schwache Hoffnung auf ein gemeinsames Land
Vor diesem Hintergrund waren viele israelische Aktivist:innen, die ein Leben lang gegen die Besatzung gekämpft haben, am Boden zerstört, als einige ihrer Verbündeten im Ausland die Anschläge der Hamas herunterspielten, sie zu verurteilen versäumten, die zivilen Geiseln keines Wortes würdigten oder sogar die Gräueltaten als eine Art legitimer Militäraktion rechtfertigten. Ein Haaretz-Kolumnist schrieb, er sei weniger wütend auf die Hamas als auf die Leute, von denen er geglaubt habe, sie stünden auf seiner Seite: „Die Wut rührt aus der plötzlichen Erkenntnis, dass sich dein eigenes Milieu – oder was man dafür hielt – de facto gegen dich wendet.“ Viele der israelischen Linken fühlen sich vollkommen alleingelassen. Und womöglich werden sie aufgeben und nach rechts abwandern.
Der Niedergang der Linken mag unabwendbar erscheinen. Aber noch gibt es einige Anzeichen, so schwach und fragil sie auch sein mögen, dass ihre Ideen zu neuem Leben erwachen könnten. Da ist zum einen der quälende Verdacht, dass die Linke die ganze Zeit über recht gehabt haben könnte. Alle militärischen Strategien, einschließlich der zahlreichen Kriegs-„Runden“ mit der Hamas seit 2008, haben nicht funktioniert. Die Strategie, den Konflikt unter Kontrolle zu halten oder „einzuschrumpfen“ – ein Ansatz, der die israelische Politik seit mindestens einem Jahrzehnt bestimmt –, ist auf todbringende Weise gescheitert. Und dafür müssen seine Verfechter die Verantwortung übernehmen.
Niemand kann ehrlicherweise versprechen, dass eine umfassende politische Lösung kein einziges Menschenleben kosten wird. Aber eine solche Lösung wurde noch nie ausgehandelt, geschweige denn implementiert. Aber es ist die einzige Option, die zu erproben übrig bleibt.
Es gibt historische Präzedenzfälle – Momente, in denen die traumatisierende Gewalt gegen Israel zu Zugeständnissen geführt oder einen Weg zum Frieden eröffnet hat. Nach dem 7. Oktober haben die Befürworter einer diplomatischen Lösung daran erinnert, dass der Jom-Kippur-Krieg 1973 die politische Grundlage für den Friedensvertrag mit Ägypten von 1979 schuf, so wie die palästinensische Intifada 1987 den Boden für die Osloer Verträge sechs Jahre danach. (Es gibt auch die Meinung, dass die zweite Intifada Israel zur Auflösung der Siedlungen in Gaza veranlasst habe. Allerdings erfolgte Israels Rückzug von 2005 mitnichten in der Absicht einer umfassenden friedlichen Lösung.)
Falls der Horror des 7. Oktober und das Blutvergießen in Gaza innerhalb Israels einen Meinungsumschwung in Richtung einer politischen Lösung des Konflikts bewirken sollte, welche Kräfte würden sich dafür einsetzen? Die Einzigen, die das derzeit tun, sind die traurigen Überreste der Linken.
In Tel Aviv haben sich kleine Gruppen zu Protestkundgebungen gegen den Krieg eingefunden – trotz der Einschüchterung durch die Polizei und der allgemeinen Angst, sich öffentlich zu solchen Ansichten zu bekennen. Die linke Aktivistin Dana Mills, Autorin und ehemalige Geschäftsführerin von Peace Now, erzählte mir von dieser ersten Versammlungen Ende Oktober: Es kamen so wenig Leute, dass man kaum von einer Demonstration sprechen konnte, es war eher eine Art Stimmungstest.
Aus Angst vor Schlägerbanden oder Polizeiübergriffen vermieden die Teilnehmer jegliche Provokationen, berichtet Mills. Man habe nur Schilder mit gemäßigten Parolen hochgehalten: „Waffenstillstand jetzt“ oder „Auge um Auge macht die ganze Welt blind“. Anfang November kamen bereits mehr Menschen. Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand, eine Übereinkunft zur Befreiung der Geiseln und eine diplomatische Lösung des Konflikts. „Ein Massaker rechtfertigt kein Massaker“, stand auf dem Plakat einer Frau. Wenn es die Linke nicht gäbe, würde niemand diese Positionen vertreten.
Möglicherweise bietet sich auch die Chance, aus der weit verbreiteten Wut über Netanjahus fanatische, ultranationalistische Regierung Kapital zu schlagen. Wie zahlreiche, seit den Anschlägen durchgeführte Meinungsumfragen bestätigen, machen Israelis aller Couleur die Regierung für das Versagen der Sicherheitskräfte am 7. Oktober verantwortlich. Diese Wut ist der Gipfelpunkt einer beispiellosen Bürgerbewegung gegen Netanjahus Pläne zur Aushöhlung einer unabhängigen Justiz, die das Land fast 40 Wochen lang in Atem gehalten hat.
Viele Israelis haben begonnen, sich grundlegende Fragen über die Verwundbarkeit der Demokratie in ihrem Land zu stellen. Vielleicht führt der 7. Oktober dazu, dass mehr Menschen das Vorgehen der Rechten in diesem Konflikt hinterfragen, und das heißt: die obsessiv betriebene Expansion und die permanente autoritäre Militärherrschaft über die palästinensische Nation. Ein solches Umdenken wird nicht in großem Maßstab erfolgen, aber für die Linke sind selbst kleine Verschiebungen bedeutsam.
Die israelische Linke verfügt über eine weitere Stärke, die den meisten anderen Israelis abgeht: echte jüdisch-arabisch-palästinensische Partnerschaft. Siedler im Westjordanland tönen oft, sie würden „die Araber“ besser kennen als Friedensaktivist:innen aus Tel Aviv. Aber ihre Beziehungen zu den palästinensischen Nachbarn sind überwiegend feindlicher oder bestenfalls freundlich-herablassender Art. Die Siedler kennen die Mechaniker, die ihre Autos reparieren, und die Bauarbeiter, die ihre Häuser errichten. Die Linken dagegen kennen Akademikerkollegen und Co-Autoren, mit denen sie die Erfahrung teilen, in der eigenen nationalen Gemeinschaft angefeindet zu werden. Es sind Freundschaften auf Augenhöhe zwischen Menschen, die zusammen im Tränengas demonstriert haben. Sie haben sich auch im Oktober (notfalls virtuell) umarmt, um zu verkraften, dass Gewalt in ihrem Namen verübt wird, sie haben sich gegenseitig in ihrem Leid gestützt. Arabische Politiker in Israel wie Ayman Odeh und Mansour Abbas, die auf Partnerschaft setzen, haben die Hamas sofort aufs Schärfste verurteilt, auch als sie bereits um unschuldige zivile Opfer trauerten, die in Gaza von Israelis getötet wurden.
Vom ersten Tag des Kriegs an bemühten sich jüdische und arabische Verfechter einer „gemeinsamen Gesellschaft“, das Aufflammen von Gewalt in den ethnisch gemischten Städten Israels zu verhindern. Das ist ihnen gelungen, mit Ausnahme eines Vorfalls, bei dem hunderte jüdische Israelis arabische Studierende aus ihrem Wohnheim in Netanja gejagt haben. Ende Oktober begann eine jüdisch-arabische Aktivistengruppe namens „Standing Together“ in Reaktion auf die Verfolgung von Arabern in Israel eine Reihe von Solidaritätsveranstaltungen auszurichten. In Tel Aviv nahmen 300 Personen teil, in Haifa waren es 800. Fotos von diesen Treffen, die in den sozialen Medien verbreitet wurden, waren für die Linke der erste Hoffnungsschimmer seit dem 7. Oktober.
In dieser gnadenlosen Finsternis sind Partnerschaften wie diese die einzigen Lichtblicke. Nach meiner unwissenschaftlichen Erfahrung haben diese Gruppen weit weniger mit inneren Zerwürfnissen zu kämpfen als etwa die US-amerikanischen Linken. Auch die israelischen und palästinensischen Friedensaktivist:innen haben Meinungsverschiedenheiten, aber ich habe nie erlebt, dass palästinensischen Partner oder Partnerinnen die Taten der Hamas gerechtfertigt hätten oder dass jüdische Israelis innerhalb unserer eng verbundenen Gemeinschaft den israelischen Angriff auf Gaza gefeiert hätten.
Die Linke in Israel wie in Palästina weiß, dass die Region nicht nur durch ethnisch-nationalistischen Differenzen gespalten ist; die Kluft verläuft auch zwischen zwei anderen Lagern: den Anhängern von Gewalt und militärischen Lösungen und den Kräften, die auf der Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens, auf moralischen Werten und dem internationalen Recht bestehen.
Eine politische Wiedergeburt der israelischen Linken ist in naher Zukunft äußerst unwahrscheinlich. Wenn sie also Einfluss auf den gesellschaftlichen Mainstream nehmen will, muss sie bei gewissen gemeinsamen Anliegen mit anderen Bürgerbewegungen zusammenarbeiten. Das ganze Jahr über, als Israel wegen der Angriffe auf die Justiz in Aufruhr war, gingen die besatzungskritischen Gruppierungen mit Demonstranten der demokratischen Mitte auf die Straße, obwohl die anfangs nicht wollten, dass bei ihren ultrapatriotischen Kundgebungen auch Parolen gegen die Besatzung auftauchen.
Die israelische Linke muss also neue Bündnisse schließen, zum Beispiel mit den immer lauter werdenden Gruppen, die von der Regierung eine Einigung zur Freilassung aller Geiseln verlangen; oder mit den demokratischen Protestgruppen, die Spenden für die aus dem Süden und Norden des Landes evakuierten Israelis organisieren. Die Linke wird so bald keine Wahlen gewinnen. Deshalb bleibt ihr zunächst nichts anderes übrig, als sich wieder auf ihre ureigensten Werte zu besinnen: Sie muss angesichts eines beängstigenden ideellen Vakuums jeden Weg zu einem künftigen Frieden erkunden, der sich eines Tages eröffnen könnte.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Dahlia Scheindlin ist Meinungsforscherin und Politologin in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihr, „The Crooked Timber of Democracy in Israel: Promise Unfulfilled“, Berlin (De Gruyter) 2023.
Dieser Text erschien zuerst am 12. November 2023 in der New York Review of Books.
© 2023 Dahlia Scheindlin;, für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin