Die israelische Rechte und ihre Pläne für Gaza
Ein Teil der israelischen Rechten träumt seit jeher von einem Großisrael, inklusive Westjordanland und Gazastreifen. Nach dem Ende der Feuerpause und der Ausweitung der Bodenoffensive auf den Süden des Küstengebiets wächst die Furcht vor einer neuen Nakba.
von Gilbert Achcar
Einen Krieg zu beginnen, ist leichter, als ihn zu beenden, lautet eine Binsenweisheit. Der Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, ist ein besonders gutes Beispiel dafür. Für die israelische extreme Rechte, die seit Ende 2022 mit in der Regierung sitzt, bot der Angriff der Hamas vom 7. Oktober die ideale Gelegenheit, ihr zentrales Projekt voranzutreiben: die Verwirklichung eines Großisrael auf dem gesamten einstigen Mandatsgebiet Palästina (1920–1948), inklusive Westjordanland und Gazastreifen.
Der Likud, den Netanjahu seit 2005 ununterbrochen anführt (und zuvor schon einmal von 1996 bis 1999), hat seine politisch-ideologischen Wurzeln im sogenannten revisionistischen Zionismus, der in den 1920er Jahren entstand. Vor der Gründung des Staates Israel setzte sich diese Strömung dafür ein, das gesamte britische Mandatsgebiet diesseits und jenseits des Jordan in das zionistische Staatsprojekt einzubeziehen; einschließlich Transjordaniens, das die britische Regierung 1923 von Palästina abgetrennt und der haschemitischen Dynastie zugesprochen hatte.
Nach der Staatsgründung konzentrierten sich die revisionistischen Zionisten auf das Gebiet westlich des Jordan. David Ben-Gurion und dem von ihm angeführten sozialistischen Zionismus warfen sie vor, mit dem Waffenstillstand von 1949 den Kampf aufgegeben zu haben, ohne das Westjordanland und den Gazastreifen erobert zu haben.
1967 wurden dann beide Gebiete doch noch besetzt. Was den Anspruch auf diese Territorien angeht, ist der Likud seither stets weitergegangen als das Lager der linken Zionisten.
Anders als 1948, als hunderttausende Palästinenser vertrieben wurden oder vor den Kämpfen flohen, gab die große Mehrheit der Bevölkerung im Westjordanland und in Gaza 1967 ihr Land nicht auf. Sie hatte ihre Lektion gelernt: 80 Prozent der palästinensischen Bewohner:innen des Gebiets, auf dem 1949 schließlich der Staat Israel gegründet wurde – 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästina – waren geflohen, um während der Kämpfe vorübergehend in den Nachbarländern Zuflucht zu suchen. Doch der neue israelische Staat verhinderte ihre Rückkehr. Diese Enteignung ist der Kern dessen, was die arabische Welt als Nakba (Katastrophe) bezeichnen.1
Da sich der palästinensische Exodus 1967 nicht wiederholte („nur“ 245 000 Palästinenser, die meisten von ihnen bereits 1948 Geflüchtete, flohen nach Jordanien), sah sich die israelische Regierung in einem Dilemma: Sie war zwar gewillt, die Gebiete zu annektieren, wollte aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht tragen.
Hätte man beide Territorien zu israelischem Staatsgebiet gemacht und seinen Bewohner:innen die Staatsbürgerschaft verliehen, hätte man den jüdischen Charakter des Staates Israel gefährdet; die Gebiete zu annektieren, ohne ihre Bewohner:innen einzubürgern, hätte Israels demokratischen Charakter – eine „ethnische Demokratie“, so ein Begriff des israelischen Soziologen Sammy Smooha – infrage gestellt und ganz offiziell ein Apartheidsystem geschaffen.
Für das Westjordanland war die Lösung dieses Dilemmas der sogenannte Allon-Plan, benannt nach dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Jigal Allon, der ihn zwischen 1967 und 1968 ausarbeitete. Er bestand darin, das Jordantal, Ostjerusalem und Umgebung, die judäische Wüste und das Gebiet um Gusch Etzion in den israelischen Staat einzugliedern und die Kontrolle über die dicht besiedelten Gebiete im Nordwesten und Südwesten an Jordanien zurückzugeben.
Der jordanische König Hussein lehnte diesen Plan ab. Und auch der Likud war dagegen; er stritt in der Folge unermüdlich für die Annexion beider 1967 besetzten Gebiete und für deren vollständige Besiedlung, die nicht auf die im Allon-Plan vorgesehenen Regionen in Judäa und Samaria (so die von der israelischen Rechten verwendete biblische Bezeichnung des Westjordanlands) beschränkt sein sollte.
1977 gewann der Likud die Wahlen. Knapp 30 Jahre nach der Gründung des Staates Israel kam damit die zionistische Rechte an die Macht. Und für den Großteil der 46 Jahre, die seither vergangen sind, blieb sie dort, mehr als 16 davon unter der Führung Netanjahus, und sie radikalisierte sich kontinuierlich.
Der erste palästinensische Volksaufstand – die erste Intifada –, der Ende 1987 ausbrach, brachte die Hegemonie des Likud und die Aussicht auf ein Großisrael ins Wanken. Die Arbeitspartei (Awoda) kam 1992 unter der Führung von Jitzhak Rabin wieder an die Macht und war mehr denn je entschlossen, ihren Plan von 1967 umzusetzen.
1988, mitten in der Intifada, hatte sich die jordanische Monarchie von ihren trotz der Besatzung noch verbliebenen Verwaltungsaufgaben im Westjordanland zurückgezogen und zugunsten der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) auf ihre Ansprüche auf das Westjordanland verzichtet. Die PLO-Führung erklärte sich bereit, vorübergehend auf ihre zentrale Forderungen – den Rückzug der israelischen Armee aus allen 1967 besetzten palästinensischen Gebieten und die langfristige Räumung der Siedlungen, beginnend mit einem sofortigen Ausbaustopp – zu verzichten. Damit schuf sie die Voraussetzung für das Oslo-Abkommen, das Jitzhak Rabin und Jassir Arafat im September 1993 in Washington unter der Schirmherrschaft von US-Präsident Bill Clinton unterzeichneten.
Doch bereits 1996 kam der Likud unter Netanjahus Führung wieder an die Macht. Drei Jahr später wurde er erneut von der Awoda unter Ehud Barak besiegt. Netanjahu musste zurücktreten und wurde von Ariel Scharon als Parteivorsitzender abgelöst. Scharon gewann 2001 die Wahl zum Ministerpräsidenten, nachdem er im Herbst 2000 mit seinem Besuch auf dem Tempelberg in Jerusalem den Ausbruch der zweiten Intifada provoziert hatte.
2005 sorgte Scharon für den einseitigen israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen, die dort errichteten israelischen Siedlungen wurden aufgelöst. Damit stellte er vor allem das Militär zufrieden, das Schwierigkeiten hatte, dieses dicht besiedelte Gebiet zu kontrollieren. Scharon war vor allem daran gelegen, einen möglichst großen Teil des Westjordanlands zu annektieren, womit er die im Allon-Plan skizzierte Strategie in maximalistischer Weise fortsetzte.
Netanjahu, der dem Kabinett Scharon als Finanzminister angehörte, trat aus Protest gegen den Rückzug aus Gaza zurück. Damals erklärte Netanjahu, er sei aus Sorge um Israels Sicherheit zurückgetreten. Zur gleichen Zeit umwarb er die radikalisierte Basis des Likud und die Siedlerbewegung. Scharon überwarf sich schließlich mit seiner eigenen Partei, verließ den Likud im Herbst 2005 und überließ Netanjahu das Feld.
Nach seiner Rückkehr auf den Posten des Ministerpräsidenten 2009 blieb Netanjahu bis Juni 2021 im Amt und brach damit den bisherigen Rekord der längsten Regierungszeit von Ben-Gurion. Im Dezember 2022 wurde er erneut Regierungschef, diesmal durch ein Bündnis mit zwei Parteien der religiösen extremen Rechten.
Die von Itamar Ben-Gvir geführte Partei „Otzma Jehudit“ (Jüdische Stärke) steht in direkter Nachfolge der rassistischen Kach-Partei, die 1971 vom Brooklyner Rabbi Meir Kahane gegründet wurde und die die sofortige „Umsiedlung“ der Araber aus dem „Land Israel“ propagierte.2 Und Bezalel Smotrich, Vorsitzender der „HaTzionut HaDatit“ (Der religiöse Zionismus) machte im Oktober 2021 Schlagzeilen, als er den arabischen Abgeordneten in der Knesset entgegenschleuderte: „Es war ein Fehler, dass Ben-Gurion 1948 die Arbeit nicht zu Ende gebracht und euch rausgeworfen hat.“3
Die aktuelle israelische Regierung wird also von Männern dominiert, die von dem Wunsch beseelt sind, ihren Traum von Großisrael durch die Annexion der 1967 eroberten Gebiete und die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung zu verwirklichen. Unter normalen Umständen könnte ein solches Projekt – wenn überhaupt – nur durch einen langwierigen Prozess realisiert werden: die schleichende Annexion des Westjordanlands durch den Ausbau der Siedlungen, die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung und die wirtschaftliche Abschnürung des Gazastreifens – alles Entwicklungen, die sich seit dem Antritt der rechtsextremen Regierung erheblich verschärft haben.
Die Situation erinnert an die US-Invasion im Irak von 2003: Die Regierung von George W. Bush war durchsetzt von Personen, die bereits Bushs Vorgänger Clinton zu einer Invasion gedrängt hatten, aber auf einen starken politischen Anlass warteten, um ihr Vorhaben durchsetzen zu können. Vor allem in dieser Hinsicht ist die Parallele zwischen den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober relevant, die Netanjahu gegenüber US-Präsident Joe Biden während dessen Solidaritätsbesuch in Israel am 18. Oktober ansprach. Das von der Hamas verübte Massaker wurde von der israelischen extremen Rechten sofort ausgenutzt, um die Ausführung ihrer Expansionspläne voranzutreiben.
Die israelische Armee war offensichtlich nicht auf eine solche Operation vorbereitet. Die militärischen Pläne in Reaktion auf den 7. Oktober mussten unter großen Zeitdruck entwickelt werden, was die Verzögerung der Bodenoffensive im Gazastreifen erklärt. In den drei Wochen zwischen dem Hamas-Angriff und dem Beginn der Bodenoffensive am 27. Oktober bombardierte die israelische Armee intensiv städtische Ballungsräume in Gaza, um das Risiko der Soldaten am Boden nach Möglichkeit zu verringern. In Kauf nahm man damit allerdings den Tod tausender palästinensischer Zivilist:innen, darunter zwangsläufig ein hoher Anteil Kinder.
Das am 11. Oktober eingesetzte Kriegskabinett misst dem Schicksal der Zivilbevölkerung in Gaza nur geringe Bedeutung bei. Am deutlichsten wurde diese Haltung von Verteidigungsminister Yoav Gallant, einem „gemäßigten“ Likud-Mitglied und Rivalen Netanjahus, zum Ausdruck gebracht, als er am 9. Oktober die vollständige Abriegelung des Gazastreifens ankündigte und damit rechtfertigte, bei den Gegnern handele es sich um „menschliche Tiere“.
Seitdem haben sich Mitglieder der Regierung und einflussreiche Persönlichkeiten in Israel wiederholt in ähnlicher Weise geäußert. Als Reaktion darauf hat am 9. November ein Zusammenschluss von 300 Anwält:innen, die meisten von ihnen aus Frankreich und anderen europäischen Ländern, beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eine Klage gegen Israel wegen „Völkermords in Gaza“ eingereicht – was ein absichtsvolles Handeln Israels unterstellt.4
In der Klage ist auch die Rede von „Bevölkerungstransfers“, was sich auf die massiven Fluchtbewegungen der Bevölkerung innerhalb der Enklave bezieht. Dass Israel in dieser Hinsicht absichtsvoll handelt, ist eher nachzuweisen. Nach dem 7. Oktober machte sich das israelische Geheimdienstministerium sogleich daran, einen Plan für Gaza auszuarbeiten. Das Ministerium untersteht Gila Gamliel vom Likud und hat vor allem die Aufgabe, die Arbeit zwischen dem Auslandsdienst Mossad und dem Inlandsdienst Schin Bet zu koordinieren. Es ist also nicht direkt verantwortlich für die Geheimdienstarbeit, sondern fungiert als beratende Institution für die Regierung und die Sicherheitsorgane.
Der am 13. Oktober fertiggestellte Plan wurde zwei Wochen später von der israelischen Website Sikha Mekomit (Local Call) veröffentlicht und trägt den Titel „Optionen für eine Politik gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza“.5 Er erörtert drei Szenarien: a) Die Zivilbevölkerung verbleibt im Gazastreifen und wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde regiert; b) sie bleibt im Gazastreifen, wird aber von einer lokalen Ad-hoc-Behörde regiert, die von Israel eingesetzt wird; c) sie wird aus Gaza in die ägyptische Sinai-Wüste evakuiert.
Das Dokument stellt unumwunden fest, die Optionen a und b wiesen erhebliche Mängel auf und könnten langfristig keine ausreichende „abschreckende Wirkung“ entfalten. Bei der Option c hingegen ließen sich „langfristig positive strategische Ergebnisse für Israel erzielen“. Sie wird als „durchführbar“ eingestuft, sofern „die politische Ebene“ angesichts des internationalen Drucks entschlossen agiere und sich darauf konzentriere, die Unterstützung der USA und anderer proisraelisch eingestellter Länder sicherzustellen. Anschließend wird jede der drei Optionen näher erläutert.
Das vom Ministerium bevorzugte dritte Szenario beginnt mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Kampfgebiet in Gaza, gefolgt von ihrer Umsiedlung auf den ägyptischen Sinai. In einer ersten Phase sollen die Menschen dort in Zelten untergebracht werden. „Die nächste Phase umfasst die Einrichtung einer humanitären Zone zur Unterstützung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens und den Bau von Städten für ihre Ansiedlung in einem Gebiet im Norden des Sinai.“ Zusätzlich soll auf beiden Seiten der Grenze ein Sicherheitszone entstehen.
Daran anschließend beschreibt das Dokument, wie der Transfer der Bevölkerung des Gazastreifens erreicht werden soll. Es empfiehlt, alle Nichtkombattanten dazu aufzurufen, das Gebiet der bewaffneten Auseinandersetzungen zu verlassen. Zugleich sollten die Luftangriffe auf den Norden des Gazastreifens konzentriert werden, um den Weg für eine Bodenoffensive zu ebnen, die im Norden beginnen und bis zur Besetzung des gesamten Gazastreifens fortgesetzt werden solle.
Betont wird, dass es wichtig sei, „die Straßen in den Süden offen zu halten, um die Evakuierung der Zivilbevölkerung nach Rafah zu ermöglichen“, wo sich der Grenzübergang nach Ägypten befindet. Das Dokument verweist darauf, dass diese Option vor dem Hintergrund einer globalen Situation zu betrachten sei, in der große Bevölkerungsverschiebungen gewissermaßen alltäglich geworden seien, insbesondere durch die Kriege in Afghanistan, Syrien und in der Ukraine.
Am 13. Oktober, demselben Tag, an dem das Papier fertiggestellt wurde, rief die israelische Armee die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen dazu auf, sich in den Süden zu begeben. Und gut zwei Wochen später berichtete die Financial Times, Netanjahu habe die europäischen Regierungen darum gebeten, Druck auf Ägypten auszuüben, damit es den Weg für Geflüchtete aus Gaza auf den Sinai öffnet.6 Von einigen Teilnehmern des EU-Gipfels am 26. und 27. Oktober sei dies unterstützt worden. Paris, Berlin und London hätten diese Option jedoch als unrealistisch abgelehnt.
Laut dem Dokument des Geheimdienstministeriums wäre Ägypten nach internationalem Recht sogar dazu verpflichtet, der Zivilbevölkerung die „Durchreise“ zu ermöglichen. Im Gegenzug für seine Kooperation solle Ägypten finanzielle Unterstützung erhalten, um die Wirtschaftskrise im Land zu lindern. Ägypten ächzt unter seinen Schulden, es muss 10 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Schuldendienst aufwenden. Dennoch hat sich Präsident Abdel Fattah al-Sisi kategorisch gegen einen Transfer der Bevölkerung aus dem Gazastreifen auf ägyptisches Gebiet ausgesprochen. Seine Regierung investierte sogar in eine Kampagne: „Nein zur Liquidierung der palästinensischen Sache auf Kosten Ägyptens“.
Furcht vor einer neuen Nakba
Der Grund für diese Ablehnung ist sicherlich nicht, dass die ägyptische Regierung besondere Empathie für die Palästinenser:innen aufbrächte. Klartext redete al-Sisi öffentlich beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, der am 18. Oktober nach Kairo gereist war, um über die Situation in Gaza zu sprechen: Ein Transfer der Bevölkerung von Gaza auf den Sinai würde, so der ägyptische Präsident, das ägyptische Territorium „zu einer Basis für Operationen gegen Israel“ machen und damit die Beziehungen zwischen den beiden Ländern gefährden.7
Das Regime in Ägypten weiß, wie explosiv die Palästinafrage sein kann, zumal sie durch den laufenden Krieg wieder extrem aufgeladen ist. Die jordanische Regierung ist angesichts der seit dem 7. Oktober zunehmenden Übergriffe von Siedlern und israelischen Militäroperationen im Westjordanland ebenfalls alarmiert. Amman warnte vor jedweder Vertreibung von Palästinensern auf die andere Seite des Jordan.
Diejenigen in Israel, die eine Umsiedlung von Gazas Bevölkerung befürworten, können darauf setzen, dass sich mit Fortgang des Kriegs eine große Zahl von Menschen an der Grenze zu Ägypten konzentrieren wird. Eine so massive Ansammlung von Menschen, die vor den Invasionstruppen fliehen, könnte die ägyptischen Grenzschützer schließlich überfordern.
Die ablehnende Haltung Ägyptens veranlasste die israelische Geheimdienstministerin Gila Gamliel zu einem Appell an die internationale Gemeinschaft, die Palästinenser aus Gaza „aus humanitären Gründen“ aufzunehmen. Anstatt Geld für den Wiederaufbau des Gazastreifens bereitzustellen, könne die internationale Gemeinschaft die Kosten für eine „freiwillige Umsiedlung“ übernehmen.8
Washington spricht sich jedoch kategorisch gegen eine Umsiedlung von Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen aus. Zwar unterstützt die US-Regierung den von Israel geführten Krieg. Doch die Warnungen Washingtons an den Verbündeten haben in den zahlreichen Erklärungen der letzten Wochen an Schärfe zugenommen.
Bereits am 15. Oktober machte Präsident Biden in einem Interview mit dem US-Sender CBS deutlich, dass er gegen eine erneute Besetzung des Gazastreifens ist. Zugleich räumte er ein, dass es für Israel unerlässlich sei, in den Gazastreifen einzumarschieren, um die Hamas zu vernichten.9 Dies erklärt die Haltung Washingtons, das keinen Waffenstillstand fordern will, solang dieses Ziel nicht erreicht ist – eine Position, die von mehreren westlichen Regierungen übernommen wurde.
Washington und seine Verbündeten befürworten also eine vorübergehende Besetzung des Gazastreifens, um die Hamas auszulöschen. Aber sie wollen, dass sich die israelischen Truppen danach wieder zurückziehen.
Die US-Regierung befürwortet den Ansatz, den Oslo-Friedensprozess wiederzubeleben, der seit Beginn der zweiten Intifada 2000 zum Erliegen gekommen ist. „Es muss einen palästinensischen Staat geben“, sagte Biden in dem CBS-Interview. Nach seiner Vorstellung soll die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit Sitz in Ramallah nach dem Krieg wieder die Macht in Gaza übernehmen. In einem Gastbeitrag für die Washington Post vom 18. November bekräftigte Joe Biden seine Präferenz für die Zweistaatenlösung und forderte, Gaza und das Westjordanland unter einer „wiederbelebten“ PA zu vereinen.
Dieser Ansatz wird auch von den meisten westlichen Regierungen, von Moskau und Peking sowie den meisten arabischen Staaten befürwortet. Ein Teil der israelischen Opposition unterstützt ihn ebenso, wobei sie zugleich Netanjahus Ankündigung zustimmt, dass Israel „auf unbestimmte Zeit“ die Sicherheitsverantwortung im Gazastreifen behalten werde.10 Das ist etwa die Position des israelischen Oppositionsführers Jair Lapid, der sich geweigert hat, im Kriegskabinett zu sitzen.11
Dass ein Wiederaufleben des Oslo-Prozesses aussichtsreich ist und tatsächlich ein palästinensischer Staat entstehen wird, muss angesichts der Tatsache, dass Israels Ankündigungen dazu im krassen Widerspruch stehen, bezweifelt werden. Ein im Rahmen der Oslo-Abkommen geschaffener Palästinenserstaat könnte im Übrigen nicht mehr sein als ein zersplittertes, aus sich selbst nicht lebensfähiges Gebilde, das dem Wohlwollen Israels unterworfen wäre.
Ein solcher Staat bliebe weit zurück hinter den Bedingungen für eine friedliche Lösung, die die Palästinenser akzeptieren würden: der vollständige Rückzug Israels aus allen 1967 besetzten Gebieten, die Auflösung der Siedlungen und das uneingeschränkte Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge. Diese Bedingungen wurden im sogenannten Gefangenenpapier formuliert, das 2006 von fünf inhaftierten palästinensischen Politikern verfasst und von fast allen palästinensischen politischen Organisationen gebilligt wurde, einschließlich der Hamas.
Es steht aber zu befürchten, dass ein anderer Ausgang des Kriegs viel wahrscheinlicher ist: dass es tatsächlich zu einer neuen Nakba kommt, wie es die Palästinenser schon sehr früh geahnt und israelische Politiker einigermaßen unverhohlen angekündigt haben. Das Ergebnis wäre ein neues Flüchtlingsproblem auf ägyptischem Boden oder zumindest von „Binnenvertriebenen“ in Lagern im Süden von Gaza. Außerdem ist es offensichtlich, dass das Ziel, die Hamas auszulöschen – eine Organisation, die in der Bevölkerung Gazas tief verankert ist –, nicht ohne ein Massaker von sehr großem Ausmaß vonstatten gehen kann.
All dies zeigt, wie unverantwortlich die westlichen Regierungen gehandelt haben, die überhastet ihre bedingungslose Unterstützung für die harte israelische Reaktion auf die Massaker vom 7. Oktober zum Ausdruck brachten. Diese Haltung wird unweigerlich ihren eigenen Interessen und ihrer eigenen Sicherheit schaden. Wie der Krieg in Gaza endet, wird indes von der Entwicklung der Kämpfe am Boden abhängen – und vom internationalen Druck auf Israel.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London.