07.12.2023

Ein Meer offener Fragen

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Ein Meer offener Fragen

Norwegen möchte die Küsten­gewässer für den Tiefseebergbau öffnen. Damit wäre es das erste Land, dass die fragile Unterwasserwelt gefährdet. Ab Mitte Dezember debattiert das norwegische Parlament über die Frage.

von Remi Nilsen

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Im Jahr 1969 entdeckte der US-Ölkonzern Phillips südwestlich der norwegischen Küste das riesige Ekofisk-Ölfeld. Damit begann das norwegische „Öl-Märchen“ – die Saga vom Rohstoff, der dem Land Wohlstand gebracht und die Identität der norwegischen Gesellschaft gefestigt hat. Es ist die Geschichte eines kleinen Königreichs, das die Milliardensummen aus dem Verkauf des Nordseeöls zum Aufbau eines großzügigen Wohlfahrtstaats genutzt hat – und nicht zur Gründung einer Ölmonarchie.

Doch diese Geschichte vom wundersamen Reichtum unter dem Meeresgrund hat schon seit längerer Zeit einen zunehmend bitteren Beigeschmack. Denn es wird immer klarer, dass die Fortsetzung der Öl- und Gasförderung auf dem Meeresboden das Klima weiter schädigen wird, auf Kosten einer lebenswerten Zukunft. Nicht nur Umweltschützer und Klimawissenschaftler, auch die Internationale Energieagentur (IEA) und UN-Generalsekretär Antonio Guterres betonen immer wieder: Die Kohlenwasserstoffe müssen im Boden bleiben.

Die norwegische Umweltbewegung und Teile der Linken fordern den Ausstieg aus der Öl- und Gasförderung sowie einen Stopp der Vergabe von Explorationslizenzen. Dänemark hat diesen Schritt bereits getan.

In Norwegen lehnt ein Großteil der Gesellschaft solche Maßnahmen rundweg ab. Eine im Juni 2022 veröffentliche Studie des Londoner King’s College hat ergeben, dass in Norwegen der Anteil derer, die bestreiten, dass der Mensch die Hauptverantwortung für den Klimawandel trägt, mit 24 Prozent höher liegt als zum Beispiel in Deutschland (18 Prozent) oder in Ita­lien (10 Prozent).1

Zu den politischen Kräften, die den menschlichen Einfluss kleinreden, zählt auch die Industri- og næringspartiet (Industrie- und Wirtschaftspartei), die erst vor drei Jahren gegründet wurde. Seit den Kommunalwahlen im September 2023 ist sie in den Gemeinderäten von 115 der 356 norwegischen Kommunen vertreten und stellt auf dieser ­Ebene mehr Abgeordnete als die Umweltpartei Miljøpartiet De Grønne (MdG).

In ihrem Programm betont die Industrie- und Wirtschaftspartei, sie leugne den Klimawandel nicht. Sie kritisiert aber „Parteien, Organisationen und Menschen, die offenbar versuchen, durch das Schüren von Ängsten vor Klimaveränderungen Macht zu gewinnen“. Und sie stellt lapidar fest: „Das Klima auf der Erde war schon immer Veränderungen unterworfen.“ Mit anderen Worten: Um das Klima braucht man sich nicht zu sorgen, und man muss nichts unternehmen, um den Temperaturanstieg aufzuhalten.

Die regierende Arbeiterpartei und ihr Koalitionspartner, die Senter­partiet (Zentrumspartei), die früher Bauernpartei hieß, setzen dagegen auf dasselbe Rezept wie die wichtigsten Op­po­si­tions­parteien Høyre (Konservative) und Fremskrittspartiet (FrP, Rechtspopulisten): Sie suchen nach einem neuen, vorzugsweise grünen „Industrieabenteuer“, auf das man das Motto „utvikle, ikke avvikle“ (entwickeln, nicht abwickeln) übertragen kann, das die Regierung für die Öl- und Gas­in­dus­trie erfunden hat.

Gestützt auf das Know-how der Ölindustrie will man also eine sanfte Umstellung auf nachhaltigere Wirtschaftssektoren bewerkstelligen. In diesem Sinne bemüht sich die Regierung um die Ansiedlung oder Entwicklung „grüner“ Industriezweige. Doch die meisten Initiativen haben sich eher als Belastung für die Staatskasse denn als lukratives „Abenteuer“ erwiesen.

Ein Beispiel ist der Plan, Norwegen zu einem führenden Standort für die Batterieproduktion zu machen. Das Vorhaben steht vor dem Scheitern: Mehrere geplante Batteriefabriken werden offenbar nie gebaut. Anfang November verkündete das Start-up-Unternehmen Freyr die Aufgabe seiner Pläne für eine riesige Fabrik in der nordnorwegischen Stadt Mo i Rana.

Freyr reagiert damit auf die Entscheidung der Regierung, die den Antrag des Unternehmens auf Subven­tio­nen in Höhe von 800 Millionen Euro abgelehnt hatte. Auch die Offshore-Windkrafterzeugung benötigt so hohe Subventionen, dass sie sich nicht als neues „Abenteuer“ anbietet.

Erst schürfen,  dann forschen

Deshalb rückt ein dritter potenzieller Industriezweig ins Zentrum der Debatten: die Bodenschätze am Meeresgrund. Bereits 2011 hatte das Öl- und Energieministerium den Auftrag erteilt, die Mineralvorkommen in einer 592 500 Quadratkilometer großen Zone im Europäischen Nordmeer und in der Grönlandsee zu kartieren.

Diese Fläche entspricht einem Viertel des riesigen norwegischen Festlandsockels von 2 279 965 Quadratkilometern. Nach dem im Januar 2023 veröffentlichten Bericht zur „Ressourcenbeurteilung von Mineralien am Meeresgrund“2 sollen in dem Gebiet gigantische Mengen an Kupfer (38 Mil­lio­nen Tonnen), Zink (45 Millionen Tonnen) und Kobalt (4 Millionen Tonnen) lagern. Und dazu eine Vielzahl von seltenen Erden – ebenfalls in erheblichen Mengen –, die für die Herstellung von Batterien, Stromleitungen, Mobiltelefonen und anderen Elektrogeräten benötigt werden.

Auf dem norwegischen Festlandsockel wurden zwei Arten von Mineralablagerungen entdeckt. Zum einen polymetallische Sulfide aus kaminartigen Hydrothermalquellen, den sogenannten schwarzen Rauchern, die in vulkanisch aktiven Gebieten in 3000 bis 6000 Metern Tiefe zu finden sind.

Die zweite Art von Ablagerungen sind Mangankrusten, die sich bilden, wenn Mangan und andere Metalle in sedimentarmen Bereichen des Meeresboden absinken. Die Bildung dieser meist nur wenige Zentimeter dicken Krusten dauert mehrere Millionen Jahre. Bergbautechnisch haben sie den Vorteil, dass sie bereits in einer Tiefe von 1500 bis 2000 Meter vorkommen.

Beide Mineralvorkommen lagern in den Lebensräumen einzigartiger Tiefseespezies. In den stockdunklen Tiefen, in denen sich die Sulfide bilden, leben seltene Bakterien von der chemischen Energie der Hydro­thermal­quellen. Diese Mikroorganismen sind die Existenzgrundlage einer einzigartigen Fauna. Auf den Mangankrusten wiederum haben sich Tiefsee-Schwammbänke gebildet, auf denen zahlreiche Organismen angesiedelt sind.

Der Bericht zur Ressourcenbeurteilung listet zwar die möglichen Bodenschätze der Tiefsee auf, äußert sich aber nicht darüber, welche Mengen an Mineralien abgebaut werden können. Für eine Prognose, heißt es da, lägen noch „zu wenig Informationen über die Bergbautechnologie“ vor, die für den Abbau von Mineralien in diesen Meerestiefen erforderlich ist. Mögliche Umweltprobleme erwähnt der Bericht nicht.

Als das Gesetz über „Mineralien-Aktivitäten auf dem Festlandsockel“ am 1. Juli 2019 in Kraft trat, hatte die damalige Koalitionsregierung aus Høyre, FrP und der Kristelig Folkeparti (KrF) ein erstes Gutachten zur Einschätzung der Umweltfolgen in Auftrag gegeben.2 Bei den Anhörungen zu den im Oktober 2022 veröffentlichten Ergebnissen äußerten sich fast alle wissenschaftlichen Institute und staatlichen Instanzen ablehnend.

Besonders kritisch reagierte die Umweltbehörde Miljødirektoratet. Ihr zufolge hat die Folgenabschätzung die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllt. Das ergebe sich schon aus dem Eingeständnis der Autoren, dass sie weder Kenntnisse über die Tiefseefauna noch über die erforderlichen Bergbautechniken haben. Ähnlich negativ äußerten sich der Geological Survey of Norway und staatliche Forschungseinrichtungen wie das Institut für Meeresforschung und das norwegische Polar­insti­tut.

Trotz dieser grundlegenden Kritik an der Folgenabschätzung legte die seit Oktober 2021 regierende Koalition aus Arbeiter- und Zentrumspartei im Juni 2023 ein Weißbuch vor, das empfiehlt, etwa die Hälfte des untersuchten Gebiets für den Bergbau zu öffnen. Das heißt: Die Regierung will nicht wie von der Wissenschaft gefordert auf weitere Erkenntnisse warten.

Durch die Freigabe der betreffenden Tiefseeregion für kommerzielle Aktivitäten werde man neue Erkenntnisse gewinnen, heißt es in dem Papier. Mit anderen Worten: Die Regierung will nicht zunächst die ökologischen Kosten des Tiefseebergbaus abschätzen; es soll genau umgekehrt gehen: durch Genehmigung des Mineralienabbaus will man herausfinden, ob der Bergbau ökologisch vertretbar ist.

Die möglichen Auswirkungen auf die Tiefseeumwelt betreffen nicht nur die direkten Folgen, die bei der Gewinnung von Mineralien durch das Abtragen und Aufbrechen des Meeresbodens entstehen. Darüber hinaus muss man die unbekannten Effekte bedenken, die der Abbau von Rohstoffen mit sich bringt: in diesem Fall vor allem Unterwasserstaubwolken und insbesondere der anfallende Giftmüll.3 Die Forschungsinstitute weisen in ihrer Kritik genau darauf hin, dass niemand die poten­ziellen Schäden kennt und niemand weiß, ob sie reversibel sind.

Deshalb werden die Forderungen nach einem Moratorium für den Tiefseebergbau immer lauter. Am 14. November übergaben der WWF, die norwegische Naturschutzorganisation Na­tur­vern­for­bun­det und acht weitere Umweltverbände der Regierung eine von 16 000 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnete Petition, in der ein Moratorium gefordert wird.4

Und am 9. November unterzeichneten 119 Mitglieder des Europäischen Parlaments einen offenen Brief, in dem sie die norwegischen Parlamentsabgeordneten aufforderten, gegen eine Genehmigung des Tiefseebergbaus im betreffenden Meeresgebiet zu stimmen.5

Norwegen ist nicht das einzige Land, das die Möglichkeiten des Tiefseebergbaus auslotet. Bei der Konkurrenz auf diesem Gebiet spielen auch die geopolitischen Rivalitäten eine Rolle, die sich vor allem um den Abbau der seltenen Erden drehen. Die Nachfrage nach diesen Rohstoffen, die aktuell zu 70 Prozent von China produziert werden, wird auf absehbare Zeit stetig zunehmen.6

Russland hat bereits mit der Kartierung von Mineralien auf dem Grund der Barentssee begonnen. Südkorea sowie Japan haben angekündigt, mit dem Abbau von seltenen Erden in der Tiefsee zu beginnen. Japan ist in der Entwicklung der Bergbautechnologie führend und will 2024 die Förderung aufnehmen. Und das obwohl in den Testgebieten bereits eine erhebliche Umweltbelastung durch die Abbauaktivitäten ermittelt wurde.7

Die norwegische Regierung begründet ihren Kurs vor allem mit geopolitische Überlegungen und dem künftigen Bedarf an Rohstoffen. Dagegen wenden kritische Stimmen ein, dass die bestätigten Vorkommen an Land den na­tionalen Bedarf bereits abdecken. Zudem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der Übergang zu einer grünen Wirtschaft durch rein technologische Veränderungen zu schaffen ist oder ob er nicht vielmehr einen grundlegenderen gesellschaftlichen Wandel erfordert.

Obwohl Norwegen zehn Jahre lang Elektroautos massiv durch Steuer- und Mautbefreiungen subventioniert hat, sind die Treibhausgas­emis­sio­nen des Landes kaum gesunken. Sie liegen mit 48,9 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten nur um 4,7 Prozent unter der Marke von 1990. Dennoch hält die Regierung an dem Ziel fest, die Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 um 55 Prozent zu senken.

In den Medien ist die Freigabe des Tiefseebergbaus noch kein Topthema, aber im Vorfeld der Debatte darüber in der norwegischen Nationalversammlung (Stortinget), die am 19. Dezember beginnen, wird die Kritik immer lauter. Die Abstimmung über das Gesetz ist für den 9. Januar geplant. Für die Abgeordnete Sofie Marhaug von der Linkspartei Rødt sind die Pläne der Regierung „völlig unvereinbar mit den Zielen, die Natur zu schützen … und vor einer Entscheidung genügend Wissen zu sammeln“.

Doch Rødt und die anderen Parteien, die gegen die Freigabe des Tiefseebergbaus sind (die linke Sosialistisk Venstreparti, die liberale Mitte-rechts-Partei Venstre, die christdemokratische KrF und die Umweltpartei MdG) haben nur 35 von 169 Sitzen im Parlament. Die wichtigsten Oppositionsparteien Høyre und FrP sind nicht prinzipiell gegen den Vorschlag, fordern aber Nachbesserungen beim Umweltschutz.

Es könnte also sein, dass Norwegen im Januar als erstes Land ein Meeresgebiet offiziell für den Tiefseebergbau freigibt. Das würde die nationale Saga vom Segen aus der Tiefe des Meeres noch unglaubwürdiger machen.

1 „Public perceptions on climate change“, The Policy Institute, King’s College London, Juni 2022.

2 „Ressursvurdering havbunnsmineraler“, Oljedirektoratet, Januar 2023.

3 Siehe Olive Heffernan, „Grüner Goldrausch in der Tiefsee“, LMd, August 2023.

4 „Krever full stans av åpningsprosessen“, WWF, 14. November 2023.

5 „No deep-sea mining in Norway! 119 Parliamentarians from all around Europe write to the Norwegian Parliament“, Webseite der EU-Abgeordneten Marie Toussaint, 9. November 2023.

6 „Can Europe go green without China’s rare earths?“, Financial Times, 20. September 2023.

7 „Deep-sea mining causes huge decreases in sealife across wide region, says study“, The Guardian, 14. Juli 2023.

Aus dem Englischen von Markus Greiß

Remi Nilsen ist Journalist und Redakteur der norwegischen Ausgabe von Le Monde diplomatique in Oslo.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.12.2023, von Remi Nilsen