08.02.2024

Joe Biden und der Gazakrieg

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Joe Biden und der Gazakrieg

Mit seiner anfangs pauschalen Unterstützung für Israels Krieg gegen die Hamas hat sich der US-Präsident ins innenpolitische Abseits manövriert. Der Druck auf Biden wächst, den Kurs gegenüber der Netanjahu-Regierung zu ändern. Ein Grund ist der Linksruck der liberalen jüdischen Gemeinden in den USA.

von Eric Alterman

Biden und Netanjahu in Tel Aviv, 18. Oktober 2023 CAMERON SMITH/picture alliance/zumapress.com
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Fünf Wochen nach dem Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober, am 14. November, fand in Washington eine pro-israelische Kundgebung statt. Schätzungsweise 290 000 Menschen, in der Mehrzahl US-amerikanische Jüdinnen und Juden, waren in die Hauptstadt gereist, um für die Unterstützung Israels, die Freilassung der Hamas-Geiseln und gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Es war wohl die größte proisraelische Demonstration in der Geschichte der USA, womöglich aber auch die unnötigste, was den politischen Adressaten betrifft. Denn die Regierung Biden hatte sich bereits eindeutig im Sinne dieser Forderungen positioniert.

An diesem Tag herrschte eine völlig andere Atmosphäre als bei den letzten Solidaritätskundgebungen für Israel während des Gazakriegs im Mai 2021, die zum Teil dieselben Gruppen organisiert hatten. Damals hatten nur 2000 Menschen teilgenommen; die jüdischen „Pro-Peace“-Organisationen hatten die Demonstration boykottiert, weil die Veranstalter jeglichen Antizionismus als Antisemitismus definierten.

Bei der Kundgebung vom 14. November waren auch diese Gruppen voll dabei, obwohl viele von ihnen Präsident Biden aufgefordert hatten, Israel zu drängen, die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern zu beenden. Die Organisation „Americans for Peace Now“ hatten sogar gefordert, dies zur Bedingung für weitere Militärhilfe der USA zu machen.

Vielen der Demonstrierenden hat es gewiss nicht behagt, dass zu der Kundgebung auch der evangelikale Prediger John Hagee eingeladen war. Der Gründer der Lobbygruppe „Christians United for Israel“ predigt unter anderem, Gott habe Hitler zum „Jäger“ des jüdischen Volkes bestimmt – als Strafe dafür, dass sie das Gebot aus der neutestamentarischen „Offenbarung des Johannes“ nicht befolgt haben, ins Heilige Land zurückzukehren.

Generationenkonflikt in der jüdischen Community

Am 14. November galt das Motto: Solidarität mit Israel und mit allen Kräften, die den israelischen Krieg in Gaza unterstützen. Wie das gemeint war, erfuhr der Schwarze progressive CNN-Kommentator Van Jones, als er in die Menge rief: „Ich bete für Frieden. Keine Raketen mehr aus Gaza; und keine Bomben mehr auf die Bevölkerung von Gaza.“ Die Antwort waren Buhrufe und „Kein Waffenstillstand“-Sprechchöre.

Am Rande der Großkundgebung gab es kleine Gegendemonstrationen jüdischer Dissidentengruppen „Jewish Voice for Peace“ und „IfNotNow“. Beide hatten schon vorher, zusammen mit Gleichgesinnten und palästinensischen Gruppen, in zahlreichen Großstädten den Verkehr lahmgelegt oder Bahnhöfe besetzt und in Washington das Kapitol belagert. Sie verlangten von Biden, die Militärhilfe für Israel einzustellen und seinen Einfluss zu nutzen, um die Bombardierung von Gaza zu beenden.

Die Parolen dieser kleinen Gegendemonstrationen entsprachen weitgehend der öffentlichen Meinung in den USA über den Gazakrieg. In einer Umfrage – zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Todesopfer in Gaza noch unter 10 000 lag – erklärten 66 Prozent der Befragten, dass sie die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand „stark befürworten“ oder „eher befürworten“. Ein erheblicher Prozentsatz dieser Gruppe waren Juden und Jüdinnen, vor allem der jungen Generation.1

Diese Zahlen bestätigen die Tendenz, dass die jüdischen US-­Ame­ri­ka­ne­r:in­nen, speziell die unter 24-Jährigen, mehr zu einer linken und propalästinensischen Position tendieren, während die jüdischen Israelis, vornehmlich die jüngeren, immer weiter nach rechts rücken. Das israelische Demokratie-Institut hat 2022 ermittelt, dass sich 62 Prozent der Bevölkerung der politischen Rechten zuordnen, aber nur 24 Prozent der politischen Mitte – und ganze 11 Prozent der Linken.2

In Israel hat bei den letzten fünf Wahlen eine klare Mehrheit für illiberale oder theokratische Parteien und für die De-facto-Annexion des Westjordanlands gestimmt – und damit abgesegnet, was der Internationale Gerichtshof als einen Fall von Apartheid definieren würde. Konsequenterweise hat die israelische Rechte die traditionellen Bindungen an die jüdische Community der

USA aufgegeben und sich den rechten evangelikalen Zionisten angenähert, die innerhalb der Republikanischen Partei beim Thema Israel den Ton angeben.

Laut Gary Rosenblatt, dem ehemaligen Chefredakteur der Zeitung New Yorker Jewish Week, hat Netanjahu einmal im Privaten geäußert, es gehe ihm blendend, „solange er in Amerika die Unterstützung der Orthodoxen und evangelikalen Christen hat, die sehr viel mehr an der Zahl sind als die Juden“.

Was die politische Ausrichtung der jüdischen Bevölkerung der USA betrifft, so haben die Hamas-Attacken und die Reaktion Israels weniger einen Wandel als eine Vertiefung der vorhandenen Überzeugungen bewirkt.

Anfang Dezember plädierten 500 Mitglieder von mehr als 140 jüdischen Organisationen in einem offenen Brief an Präsident Biden für einen Waffenstillstand: „Wir wissen, dass es für diese Krise keine militärische Lösung gib. Die Juden werden keine Sicherheit und die Palästinenser keine Freiheit erlangen können, wenn sie sich gegenseitig bekämpfen.“3

Bereits am 20. November schrieben 13 demokratische Senatsmitglieder an Biden, die Verlängerung des Leidens in Gaza sei nicht nur unerträglich für die palästinensische Zivilbevölkerung, sie „gefährde auch die Sicherheit der israelischen Zivilbevölkerung, indem die bestehenden Spannungen verschärft und die regionalen Bündnisse untergraben werden“. Ihre abschließende Aufforderung, Biden solle Israel verstärkt zu Konzessionen drängen, wäre noch vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen.

Bernie Sanders, Bidens größter Konkurrent bei den Vorwahlen von 2020, nennt die Netanjahu-Regierung „rechtsextremistisch“; den „nahezu totalen Krieg“ gegen die Palästinenser „moralisch unannehmbar und einen Verstoß gegen das Völkerrecht“. Eine weitere finanzielle Unterstützung Israels will er an mehrere Bedingungen geknüpft sehen. Dazu gehörten das Recht der Vertriebenen innerhalb des Gazastreifens, in ihre Häuser zurückzukehren, ein Ende der Gewalttaten seitens israelischer Siedler und ein Siedlungsstopp im Westjordanland sowie die Verpflichtung zu Friedensverhandlungen mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung.

In den USA gibt es kaum Stimmen, die Israel das Recht abstreiten, auf die Hamas-Attacke mit militärischen Mitteln zu reagieren. Die einzige Ausnahme sind extremistische Randgruppen, in deren Reihen die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober schockierend häufig geleugnet und als „zionistische Propaganda“ abgetan werden.

Allerdings hat das israelische Vorgehen im Gazastreifen, sprich die horrende Zahl getöteter Zivilisten und die fast komplette Zerstörung der Infrastruktur, der Hamas weltweit einen gigantischen Propagandaerfolg beschert, der einen noch radikaleren Widerstand inspiriert.

Präsident Biden gibt sich weiterhin als Israels bester Freund und unterbindet jede Diskussion über die Idee, weitere Militärhilfen von einem Ende der israelischen Zerstörungsstrategie abhängig zu machen. Und das, obwohl Israel beim Einsatz der von den USA bezogenen Waffensysteme die einschränkenden US-Gesetze permanent miss­achtet.

Ganz offensichtlich hat Biden seinen Einfluss auf Netanjahu überschätzt. Wie der über seinen großen Verbündeten denkt, hat er 2001 in einem (heimlich aufgezeichneten) Gespräch mit Vertretern der Siedlerbewegung verraten: „Amerika lässt sich leicht in die richtige Richtung lenken. Die werden uns nicht behelligen.“

Dieser Netanjahu desavouiert, gestützt auf die Extremisten in seinem Kabinett und in seiner Gefolgschaft, den US-Präsidenten bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zuletzt gab es immer wieder Anzeichen dafür, dass er der Idee einer „zweiten Nakba“ – einer Zwangsemigration der Gaza-Bevölkerung nach Ägypten und anderswohin – durchaus nicht ablehnend gegenübersteht. Er will den Krieg bis zum Erreichen des Ziels fortsetzen, das er im Wall Street Journal vom 25. Dezember definiert hat: „Die Hamas muss zerstört, Gaza muss entmilitarisiert und die palästinensische Gesellschaft muss entradikalisiert werden.“

Die USA haben durch Bidens demonstrative Nähe zu Netanjahu viel von dem moralischen Kredit eingebüßt, den sie sich durch ihre Unterstützung für die Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression erworben haben. Biden setzt den Kampf der Israelis und den der Ukrainer vom Prinzip her gleich. Doch in den meisten demokratischen Ländern betrachtet man die Palästinenser als Opfer der Israelis – und empfindet die Politik Washingtons als heuchlerisch.

Bidens einsame Position erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit einer Wahlniederlage im November. Mitte Dezember war Bidens Zustimmungsrate auf das Rekordtief von 37 Prozent gefallen. Seine Position zum Gazakrieg wird von einem Großteil der Demokraten-Wählerschaft kritisiert, bei den unter 24-Jährigen sogar von 70 Prozent.4 Laut einer Umfrage von Mitte Januar betrachten 49 Prozent aller eingetragenen Wäh­le­r:in­nen der Demokraten die Militäroperationen Israels als „Genozid“ (gegenüber 21 Prozent aller Befragten). Von den 18- bis 29-Jährigen sehen, ungeachtet der politischen Orientierung, 49 Prozent in Israels Vorgehen einen Genozid, 24 Prozent lehnen den Vorwurf ab.5

Keinerlei Rückhalt hat Biden bei den Wäh­le­r:in­nen arabischer Herkunft zu erwarten. Und auch bei den People of Color wird ihn seine Nähe zu Netanjahu viele Stimmen kosten. Die Haltung dieser Wählergruppe ist seit jeher stärker propalästinensisch als die der Gesamtgesellschaft, weil viele von ihnen im Kampf der Palästinenser Parallelen mit ihrem eigenen Kampf für Bürgerrechte sehen. Wie die New York Times vom 28. Januar berichtet, haben mehr als tausend Schwarze Pastoren, die hunderttausende Gemeindemitglieder repräsentieren, Biden aufgefordert, sich stärker für einen Waffenstillstand einzusetzen.

Warum ist Biden bereit, einen so hohen Preis zu zahlen? Zum einen macht er sich das zionistische politische Narrativ offenbar voll zu eigen. Bei den Präsidentschaftsvorwahlen von 2020 hatten sich Bernie Sanders und Elizabeth Warren geweigert, vor der wichtigsten proisraelischen Lobbygruppe Aipac (American Israel Public Affairs Committee) aufzutreten. Zudem hatten sie gefordert, Washington müsse die Unterstützung für Israel an Auflagen knüpfen. Biden tat das als ­„absolut skandalös“ und als „gigantischen Fehler“ ab – obwohl die Idee damals von der großen Mehrheit der US-amerikanischen Juden geteilt wurde.

Schon als Vizepräsident Obamas hatte Biden 2011 vor einem jüdischen Publikum getönt, er habe „mehr Spendengelder vom Aipac bezogen als einige der Anwesenden“.6 Innerhalb der Oba­ma-Regierung hat er regelmäßig interveniert, um Spannungen mit Israel, die aufkamen, wenn Tel Aviv jede Bemühung um Frieden mit den Palästinensern boykottierte, abzumildern. Heute glaubt Biden, Israel dadurch zu helfen, dass er Netanjahu seine aggressiveren Ideen ausredet – etwa die Annexion des Westjordanlands oder einen Angriffs auf die Hisbollah im Libanon.

Ein weiterer Faktor ist die unbestreitbare Macht mehrerer konservativer jüdischer Organisationen. Diese finanzkräftigen Gruppen fühlen sich beauftragt, jede öffentliche Person abzustrafen, die sich von der proisraelischen Linie zu weit entfernt.

Als Präsident Obama 2009 kurz nach seinem Amtsantritt Israel aufforderte, den Siedlungsbau im Westjordanland einzufrieren, um den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen, reagierte diese Lobby mit einem offenen Brief an Obama, der von 329 (der 435) Abgeordneten des Repräsentantenhauses unterzeichnet war. Darin forderte das Aipac Obama auf, sich auf ein „privates“ Ersuchen zu beschränken, also keinerlei Druck auszuüben.

In seinen Memoiren schreibt Obama rückblickend: „Wer die Politik Israels kritisierte, riskierte, als ‚antiisraelisch‘ (und womöglich antisemitisch) etikettiert zu werden und bei den nächsten Wahlen einem gut finanzierten Gegenspieler gegenüberzustehen.“

Organisationen wie das Aipac entfernen sich mit ihrer bedingungslosen Unterstützung der derzeitigen israelischen Regierung weit von den Ansichten der überwiegenden Mehrheit jüdischer US-Bürgerinnen und Bürger, von denen sich rund 70 Prozent dem progressiven Lager zurechnen. Doch sie treiben Millionenbeträge von konservativen Spendern ein, mit denen sie das Trump-Lager bei den Republikanern unterstützen und aufseiten der Demokraten Kandidaten zu verhindern suchen, deren Israel-Treue zu wünschen übrig lässt.

Innerhalb der proisraelischen Lobby spielt das Aipac traditionell eine zentrale Rolle. Doch bei den Zwischenwahlen von 2022 ging die Organisation erstmals so weit, Kongress-­Kan­di­dat:in­nen direkt zu finanzieren. Über sein „United Democracy Project“ gab das Aipac fast 36 Millionen Dollar für Kampagnen gegen progressive Bewerber aus. Eine weitere Gruppe, die „Democratic Majority for Israel“ brachte 9 Mil­lio­nen Dollar für bestimmte Kandidaten der Demokraten auf.

Rechter Antisemitismus  und linke Israelkritik

Für den Wahlkampf 2024 wird erwartet, dass diese Lobby an die 100 Millionen Dollar einsetzen wird, um die Demokraten im Kongress auf Linie zu halten – dass die Republikaner treu zu Israel halten, wird ohnehin vorausgesetzt. Und wenn es keinen geeigneten Kandidaten gibt, wird das ­Aipac einen auftreiben. So haben zwei potenzielle Kandidaten aus Detroit berichtet, dass ihnen von jüdischen Sponsoren jeweils 20 Millionen Dollar geboten wurden, wenn sie gegen Rashida Tlaib antreten, die für Michigan im Repräsentantenhaus sitzt. Die demokratische Abgeordnete ist das einzige Kongress-Mitglied palästinensischer Abstammung und wird wegen ihrer propalästinensischen Positionen häufig angegriffen.

Die Debatten über Israel sind inzwischen untrennbar verwoben mit einen zweiten Thema: einer als alarmierend empfundenen Zunahme des Antisemitismus. Dabei behaupten bestimmte jüdische Gruppen – vorweg die Anti-Defamation League (ADL) –, dass „Antizionismus“ gleich Antisemitismus sei. Und zwar auch dann, wenn es um Äußerungen von Jüdinnen und Juden geht.

Bei dieser Debatte wird allzu oft übersehen, dass antisemitische Gewalt in den USA fast durchweg von Rechtsradikalen ausgeht. Selbst die ADL-Statistiken zeigen, dass 2022 extremistisch motivierte Morde ausnahmslos auf das Konto rechter Täter gehen.

So war auch der Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021 nur die extremste Aktion einer Bewegung, die schon sehr viel länger existiert: Im August 2017 waren in Charlottesville, Virginia, bei einem Neonazi-Aufmarsch unter der Parole „Wir werden den Juden nicht weichen“ eine Frau getötet und 35 Menschen verletzt worden. Und im Oktober 2018 tötete ein fanatischer Antisemit elf Menschen in einer Synagoge in Pittsburgh.

Der Antisemitismus ist eine reale Bedrohung. Deshalb fordert etwa Matt Duss, Ex-Mitarbeiter von Bernie Sanders, „die progressive Linke“ müsse im Rahmen einer breiten Koalition „die Ausbreitung eines weißen Nationalismus bekämpfen“. Doch die „progressive Linke“ ist gespalten. Das hat weniger mit der Unterstützung der Palästinenser zu tun, die angesichts des Gazakriegs als selbstverständlich gilt. Es geht eher um die Frage, wann die Unterstützung womöglich zu weit geht und wo der Punkt ist, an dem sie in Antisemitismus umschlägt.

Seit dem 7. Oktober haben sich die Unstimmigkeiten über diesen Begriff noch deutlich verstärkt. Das bekommen Menschen, denen der Konflikt emotional stark zusetzt, manchmal auch in ihrem Beruf zu spüren.

In Hollywood sind propalästinensische Schauspieler aus ihren Agenturen geflogen und propalästinensische Agenturen haben ihre Klien­t:in­nen verloren. Beim New Yorker Kulturzentrum 92NY, das sich zum Zionismus bekennt, haben zwei Angestellte gekündigt, nachdem das Direktorium den Leiter des Literaturprogramms gedrängt hatte, eine Lesung des Autors Viet Thanh Nguyen abzusagen. Und zwar weil dieser einen in der London Review of Books veröffentlichten Brief unterzeichnet hatte, in dem Israel die „vorsätzliche Tötung von Zivilisten“ vorgeworfen und ein sofortiger Waffenstillstand gefordert wurde.7

Die heftigsten Kontroversen über die Haltung zu Israel laufen jedoch – nicht erst seit dem 7. Oktober – an den Eliteuniversitäten der USA. Dass der Gazakrieg gerade hier ein so explosives Thema ist, hat vor allem damit zu tun, dass jüdische Studierende an bestimmten Fakultäten überrepräsentiert sind. Aber die Kontroversen gehen bereits auf die 1980er und 1990er Jahre zurück, seitdem wird nämlich an vielen US-Colleges eine neue Version der Geschichte Israels gelehrt, die stark von Edward Saids Kritik des „Orientalismus“8 beeinflusst und dazu angetan ist, Eltern von jüdischen Studierenden bei Gesprächen zu Hause nachhaltig zu schockieren.

Die Eliteunis trugen also entscheidend dazu bei, das gängige Bild von Israel – als David gegen Goliath – vollends zu dekonstruieren, nachdem es bereits zuvor in linksakademischen und progressiven politischen Kreisen eine gründliche Revision erfahren hatte.

Fast alle Highschool-Absolventen aus jüdischen Familien der oberen Mittelschicht gehen anschließend auf eine Universität. Zuvor haben sie normalerweise ihr Wissen über Israel in einer ideologischen Blase vermittelt bekommen. Mit dem Studium sind sie plötzlich in einem anderen Universum: Hier gelten die Israelis als Unterdrücker und die Palästinenser als deren Opfer. Diese Erfahrung einer kognitiven Dissonanz löste häufig Ängste aus.

Von Panik wurden auch ihre Eltern ergriffen, wenn sie merkten, dass sie Hunderttausende Dollar an Studiengebühren dafür ausgeben, dass ihre Kinder Ansichten nach Hause bringen, die sie falsch und persönlich verletzend finden. Diese Wirkung war umso stärker, als gerade bei nichtreligiösen Juden die Unterstützung Israels mittlerweile zum zentralen Element ihrer Identität geworden ist.

Jüdische Organisationen, vorweg die Anti-Defamation League, bemühen sich seit langem, ihr Dogma „Antizionismus gleich Antisemitismus“ auch an den Universitäten durchzusetzen, an denen propalästinensische Stimmen zu Wort kommen. ADF-Präsident Jonathan Greenblatt behauptet sogar, der Begriff „freies Palästina“ sei per se antisemitisch.

Solche Behauptungen finden ein breites Medienecho, speziell bei Fox News und der New York Post (beide im Besitz von Rupert Murdoch); sie werden aber auch von Mainstream-Medien aufgegriffen. Überdies fordern rechte Agitatoren die Sponsoren akademischer Fakultäten auf, über ihr finanzielles Engagement Druck auszuüben, um die Unis auf eine proisraelische Linie zu bringen.

Einer der größten Geldgeber der ADL ist der Milliardär Mark Rowan, CEO des Investment­riesen Apollo Global Management. Rowan ist auch ein Hauptsponsor der Wharton Business School der University of Pennsylvania. Schon vor dem 7. Oktober hatte er eine Kampagne gegen die Universitätspräsidentin Liz Magill gestartet. Die hatte Ende September 2023 ein Literaturfestival mit dem Titel „Palestine Writes“ genehmigt, das der kurz zuvor verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftlerin Salma Kha­dra Jay­yu­si gewidmet war. Ein Vortragender habe dort „ethnische Säuberungen“ und „massive Gewalt“ befürwortet, behauptete Rowan, ohne allerdings Beweise vorzulegen.

Präsidentin Magill wehrte sich mit einer Erklärung, in der sie Antisemitismus „eindeutig und nachdrücklich“ verurteilte, betonte jedoch erneut, die Universität sei für den „freien Austausch von Ideen“ da. Die Kritik aus der Politik und seitens der Uni-Sponsoren hielt jedoch an und gipfelte nach dem 7. Oktober in einem gewaltigen Crescendo: Magill wurde vom Bildungsausschuss des Kongresses vorgeladen, und mit ihr die Präsidentinnen der Harvard University und des MIT, Claudine Gay und Sally Kornbluth.

Am 9. Dezember trat Magill zurück. Zwei Tage zuvor hatte der Fondsmanager Ross Stevens gedroht, seine 100-Millionen-Dollar-Spende für die Universität zurückzuziehen. Nach dem Rückzug von Magill forderte das Repräsentantenhaus die beiden anderen Präsidentinnen ebenfalls zum Rücktritt auf. Die entsprechende Resolution wurde von der republikanischen Mehrheit verabschiedet, die meisten Demokraten stimmten dagegen.

Magills Fakultät war empört, hatte aber der Machtdemonstration der Sponsoren und Politiker nichts entgegenzusetzen. Scharfe Kritik übte die Sektion des Verbands der Hochschullehrenden an der University of Pennsylvania: „Nicht gewählte Milliardäre ohne jede wissenschaftliche Qualifikation wollen jetzt akademische Entscheidungen kontrollieren, die in der Zuständigkeit der Fakultät bleiben müssen, um die Autonomie von Forschung und Lehre gegenüber privaten und parteipolitischen Interessen zu wahren.“

Ähnlich Auseinandersetzungen laufen auch an anderen Eliteunis. In Harvard, dessen Präsidentin Claudine Gay am 2. Januar ebenfalls zurücktreten musste, verbreitete der milliardenschwere Fondsmanager Bill Ackman eine „Do Not Hire“-Liste mit Namen der Mitglieder von 34 Studentengruppen, die einen offenen Brief unterzeichnet hatten, der Israel die „volle Verantwortung“ für das Gewaltgeschehen in Gaza zuschrieb. Ein Berufsverbot forderte auch eine andere Gruppe, die ihre Liste mit den Namen propalästinensischer Aktivisten mit dem Appell verband: „Sorgt dafür, dass die Radikalen von heute nicht die Angestellten von morgen sind.“

Trotz der hitzigen Auseinandersetzungen an vielen Unis der USA gibt es für die These von einer Antisemitismus-Krise auf dem Campus keine seriösen Belege. Es gibt gewiss hässliche Vorfälle, aber das gilt für beide Seiten: Auch muslimische Studenten wurden Opfer von Übergriffen. Besonders alarmierend ist ein Anschlag in Burlington, Vermont, wo drei Studenten palästinensischer Abstammung angeschossen wurden.

An mehreren Universitäten tut die Verwaltung alles, um die Aktivitäten der „Students for Justice in Palestine“ (SJP) zu unterbinden, deren Gruppen regelmäßig Lehrveranstaltungen stören und Lehrpersonal persönlich angreifen. Die SJP bezeichnet die Ereignisse vom 7. Oktober als „historischen Sieg“ und als „gerechtfertigte“ Aktion, mit denen „unser Volk die Revolution verwirklicht“. Einige SJP-Gruppen verteilten sogar Flugblätter mit Fotos von Paraglidern – eine offensichtliche Heroisierung der Hamas-Kämpfer, die am 7. Oktober bei dem israelischen Musikfestivals einen Massenmord begangen haben.

Inzwischen wurde die SJP von der George Washington University, der Brandeis University und der Columbia University ausgeschlossen – Letztere hat auch die Gruppe „Jewish Voice for Peace“ vom Campus verbannt. In Florida beschuldigte der rechte Gouverneur Ron DeSantis die staatlichen Universitäten, sie hätten „materielle Unterstützung“ für „terroristische“ Gruppen geleistet. Diese haarsträubende Behauptung wurde prompt auch von ADF-Präsident Greenblatt aufgegriffen.

Im Kongress in Washington wird hartes Durchgreifen gefordert, und auch das Weiße Haus will dafür sorgen, dass jüdische Studierende auf dem Campus vor „absurden Gefühlen und Aktionen“ geschützt werden, deren Häufigkeit „extrem beunruhigend“ sei.9 All dies sind deutlich Anzeichen für eine Hexenjagd im Stil der McCarthy-Ära.

In den USA wie im Nahen Osten bleibt den Palästinensern offenbar nur noch die politische Rolle des Störenfrieds: Sie weigern sich zu schweigen und wehren sich gegen jeden Plan, von wem auch immer, der ihnen zumutet, ihre fortdauernde Unterdrückung durch Israel klaglos hinzunehmen.

Die Hamas behauptet, mit der Ermordung und Entführung israelischer Zivilisten ähnliche Absichten zu verfolgen. Doch diese Aktion hat es noch unwahrscheinlicher gemacht, dass die Palästinenser ihr Schicksal jemals selbst bestimmen können. Das ist eine Tragödie für alle Beteiligten – vor allem für die Palästinenser selbst.

1 „Jewish American Calls for a Ceasefire Highlight Divisions in the Community“, Time, 17. November 2023.

2 Siehe Dahlia Scheindlin, „Die israelische Linke nach dem 7. Oktober“, LMd, Dezember 2023.

3 „Hundreds of Jewish organization staffers call for White House to back Gaza cease-fire“, NBC News, 7. Dezember 2023.

4 „Poll Finds Wide Disapproval of Biden on Gaza, and Little Room to Shift Gears“, The New York Times, 19. Dezember 2023.

5 „More than one-third of Americans believe Israel is committing genocide, poll shows“, The Guardian, 24. Januar 2023.

6 „Joe Biden’s Alarming Record on Israel“, JewishCurrents, 27. Januar 2020.

7 Alexander Zevin, „Gaza and New York“, New Left Review, November/Dezember 2023.

8 Siehe Adam Shatz, „Orientalismus gestern und heute“, LMd, August 2019.

9 Emma Green, „How a Student Group is Politicising a Generation on Palestine“, The New Yorker, 15. Dezember 2023.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Eric Alterman ist Journalist und Historiker. Zuletzt erschien von ihm: „We Are Not One: A History of America’s Fight Over Israel“, New York (Basic Books) 2022.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2024, von Eric Alterman